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Full text of "Liebesleben im Orient"

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UNIVERSITY  OF  TORONTO 
LIBRARY 

WILLIAM  H.  DONNER 
COLLECTION 

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THE  DONNER  CANADIAN 
FOUNDATION 


Das  Liebesleben  im  Orient 


Das 

Liebesleben  aller  Zeiten 
und  Völker 

Band  IV. 

Das  Liebesleben  im  Orient 

von 

Rudolf  Quanter 


Leipzig 
Georg  H.  Wigand's  Verlag 


Das 


Liebesleben  im  Orient 


von 


Rudolf  Quanter 


Leipzig 
Georg  H.  Wigand's  Verlag 


Alle  Rechte  vom  Verleger  vorbehalten! 


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12. 


Motto. 

Kein  Gott,  als  Gott!    Der  Dichter  sein  Prophet. 
Mein  Koran  ist  das  Buch  der  Weltgeschichte. 
Ich  wende  nur  in  gläubigem  Gebet 
Gen  Sonnenaufgang  hin  mein  Angesichte. 

Karl  Beck. 


Inhaltsverzeichnis. 


Seite 

Das  Wunderland  im  Osten.    Einleitung.    .    .  1 

Abend  und  Morgen 13 

Das  Liebesleben  im  orientalischen  Altertum    .  52 

Die  Vorliebe  für  Nuditäten 103 

Furor  sexualis  im  Kriegsleben 181 

Der  Bilderzauber 209 

Die  Prostitution 279 

Der  Ehebruch 330 

Der  Schleier 348 

Die  Jungfräulichkeit 355 

Freie  Liebe  und  eheloser  Sexualverkehr     .    .  372 

Eheformen 387 

Der  Ehestörer 416 

Schlussbetrachtung 427 


Das  Wunderland  im  Osten. 

Einleitung. 

Das  Morgenland  ist  uns  erst  durch  die  Kreuz- 
züge erschlossen  worden.  Das  Volk  der  Deutschen, 
poesiebegabt  wie  kein  zweites  in  der  Welt,  hatte  in 
seiner  sagenumwobenen  Heimat  auch  durch  die  Ein- 
führung des  Christentums  nicht  das  Verlangen  nach 
dem  Zauberlande,  auf  dessen  Boden  der  Fuß  des 
menschgeborenen  Gottes  gewandelt,  empfunden,  und 
als  wie  ein  wilder  Rausch  der  Gedanke  des  heiligen 
Krieges  die  Völker  Europas  mit  sich  fortriß,  da  waren 
unsre  Vorfahren  durchaus  nicht  die  ersten,  die  von  der 
Sehnsucht  nach  dem  Morgenlande  ergriffen  wurden, 
obwohl  doch  der  Hang  zum  Wandern  und  zu  Aben- 
teuern im  Herzen  des  Deutschen  von  jeher  gelebt 
hat.  Als  aber  den  erstaunten  Blicken  der  Deutschen 
sich  das  farbenprächtige,  wunderbare,  märchenhafte 
Morgenland  mit  seinen  reichen  Schätzen  an  Gold  und 
Heiligtümern  erschlossen  hatte,  da  beherrschte  Jahr- 
hunderte lang  das  Fieber  des  Orients  unser  Volk. 

Es  darf  nicht  verschwiegen  werden,  daß  aus  dem 
Morgenlande  eine  neue  Weltanschauung,  eine  neue 
Kultur   nach    Deutschland   gebracht   wurde,    und    daß 

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die  zauberhafte  Anziehungskraft,  die  das  Morgenland 
ausübte,  eigentlich  niemals  erloschen  ist,  daß  sie  auch 
wohl  stets  ihre  Macht  behalten  wird.  Ich  meine  da- 
mit nicht  etwa  die  Pilgerzüge,  die  ins  heilige  Land 
unternommen  wurden  und  noch  jetzt  unternommen 
werden,  denn  die  religiösen  Motive  sind  ja  halb  oder 
ganz  bewußt  für  viele  Orientreisende  nur  ein  schein- 
barer Grund,  der  Sonne  entgegenzureisen.  Nein,  der 
Orient  an  sich  ist  ein  Zauberland,  der  Orient,  von 
dem  ich  singen  und  sagen  will,  ohne  jede  religiöse 
Beziehung.  Schließlich  ist  es  ja  auch  ein  seelisches 
Heimweh,  unsere  Sehnsucht  nach  dem  Zauberland. 

Im  Orient  soll  die  Wiege  der  Menschheit  ge- 
standen haben;  unser  Stammland  ist  wenigstens  der 
Orient  auf  alle  Fälle.  In  der  Gegend  des  Kaukasus, 
an  den  Gestaden  des  Kaspischen  Meeres  hat  die  kau- 
kasische Rasse  ihre  Kindheit  erlebt  und  sich  von  dort 
in  alle  die  Gebiete  ausgebreitet,  in  denen  der  indo- 
germanische Sprachstamm  herrscht.  Alte  Sagen  be- 
richten, daß  der  Gott  Odhin  (Wuotan)  mit  einem  ge- 
waltigen Heere  vom  Gebirge  abwärts  in  unser  Vater- 
land gezogen  sei,  zunächst  nach  Skandinavien,  und 
von  dort  aus  ist  die  Wanderung  weiter  gegangen. 
Also  auch  der  Gott  Wuotan  stammte  demnach  aus 
dem  Orient,  und  es  ist  beachtenswert,  daß  alle  Reli- 
gionen, die  den  Siegeszug  durch  die  Welt  angetreten 
und  sich  Jahrtausende  lang  mit  ungeschwächter  Kraft 
erhalten  haben,  ohne  jede  Ausnahme  aus  dem  Morgen- 
lande stammen. 

Das  Morgenland  hat  aber  auch  die  älteste  und 
am  meisten  entwickelte  Kultur  aufzuweisen  gehabt. 
Man  denke  an  die  alten  Phönizier,  das  alte  Babylon, 


—     3     — 

das  persische  Weltreich,  die  uralte  hochentwickelte 
Kultur  Chinas.  Das  Morgenland  war  zum  großen 
Teile  bereits  eine  untergegangene  Welt,  als  das  Abend- 
land erst  anfing,  eine  auflebende  Welt  zu  werden. 
Höchstens  Ägypten  kann  noch  in  jene  Altertumsperiode 
eingerechnet  werden.  Und  heute  ist  der  Orient  zu 
einem  großen  Teile  noch  immer  das  zauberhafte 
Märchenland  in  seiner  Farbenpracht,  mit  seinen  Wun- 
dern, die  den  Europäer  ebenso  in  Erstaunen  versetzen, 
wie  sie  ihn  blenden.  Wir  haben  noch  große  Ge- 
biete, die  uns  wenig  bekannt,  desto  mehr  aber  ein 
Rätsel  sind  durch  die  wunderbaren  Gerüchte,  die  auch 
aus  solchen  Gegenden  zu  uns  dringen.  Das  Wunder- 
land Tibet  ist  ja  jetzt  erschlossen,  und  doch  gibt  es 
uns  noch  manches  Wunder  zu  raten.  Auch  das  kleine 
Japan,  das  eine  so  hohe  Kultur  aufzuweisen  hat,  und 
das  doch  dabei  durch  die  wilde,  blutdürstige  und 
raubtierartige  Charaktereigenschaft  seiner  Einwohner 
an  die  Hunnen  erinnert,  gehört  zu  den  Völkern,  die 
stets  für  den  Abendländer,  wenn  er  ganz  objektiv  ur- 
teilt, ebenso  abstoßend  wie  andererseits  anziehend 
erscheinen.  Objektiv  wird  aber  sehr  selten  geurteilt, 
sonst  wäre  die  übertriebene  Schwärmerei  für  Japan, 
die  bei  uns  nach  dem  russischen  Kriege  geradezu 
als  Sport  kultiviert  wurde,  absolut  unmöglich  ge- 
wesen. Keine  Spur  einer  Charakterverwandtschaft 
kann  uns  an  das  japanische  Volk  ketten,  und  schon 
die  einfachste  politische  Klugheit  müßte  es  uns  ge- 
bieten, die  gelbe  Gefahr  nicht  großzuhätscheln,  wie 
man  ja  auch  Kindern  mit  vollstem  Rechte  verbietet, 
mit  dem  zwar  glänzenden  und  leuchtenden,  aber  doch 
sehr  gefährlichen   Feuer  zu   spielen. 


,Wir  werden  noch  vielfach  erkennen,  daß  der 
Orientale,  besonders  der  der  mongolischen  Rasse,, 
niemals  mit  uns  gleich  fühlen,  gleich  empfinden  und 
gleiche  Interessen  haben  kann.  Wie  der  Morgen  vom 
Abend  sich  unterscheidet,  so  wird  der  Morgenländer 
sich  stets  vom  Abendländer  unterscheiden.  Nicht  die 
Fortschritte  oder  Rückschritte  in  der  Kultur  verbrüdern 
die  Völker,  sondern  nur  die  gleichen  Welt-  und  Lebens- 
anschauungen, die  gleichen  Lebensinteressen.  Mit 
keinem  Worte  wird  jetzt  mehr  Unfug  getrieben  als 
mit  dem  Worte  Kultur.  Würde  man  dieses  Wort 
richtig  anwenden  und  richtig  verstehen,  so  würde  man 
sofort  erkennen,  daß  die  Kultur  des  Morgenlandes, 
besonders  die  der  mongolischen  Rassen,  eine  völlig 
andere  ist,  als  die  des  Abendlandes. 

Zum  Teile  ist  der  Orient  auf  derselben  Kultur- 
stufe stehen  geblieben,  auf  der  er  bereits  im  Alter- 
tum stand,  zu  einem  andern  Teile  ist  der  Orient  auch 
weit  herabgestiegen.  Das  merkwürdigste  Beispiel 
bildet  Palästina,  einst  das  gelobte  Land,  in  dem  Milch 
und  Honig  floß.  Ein  Land,  das  zu  den  fruchtbarsten 
und  gesegnetsten  Ländern  der  Erde  gehörte,  das  schon 
vor  Christus  von  einem  Volke  bewohnt  wurde,  das 
sich  selbst  das  auserwählte  nannte  und  auch  nennen 
durfte,  weil  es  die  Nachbarvölker  weit  überragte  und 
eine  Bildungsstufe  und  Macht  besaß,  die  es  zum  herr- 
schenden und  gebietenden  Volke  stempelte.  Und 
heute?  Zerstreut  dieses  mächtige  und  auserwählte 
Volk  in  alle  Winde,  und  wo  einst  üppige  Felder, 
blühende  Gärten  sich  ausdehnten,  da  ist  heutigen 
Tages  eine  steinige,  armselige  Gegend.  Meist  ist  es 
ein  jammervolles,  verkommenes  und  armseliges  Volk, 


das  den  Boden  bewohnt,  der  einst  gepriesen  war.   Auf 
weite  Strecken  bietet  sich  das  Bild  entsetzlichsten  Ver- 
falls  und  völliger  Verwüstung.    Und   es   ist  doch  für 
den  Abendländer  ein  Magnet  dieses  Land,  freilich  in 
der  Hauptsache,  weil  jeder  Fuß  breit  Landes,  auf  dem 
sich  die  biblische  Geschichte  des  Neuen  und  des  Alten 
Testaments  —  letzteres  wenigstens  zum  überwiegenden 
Teile  —   abgespielt  hat,   schon   soviel   religiös-histori- 
sches  Interesse  in   Anspruch  nimmt,  daß   es  auf  den 
Reiz  der  Gegend  an  sich  selbst  gar  nicht  mehr  an- 
kommen würde.    Noch  viel  weniger,  als  es  bei  einer 
Reliquie   darauf   ankommt,   ob   sie   als   bloße   Materie 
.Wert  hat   oder  schön   aussieht.    Im   Morgenlande   ist 
das   aber  noch   anders.    Schon   das   Fremdartige,   das 
man  auf  Schritt  und  Tritt  beobachtet,   übt  einen  ge- 
waltigen   Zauber,    besonders    wenn    man    nach    etwas 
bewegter   Fahrt   auf   dem   Mittelmeer   die   dann   sehr 
schwierige  Landung  glücklich  überstanden  hat.  Stellen- 
weise bietet  auch  das  Land  wahrhaft  herrliche  Reize, 
pittoreske  Partien  und  imposante  Wasserlandschaften, 
selbst   der   Jordan   sieht   ganz   anders    aus,    als    wenn 
er    irgend    einen    unbekannten    Namen    trüge.     Land 
und   Leute   fesseln   gerade   durch   ihren   Kontrast   von 
dem  im  Abendlande  Gewohnten.  Und  stellenweise  liegt 
auf  der  Gegend  eine  so  tiefe  zum   Himmel  klagende 
Melancholie,   daß   sie   poetisch   auf   das   Gemüt   wirkt 
wie  eine  Totenklage.    Schon   unsere  Ostsee  hat   Par- 
tien,   die    mit    einem    so    schwermütigen,    poetischen 
Hauch    Übergossen    erscheinen,    daß    ein    Gemüt,    das 
nicht   völlig   unempfindlich   gegen   diesen   Zauber   ist, 
sich  nur  schwer  von  dem  stimmungsvollen  Bild  loszu- 
reißen vermag.    Wer  am  Gestade  des  Toten  Meeres 


—     6     — 

eine  Gegend  voll  landschaftlichen  Reizes  sucht,  der 
wird  sich  freilich  mit  Entsetzen  abwenden.  Wer  aber 
das  Tote  Meer  sehen  will,  diese  wirkliche  Negation 
allen  Lebens,  wer  seine  Seele  auf  diesen  Ton  zu 
stimmen  vermag,  der  wird  auch  dort  einen  Zauber 
finden,  der  von  der  gewaltigsten  Wirkung  ist.  Wir 
Menschen  haben  ja  nun  einmal  den  Fehler,  daß  wir 
unser  kleines  Ich  in  den  Mittelpunkt  der  unendlichen 
Welt  stellen  und  alles  nur  als  einen  Rahmen  um 
unser  eigenes  Bild  betrachten.  Dabei  ist  dann  frei- 
lich das  Tote  Meer  kein  Milieu.  Wer  es  genießen, 
im  wahrsten  Sinne  des  Wortes,  genießen  will,  der  muß 
aus  seinem  Alltagsleben,  wenn  ich  im  Bilde  bleiben 
will,  aus  sich  selbst  heraustreten  und  sich  gewisser- 
maßen selbst  an  der  Stätte  des  Todes  sitzen  sehen. 
Wir  finden  die  lachenden,  sonnigen,  blumenprächtigen 
Landschaftsbilder  des  Orients  anziehend,  und  doch 
verlieren  sie  schnell,  wenn  sich  das  Auge  erst  an  das 
Ungewohnte  gewöhnt  hat.  Der  Majestät  des  Todes 
aber  kann  sich  kein  Sterblicher  entziehen.  Es  ist  auch 
hier  wieder  das  Symbol  der  biblischen  Überlieferung 
gewahrt,  die  uns  das  Heil  aus  dem  Morgenlande  kom- 
men ließ.  Die  sonnigen  Landschaften  stellen  die 
Gnadensonne  des  Heils  dar;  aber  das  Milieu  des  Toten 
Meeres,  das  ist  Golgatha,  der  düstere  Tod,  das  ewige 
Schweigen.  Ein  Ort,  dem  sich  kaum  etwas  Gleiches 
an  die  Seite  stellen  läßt,  und  der  gerade  dort  so  außer- 
ordentlich wirkt,  weil  gewissermaßen  der  Tod  mitten 
in  das  Leben  gestellt  ist. 

Ich  habe  mich  bei  dieser  Schilderung  gerade  des- 
halb etwas  länger  aufgehalten,  weil  sie  geradezu  ein 
Leitmotiv  für  das  morgenländische  Leben  ist,  das  uns 


durch  seine  scharfen  Kontraste  oft  unverständlich  und 
unfaßbar  wird.  Neben  ausschweifender  Sinnlichkeit  und 
Verweichlichung  finden  wir  den  Fatalismus,  der  gerade- 
zu zum  Heroismus  gesteigert  wird.  Wir  finden  im 
Orientalen  so  viele  Charaktergegensätze,  daß  man  oft 
glauben  sollte,  der  einzelne  Mann  verkörpere  zwei 
oder  noch  mehr  Personen.  Das  ist  das  Land,  in  dem 
die  Märchen  erzählt  werden  konnten,  die  wir  —  pars 
pro  toto  —  einfach  „1001  Nacht"  nennen.  Blumen- 
reich wie  diese  Märchen  ist  auch  die  Sprache  des 
Orientalen.  Ich  habe  oben  gesagt,  das  deutsche  Volk 
sei  poesiebegabt  wie  kein  zweites  auf  Erden;  ist  das 
nicht  falsch,  wenn  man  bedenkt,  daß  im  Morgenland 
schon  die  alltägliche  Sprache  Poesie  ist?  Wenn  man 
bedenkt,  daß  einer  unserer  Größesten  gesagt  hat,  wer 
die  Dichtkunst  recht  verstehen  wolle,  der  müsse  ins 
Morgenland  gehen?  Dennoch  ist  es  richtig:  kein  Volk 
der  Welt  hat  etwas  Größeres  aufzuweisen  als  unser 
Niebelungenlied,  als  unser  Gudrunlied,  und  alle  die 
Heldengesänge,  die  Volkspoesie  waren  und  als  Ge- 
meingut aller  sich  von  Mund  zu  Mund  forterbten. 
Kein  Volk  der  Welt  hat  zwei  klassische  Perioden  auf- 
zuweisen, wie  nur  allein  das  deutsche  Volk.  Dem 
Nibelungenlied  kann  höchstens  die  Homersche  Ilias 
der  Griechen  als  gleichwertig  an  die  Seite  gestellt 
werden;  aber  die  griechische  Dichtkunst  hat  sich  nicht 
zu  einer  neuen  klassischen  Periode  aufgeschwungen, 
sie  ist  nach  ihrer  Glanzzeit  des  Altertums  dahin- 
gestorben und  hat  keine  Auferstehung  erlebt.  Die 
altpersische  Poesie  hat  das  Schahname  geschaffen, 
dessen  Held  Rüstern  wohl  stark  an  unsern  Siegfried 
erinnert;  aber  man  vergesse  doch  nicht,  daß  der  indo- 


germanische  Volksstamm  eine  gemeinsame  Herkunft 
hat,  daß  gerade  diese  Anklänge  dem  Sprachforscher  zu 
denken  geben;  und  doch  ein  poetisches  Schaffen  wie 
das  des  deutschen  Volkes  hat  auch  Persien  nicht  aufzu- 
weisen. Wohl  ist  die  Sprache  des  Morgenländers  bilder- 
reich und  voll  poetischen  Zaubers;  sie  hat  sich  aber  nicht 
zu  dem  gewaltigen,  erhabenen  poetischen  Schaffen  auf- 
zuraffen vermocht  wie  die  deutsche,  die  ja  in  ihren 
alten  Formen  nicht  minder  bilderreich  und  wohllautend 
war  als  die  des  Orients,  und  die  heute  durch  ihre 
Verfeinerung  und,  ich  möchte  sagen,  durch  die  Auf- 
nahme fremden  Geistes,  poetisch  viel  eingebüßt  hat. 
Der  heutige  Orientale  hat  ebenfalls  stark  verloren.  Da, 
wo  er  den  Einflüssen  fremder  Kultur  oder  gar  Über- 
kultur sich  fernzuhalten  vermocht  hat,  ist  natürlich 
auch  seine  Redeweise  freier  und  bilderreicher  ge- 
blieben; sonst  aber  hat  er  sich  doch  viel  mehr  der 
blumenreichen  Phrase  als  der  bilderreichen  Poesie  zu- 
gewendet. So  ist  die  morgenländische  Poesie  mehr 
Lyrik,  mehr  phantastisches  Zaubermärchen  und  doch 
auch  wieder  tiefsinnige  Lebensweisheit.  Ich  werde  die 
Charakterverschiedenheit  zwischen  uns  und  den  Orient- 
talen  noch  oft  zu  betonen  haben  und  kann  mich  hier 
auf   diese   kurze    Andeutung   beschränken. 

Wenn  ich  das  Morgenland  ein  Wunderland  nenne, 
so  tue  ich  dies  nicht  etwa  deshalb,  weil  es  so  viel 
des  Fremden  und  uns  Wunderbaren  enthält,  denn 
dann  würde  ja  bis  zu  einenr  gewissen  Grade  jedes 
fremde  Land  ein  Wunderland  sein.  Nein,  der  Orient 
ist  Wunderland,  weil  er  für  uns  eine  ganz  andere 
Welt  ist,  die  wir  auch  dann  nicht  voll  verstehen, 
wenn  wir  sie  so  weit  kennen  gelernt  haben,  daß  sie 


uns  eigentlich  vertraut  sein  müßte.  Wer  hätte  noch 
nicht  über  die  Fakire  mit  ihren  eigenartigen  Künsten, 
die  uns  wirkliche  Zauberei  dünken,  gestaunt?  Wer 
hätte  noch  nicht  die  wilde,  fanatische  Ekstase  der 
Derwische  bewundert?  Und  das  sind  doch  nur  erst 
zwei  Erscheinungen  aus  einer  großen  Anzahl  ganz 
ähnlicher. 

Man  darf  den  wirklichen  Fakir  nur  nicht  mit 
den  Gauklern,  die  hin  und  wieder  bis  zu  uns  vor- 
dringen und  sich  bei  uns  produzieren,  verwechseln. 
Das,  was  diese  Fakire  in  ihrer  Heimat  verrichten,  das 
ist  zum  großen  Teil  so  unfaßbar,  so  überwältigend, 
daß  man  faktisch  vor  einem  Wunder  steht,  für  das 
der  Verstand  des  Verständigen  keine  Erklärung  mehr 
zu  finden  vermag.  Fast  scheint  es,  als  könnten  diese 
Wundermänner  über  Tod  und  Leben  gebieten, 
denn  alles,  was  nach  menschlicher  Berechnung  den 
sichern  Tod  nach  sich  ziehen  würde,  das  tun  sie  sich 
selbst  an,  ohne  daß  auch  nur  ein  Schmerzempfinden 
ausgelöst  würde.  Sie  durchbohren  ihre  Körper,  ohne 
daß  auch  nur  ein  Tropfen  Blutes  verloren  würde, 
ohne  daß  eine  Wunde,  oder  auch  nur  die  geringste 
Spur  zurückbliebe.  Man  muß  schon  einen  hohen  Grad 
von  Gefühllosigkeit  erreicht  haben,  um  diese  „Spiele" 
überhaupt  mit  ansehen  zu  können.  Haben  sich  doch 
Fakire  schon  auf  längere  Zeit  wirklich  begraben  lassen, 
und  als  man  das  Grab  öffnete,  da  lebte  der  Mann, 
als  habe  er  nur  ein  gemütliches  Schläfchen  in  seinem 
Bette  gehalten.  Fakire  sind  Asketen.  Auch  die  Der- 
wische sind  nach  unseren  Begriffen  sonderbare  Leute, 
die  in  ihrem  religiösen  Fanatismus  Tänze  aufführen, 
die   für   andere   Leute   Selbstmord   sein    würden,    den 


—     10     — 

Derwischen  aber  recht  gut  bekommen  und  ihnen  den 
Ruf  besonderer  Heiligkeit  einbringen. 

Die  Wunder  und  die  Pracht  Indiens,  besonders 
indischer  Fürsten,  sind  zur  Wirklichkeit  gewordenes 
Märchen. 

Es  ist  wirklich  nicht  so  seltsam,  wenn  in 
früheren  Jahrhunderten,  in  denen  große  Reisen  noch 
zu  den  Seltenheiten  gehörten,  in  denen  deshalb  die 
Völker  noch  so  ähnlich  lebten,  als  seien  sie  mit  der 
berühmten  „Chinesischen  Mauer'*  umgeben,  die  Rei- 
senden Berichte  über  das  Wunderland  im  Osten 
schrieben,  die  an  „1001  Nacht"  erinnern.  Damals 
glaubte  man  ja  auch  noch  alles,  was  gedruckt  wurde, 
man  war  unwissender  und  infolgedessen  bodenlos 
naiv.  Glückliches  Zeitalter  für  die  Schriftsteller!  Ich 
werde  im  Verlaufe  dieses  Buches  noch  manchen  der 
alten  Schriftsteller  und  Reiseberichte  zitieren,  wenig- 
stens soweit  sie  uns  von  Sitten  und  Liebesbräuchen 
des  östlichen  Zauberlandes  Mitteilungen  machen ;  ich 
kann  mich  freilich  nicht  so  sicher  darauf  verlassen, 
daß  meine  geehrten  Leserinnen  und  Leser  diese  Be- 
richte aus  längst  entschwundenen  Zeiten  noch  mit 
derselben  naiven  Leichtgläubigkeit  aufnehmen  werden, 
wie  zu  jenen  Zeiten,  in  denen  derartige  Reiseberichte 
von  den  Leuten,  die  des  Lesens  kundig  waren,  ver- 
schlungen wurden.  Wenn  seitdem  Reise-Erzählungen 
stark  in  Mißkredit  geraten  sind,  so  liegt  dies  daran, 
daß  in  der  Tat  die  Leichtgläubigkeit  in  geradezu  un- 
verschämter Weise  mißbraucht  wurde,  oder,  was  mir 
auch  nicht  ganz  unwahrscheinlich  ist,  daß  den  Reisen- 
den zuweilen  selbst  gar  zu  viel  Hokuspokus  vorge- 
macht wurde. 


—    11    — 

Man  darf  sich  nun  freilich  die  Völker  des  Morgen- 
landes nicht  als  eine  homogene  Masse  vorstellen,  und 
darf  weiter  nicht  übersehen,  daß  der  Orient  seine 
Geschichte  hat,  die  bewegter  als  die  des  Abendlandes 
ist,  und  die  Jahrtausende  weiter  zurückreicht.  Der 
Orient  hat  Weltreiche  erstehen  und  vergehen  sehen, 
hat  die  furchtbarsten  Kriege  den  Boden  mit  Blut  trän- 
ken lassen,  hat  seine  Völkerwanderungen  durchgemacht 
wie  das  Abendland  und  hat  unter  der  „gelben  Gefahr" 
mehr  als  einmal  geseufzt  und  geschmachtet.  Mit 
Staunen  haben  wir  die  Entdeckung  gemacht,  daß  das 
alte  Babylon  schon  in  grauester  Vorzeit,  bis  in  die  die 
Geschichte  des  Abendlandes  überhaupt  nicht  zurück- 
reicht, eine  Kultur  besessen  hat,  die  vielfach  an  unsere 
heutige  erinnert.  Ich  meine  damit  allerdings  nicht  die 
Professor  Delitzschen  Entdeckungen,  sondern  die  ein- 
wandfreien Forschungen.  Und  das  Babylonische  Reich 
ist  versunken,  wie  die  Asyrische,  Phönizische  und  Per- 
sische Macht.  Welche  gewaltige  Stadt  war  das  alte 
Samarkant,  ebenso  das  alte  Ninive.  Und  was  ist  ge- 
blieben? 

Die  Völker  des  Morgenlandes  sind  so  gewaltig 
von  einander  verschieden,  daß  Wasser  und  Feuer  sich 
nicht  weniger  gleichen.  Ich  werde  dies  noch  bei  den 
einzelnen  Kapiteln,  so  weit  es  notwendig  ist,  zu  be- 
rücksichtigen haben.  Ebenso  werde  ich  die  Geschichte 
der  einzelnen  Völker,  soweit  mein  Thema  dies  er- 
forderlich macht,  zu  skizzieren  haben.  Die  europäische 
Türkei  wird,  da  sie  uns  unverfälschtes  orientalisches 
Liebesleben  zeigt,  für  mich  zum  Morgenland  gehören 
müssen,  während  einzelne  Völker  und  Stämme,  die  im 
Morgenlande  wohnen,  für  unsere  Betrachtungen  völlig 


—     12     - 

ausscheiden  können,  weil  sie  für  das,  was  wir  ver- 
nunftgemäß das  Liebesleben  des  Orients  nennen  dürfen, 
ohne  jede  Bedeutung  sind.  Ich  werde  nun  zum  besseren 
Verständnis  des  Ganzen,  zunächst  auf  die  Verschie- 
denheit des  Denkens,  Anschauens  und  Empfindens  der 
Deutschen  und  der  Orientalen  hinweisen.  Was  ich 
dabei  unter  Orientalen  verstehe,  wird  sich  aus  den 
weiteren   Kapiteln  klar  ergeben. 


Abend  und  Morgen. 


So  grundverschieden  die  einzelnen  Völker  des 
Orients  in  ihrem  Charakter  sind,  so  verschieden  das 
deutsche  Volk  von  seinen  Nachbarvölkern  ist,  so  un- 
berechtigt würde  es  sein,  scharfe  Gegensätze  zwischen 
Abendländern  und  Morgenländern  in  der  großen  All- 
gemeinheit dieser  Begriffe  aufzustellen.  Ich  will  also 
zunächst  den  Unterschied  zwischen  uns  Deutschen 
und  dem  orientalischen  Muselmann  im  engeren  Sinne 
beleuchten. 

Es  mag  hier  nochmals  betont  werden,  daß  so- 
wohl unsere  Vorfahren  wie  auch  die  Ureinwohner  des 
Orients  vom  Kaukasus  ausgewandert  sind.  Man  dürfte 
hiernach  annehmen,  daß  eine  erkennbare  Stammes- 
verwandtschaft vorhanden  sein  müsse.  Demgegen- 
über ist  aber  zu  berücksichtigen,  daß  der  orientalische 
Muselmann  der  Hauptzahl  nach  semitischer  Rasse  ist, 
während  wir  Deutsche  arischen  Stammes  sind,  daß 
wir  also  mit  den  Persern  und  Indern  viel  eher  gleiches 
Blut  haben  könnten,  als  mit  den  semitischen  Stämmen, 
die  durch  die  Bewegung  der  Bevölkerung  sich  mehr 
und  mehr  ausgebreitet  haben.  Selbst  die  gemeinsame 
Herkunft  würde  aber  auch  völlig  außer  Acht  bleiben 


—     14     — 

dürfen,  weil  unter  ganz  verschiedenen  Lebensbedin- 
gungen, unter  großen  klimatischen  Unterschieden  sich 
auch  grundverschiedene  Charaktere  und  Lebensauf- 
fassungen herausbilden.  Ganz  besonders  gilt  dies  auch 
in   bezug  auf  das  Liebesleben. 

Es  zeigt  sich  dieser  Unterschied  schon  in  der 
alten  deutschen  Literatur.  In  unseren  alten  Helden- 
liedern, so  im  „König  Rother",  besonders  im  „Ortnit" 
erkämpfen  deutsche  resp.  lombardische  Helden  sich 
morgenländische  Frauen.  Im  Ortnit  läßt  sich  die  Jung- 
frau als  Christin  taufen  und  erhält  den  Namen  Sidral. 
Es  wird  aber  gerade  dabei  die  orientalische  Charakter- 
art der  Braut  besonders  herausgehoben  und  gesagt, 
daß  sie  erst  einen  regelrechten  Unterricht  in  deutscher 
Tugend,  besonders  in  der  Freigiebigkeit,  habe  erhalten 
müssen. 

Ich  habe  schon  im  vorigen  Kapitel  kurz  darauf 
hingewiesen,  daß  die  Poesie  unseres  Volkes  und  der 
Orientalen  der  Art  nach  verschieden  war  und  noch 
ist.  Vilmar  sagt  über  die  alte  deutsche  Dichtung  u.  a. : 
„Und  dieser  Grundton,  zu  singen  Leid  aus  Freude, 
ist  der  Grundton  des  germanischen  Lebens,  ist  die 
reine  Stimmung  des  deutschen  Herzens,  durch  wel- 
ches, wie  kaum  durch  das  Herz  irgend  eines  anderen 
Volkes,  das  Bewußtsein  der  Vergänglichkeit,  das  leise 
Beben  der  Todesahnung  hindurchzittert.  Und  wie 
könnte  dies  anders  sein  bei  einem  Volke,  welches  mit 
der  Natur  und  ihrem  Leben  auf  das  innigste  und  ge- 
heimste verwachsen  ist?  Die  Stimme  der  Natur  aber, 
die  aus  den  sprossenden  Keimen  und  heiteren  Blumen 
des   Frühlings,  wie  aus   den   welkenden   Halmen   und 


—     15     — 

fallenden  Blättern  des  Herbstes,  die  aus  dem  kom- 
menden Tage  wie  aus  dem  scheidenden  zu  uns  redet, 
ist  die  Stimme  der  Vergänglichkeit  und  des  Todes 
für  den,  die  den  innersten  Sinn  der  Natur  begriffen 
hat,  wie  diesem  Bewußtsein  der  größte  der  neueren 
Dichter,  Rückert,  in  seinem  Gedichte  von  der  sterben- 
den Blume  Worte  ergreifender  Wahrheit  geliehen  hat. 
Ja  in  den  ältesten  Zeiten  war  das  Naturgefühl  des 
deutschen  Volkes  ein  Gefühl  des  Grauens  vor  der 
Natur  und  deren  erbarmungsloser  Zerstörung,  seine 
Naturpoesie  eine  Poesie  des  glühenden  Naturge- 
nusses auf  der  einen,  der  tiefsten  Naturschrecken  auf 
der  andern  Seite,  in  starrer,  furchtbarer  Erhaben- 
heit ....  Unsere  Naturpoesie  ist  eine  Poesie  des 
Todes. " 

Wie  anders  die  orientalische  Poesie,  die  eine  Poesie 
des  leichten,  sorglosen  Lebensgenusses,  der  girrenden 
Liebeslust  oder  —  der  blutigen  Grausamkeit  ist.  Das 
Leben  in  der  Natur  ist  den  Orientalen  nicht  in  dem 
Maße  eigen  wie  den  deutschen  Stämmen,  und  die 
orientalischen  Stämme,  die  mit  der  Natur  eng  ver- 
traut sind,  denen  erzählt  die  Natur  andere  Weisen  als 
in  unserem  strengeren  Klima,  das  allerdings  viel  eher 
das  Werden  und  Vergehen  aneinanderkettet.  Auf  den 
Zug  blutiger  Grausamkeit,  der  auf  das  Liebesleben 
nicht  ohne  erheblichen  Einfluß  bleiben  konnte,  gehe 
ich  sofort  noch  ausführlich  ein.  Ich  will  zunächst  nur 
noch  auf  das,  was  im  poetischen  Empfinden  die  so  ver- 
schiedenen Volkscharaktere  eint,  hinweisen.  Ich  meine 
jenen  phantastischen  Zug,  der  es  in  älteren  Dichtungen 
liebte,  die  Welt  mit  furchtbaren  Ungetümen  und  Un- 
geheuern,   flammenspeienden    Drachen    usw.    sich   be- 


—     16     — 

völkert  zu   denken,   gegen   die   kühne   Helden   in   Not 
und    Drang   kämpften. 

Dinge,  die  in  allen  alten  Sagen  fast  aller  Völker 
so  regelmäßig  wiederkehren  wie  gerade  diese  Drachen 
und  sonstigen  Ungeheuer,  sind  niemals  frei  erfundene 
Vorstellungen,  sondern  gründen  sich  auf  altüberlieferte 
Erinnerungen.  Wir  haben  ja  jetzt  festgestellt,  daß 
das  „vorweltliche"  Mammut  durchaus  nicht  vorwelt- 
lich ist,  daß  es  vielmehr  noch  in  einer  Periode  vor- 
gekommen sein  muß,  in  der  bereits  Menschen  lebten, 
die  doch  immerhin  eine  so  hohe  Entwicklungsstufe 
bereits  erreicht  hatten,  daß  sie  bildliche  Darstellungen 
dieses  Riesentieres  geben  konnten,  die  jedenfalls  auch 
den  Kampf  gegen  diese  Ungeheuer  aufgenommen 
haben.  Liegt  da  nicht  die  Vermutung  nahe,  daß  auch 
andere  „Vorwelttiere"  noch  menschliche  Pfade  ge- 
kreuzt haben  können?  Gerade  der  Drache  läßt  auf 
irgend  eine  Saurierart  schließen,  ebenso  der  Lindwurm, 
gegen  den  die  Recken  der  Heldensage  angekämpft, 
den  sie  im  heißen  Kampfe  bezwungen  haben.  Es 
scheint  doch  mindestens  wahrscheinlich,  daß  in  der 
Urheimat  am  Kaukasus  am  Gestade  des  Kaspischen 
Meeres,  eine  Gegend,  die  ja  solchen  Ungeheuern  alle 
Lebensbedingungen  erfüllt  haben  würde,  die  Menschen 
noch  auf  diese  alten  Zeugen  einer  früheren  Welt  ge- 
stoßen sein  mögen,  und  daß  die  Überlieferung  die  Er- 
innerung an  solche  Zusammenstöße  wach  gehalten  hat. 
Daß  diese  fürchterlichen  Geschöpfe  in  der  lebendigen 
Phantasie  noch  mit  weiteren  Schrecken  ausgestattet 
wurden,  ist  dabei  selbstverständlich.  So  das  Feuer- 
speien. Gerade  mit  dem  Feueratem  hat  doch  die 
Poesie  auch  die  durchaus  historische  Person  des  deut- 


—     17     — 

sehen  Helden  Dietrich  von  Bern  ausgestattet.  Daß 
die  Sage  dann  jene  Ungeheuer  in  die  neue  Heimat 
versetzte,    ist   auch    nicht   auffallend. 

So  finden  wir  die  Drachensage  im  Orient  so  gut 
wie  in  Deutschland,  und  die  Vorstellung  dieser  Un- 
getüme weicht  bei  den  sonst  so  verschieden  em- 
pfindenden Völkern  so  wenig  von  einander  ab,  daß 
man  nur  annehmen  kann,  bei  den  Sagen  müsse  das- 
selbe Modell  zu  Grunde  liegen.  Wir  finden  gerade 
im  Orient  noch  jetzt  zahlreiche  bildliche  Darstellungen, 
in  denen  die  Drachenfigur  verherrlicht  wird.  Schon 
die  chinesischen  Banner,  die  den  fliegenden  Drachen 
enthalten,  gehören  hierher.  Daß  bei  diesem  heral- 
dischen Bilde  die  ursprüngliche  Form  der  Darstellung 
nicht  strenge  innegehalten  worden  ist,  tut  nichts  zur 
Sache;  wir  finden  ja  auch  bei  uns  heraldische  Löwen 
usw.,  die  den  Zoologen  gewiß  weniger  befriedigen 
als  den  Heraldiker.  Wir  finden  andrerseits  auch 
Götzenbilder,  die  alles  andere  eher  sind  als  Schön- 
heitsideale menschlicher  Körper,  die  aber  doch  zweifel- 
los nach  dem  menschlichen  Bilde  modelliert  sind.  Ich 
möchte  daran  erinnern,  daß  auch  die  Bibel  den  Drachen 
genau  so  erwähnt  wie  dies  die  altbabylonische  Mythe 
in  .Wort  und  Bild  tut. 

Bei  uns  im  Abendland  hat  natürlich  die  Einführung 
des  Christentums  dem  Kult  —  wenn  man  so  sagen 
darf  —  der  Drachen  ein  energisches  Veto  entgegen- 
geschleudert, nicht  aber  die  Drachensage  beseitigt, 
im  Gegenteil,  sie  ist  sogar  in  den  Heiligenkult  mit 
hinübergenommen  worden.  Der  heilige  Georg  als 
Drachentöter  wird  auch  heute  noch  verehrt,  und  wir 
finden  ihn  nicht  bloß  in   Bildern   dargestellt,  sondern 

2 


—     18     — 

können  auch  seine  plastische  Figur,  die  ihn  im  Kampfe 
mit  dem  Drachen  zeigt,  an  verschiedenen  Orten  be- 
wundern. Wieviel  von  der  Drachensage  auf  den 
Teufelglauben  übergegangen  ist,  das  würde  interessant 
sein,  nachzuprüfen,  wenn  es  nicht  meinem  Thema  zu 
fern  läge.  Hier  genügt  es,  die  Übereinstimmung  in 
der   Drachensage   dargetan   zu   haben. 

Der  Orientale,  soweit  er  nicht  ein  Nomadenleben 
führt,  sondern  ansässig  ist,  gilt  für  uns  als  ein  wol- 
lüstiger, verweichlichter  Mensch,  der  nur  im  Sinnen- 
genuß schwelgt,  der  sich  sogar  die  himmlische  Selig- 
keit als  die  höchste  Potenz  des  ewigen  Liebes- 
genusses vorstellt,  für  den  das  Weib  nichts  ist  und 
sein  kann  als  das  Spielzeug  seiner  Lüste.  Der  Orien- 
tale, der  einen  wohlbesetzten  Harem  hält,  ist  schon 
dadurch  allerdings  zu  einem  intensiveren  Liebesleben 
berechtigt  und  veranlaßt  als  der  Abendländer,  für  den 
es  nur  die.  Einzelehe  gibt.  Es  ist  dabei  aber  doch 
verschiedenes  sehr  stark  zu  berücksichtigen.  Vor 
allen  Dingen  kommt  es  immer  darauf  an,  was  man 
unter  einem  Liebesleben  verstehen  soll.  Es  ist  nie- 
mals gesagt,  daß  die  Liebe  das  Denken  und  Fühlen 
eines  Mannes,  der  einen  Harem  hält,  mehr  ausfüllen 
müsse  als  das  des  in  Einzelehe  lebenden  Abendländers. 
Das  Liebesleben  ist  an  sich  nicht  an  die  Ehe  gebunden; 
es  kann  sehr  wohl  ein  Mensch,  der  überhaupt  nicht 
verheiratet  ist,  ein  außerordentlich  bewegtes  Liebes- 
leben führen,  und  es  kann  ein  Mann,  der  den  glän- 
zendsten Harem  besitzt,  doch  liebearm  durch  die  Welt 
gehen.  Das  Liebesleben  eines  Menschen,  der  all 
sein  Fühlen  und  Denken,  sein  ganzes  Herz  nur 
auf    eine    Person    richtet,    wird    stets    das    intensivste 


—     19     — 

sein;  ein  Haremsbesitzer,  der  wie  der  Schmetterling 
von  Blume  zu  Blume  nascht,  wird  schon  deshalb  sehr 
oft  von  einem  Liebesleben  kaum  noch  reden  können, 
weil  er  sehr  bald  der  Übersättigung  verfällt,  und 
es  im  Liebesleben  ebenso  geht  wie  bei  anderen  Ge- 
nüssen: das,  was  im  Übermaß  gekostet  ist  und  stets 
zur  Verfügung  steht,  verliert  gar  bald  seinen  Reiz. 
Ich  habe  hier  nur  ganz  allgemein  von  Möglichkeiten 
gesprochen,  die  ich  keineswegs  als  feststehende  Tat- 
sachen betrachten  will,  und  die  auch,  wie  wir  weiter 
sehen  werden,  auf  die  Veranlagung  sehr  vieler  Orien- 
talen nicht  zutreffen.  Vor  allen  Dingen  sind  nicht 
alle  Orientalen  Harembesitzer,  sondern  nur  einige, 
dann  darf  man  aber  den  Orientalen  nicht  mit  einem 
philiströsen  Moralfex  des  Abendlandes  vergleichen 
wollen.  Wir  werden  weiter  sehen,  daß  der  Harem 
in  Wirklichkeit  auch  durchaus  etwas  anderes  ist,  als 
der  Nichteingeweihte  zu  glauben  geneigt  ist.  Und 
schließlich  wollen  wir  nicht  übersehen,  daß  auch  der 
in  Einzelehe  lebende  Abendländer  in  der  Regel  stark 
zu  Extravaganzen  neigt,  die  er  mit  seinen  polygamen 
Trieben  zu  entschuldigen  sucht,  ohne  daß  die  Befriedi- 
gung dieser  polygamen  Triebe  ihn  übersättigt  und 
für  weitere  Abenteuer  untauglich  macht.  Daß  er  da- 
bei etwa  deshalb  nicht  so  leicht  übersättigt  würde, 
weil  er  sich  die  Gelegenheit  stets  erst  suchen  muß 
und  sie  nicht  zu  jeder  beliebigen  Minute  zu  'Gebote 
hat,  das  ist  ein  Grund,  der  nur  scheinbar  seine  Be- 
rechtigung hat. 

Auch  hierüber  gibt  die  Literatur,  soweit  sie  noch 
Volksempfinden  war,  also  aus  dem  Volke  selbst  her- 
vorging oder  beim  Volke  solchen  Anklang  fand,  daß 


Z.\> 


sie  sich,  ungeschrieben  zwar,  aber  durch  Übertragung 
von  Mund  zu  Mund  als  unantastbares  Eigentum  fort- 
erhielt, beredten  Ausdruck.  Nicht  wie  die  spätere 
Kunstdichtung,  die  fremde  Stoffe  in  fremder  Form  be- 
handelte und  vom  16.  Jahrhundert  ab  bis  ins  18.  Jahr- 
hundert bei  uns  nur  in  der  Form  ohne  Inhalt  das 
Heil  suchte,  im  Morgenlande  aber  bis  auf  einige  Ge- 
biete völlig  versagte.  Erec,  der  vielberühmte  Ritter 
von  der  Tafelrunde,  heiratet  die  schöne  Enite,  und 
die  Liebe  füllt  das  Leben  des  sonst  so  kühnen  Ritters 
derartig  aus,  daß  er  über  die  Minne  Pflicht  und  Ehre 
vergißt,  er  „verliegt"  sich.  Dagegen  die  altorien- 
talische Geschichte  der  schönen  Stratonike,  die  eine  so 
süß  duftende  Poesie  reiner,  keuscher  und  treuer  Liebe 
zeigt,  daß  sie  an  das  Heinesche  Lied  vom  Asra  er- 
innert. Und  doch,  welch  enormer  Unterschied  zwi- 
schen dieser  orientalischen  Geschichte,  in  der  der 
Sohn  die  junge  Gattin  seines  Vaters  liebt,  gegen  die 
deutsche  Dichtung,  ich  meine  hier  eben  die  deutsche 
Bearbeitung  deutscher  Stoffe,  denn  Schiller  hat  uns 
ja  im  Don  Carlos  ein  ähnliches  Thema  deutsch  be- 
arbeitet, wie  die  orientalische  Geschichte  der  Stratonike 
es  ist,  freilich  mit  einem  völlig  anderen  Schluß.  Ich 
komme  auf  die  Stratonike  noch  ausführlich  zurück, 
weil  sie  mir  einen  außerordentlich  wichtigen  Beitrag 
zum  alten  orientalischen  Liebesleben  darstellt.  Sie 
enthält  nichts  Heldenhaftes,  nichts  von  dem  Herois- 
mus, mit  denen  Liebende  einer  Welt  Trotz  bieten, 
um  den  Gegenstand  der  Liebe  zu  erringen,  sondern 
eine  weichliche  Sentimentalität,  ein  tatenloses  Hin- 
siechen, das  allerdings  wohl  dadurch  entschuldigt 
werden   kann,   daß   hier  der  Liebende  für  die  Gattin 


—     21     — 

seines  Vaters  entbrannt  ist.  Es  kommt  darauf  aber 
nicht  an;  wichtig  ist  diese  uralte  Geschichte  des- 
halb, weil  sie  in  träumerischer  Zartheit  eine  Liebe 
schildert,  die  an  sich  für  deutsches  Gemüt  als  ein 
schöner  Beweis  innigen  Empfindens  gerühmt  werden 
würde,  wenn  es  eben  nicht  —  eine  orientalische  Ge- 
schichte wäre. 

Nun  darf  man  diese  allerdings  nicht  zur  Norm 
des  orientalischen  Liebeslebens  stempeln  wollen.  Auch 
die  orientalische  Geschichte  und  Literatur  hat  genug 
Beispiele  dafür,  daß  in  kühnem  Heldenmute  die  Ge- 
liebte erobert  wurde.  Schon  die  Erzählungen  des 
Seefahrers  Sindbad  können  als  Beweis  dafür  ange- 
zogen werden.  Ja,  ich  halte  sogar  den  trojanischen 
Krieg  für  ein  Beispiel  altorientalischen  Liebeslebens, 
so  absurd  dies  auf  den  ersten  Blick  auch  erscheinen 
mag. 

Der  Orientale  ist  im  allgemeinen  in  seinem  Liebes- 
leben leidenschaftlich  bis  zur  Raserei,  und  mit  den 
furchtbarsten  Strafen  und  Martern  hat  er  schon  im 
Altertum  Eingriffe  in  seine  Liebesrechte  zu  verhüten 
und,  falls  sie  vorgekommen  waren,  zu  ahnden  gewußt. 
Die  wollüstige  Grausamkeit,  durch  die  von  jeher  das 
orientalische  Strafrecht  sich  sehr  wenig  vorteilhaft  von 
dem  anderer  Völker  unterschieden  hat,  bildet  einen 
Grundcharakterzug  des  Orientalen.  Man  hat  ja  stets 
auf  eine  Wechselwirkung  zwischen  wollüstiger  Ver- 
weichlichung und  unmenschlicher  Grausamkeit  hinge- 
wiesen. Der  Orientale  kann  hierfür  direkt  als  Stu- 
dientype gelten.  Diese  Wechselwirkung  ist  es,  die 
u.  a.  auch  im  Sadismus  in  die  Erscheinung  tritt,  nur 
daß    sie   hier   gegen   das   Objekt,    das   der   perversen 


—     22     — 

Sinnlichkeit  Befriedigung  geben  soll,  gerichtet  ist, 
während  sie  sonst,  wie  im  Orient,  sich  gegen  dritte 
Personen  richtet,  die  mit  dem  Liebesleben  selbst  in 
keinen   Zusammenhang  gebracht   werden   können. 

Die  furchtbarste  Grausamkeit  zeigt  sich  aber 
keineswegs  etwa  nur  da,  wo  das  Liebesleben  in  Be- 
tracht kommt,  also  etwa  bei  der  Vernichtung  und 
Bekämpfung  von  Nebenbuhlern,  sondern  ganz  im  all- 
gemeinen .  Wir  haben  im  deutschen  Altertum  Strafen 
gar  nicht  oder  fast  gar  nicht  gekannt,  mindestens 
nicht  gegen  Freie,  sofern  diese  nicht  als  Verräter  oder 
als  sonst  allgemein  gefährliche  Personen  vernichtet 
werden  mußten.  Im  alten  Deutschland  hat  sich  das 
Strafrecht  erst  später  ausgebildet,  und  je  mehr  römi- 
scher Einfluß  wirkte,  desto  schärfer  wurden  die  Strafen, 
die  dann  allerdings  später  auch  aus  eigenem  „Bedürf- 
nis" immer  schärfer  und  grausamer  wurden.  Nicht 
so  im  Orient.  Dort  hat  man  schon  im  hohen  Alter- 
tum viel,  unmenschlich  und  meist  mit  entsetzlicher 
.Willkür  gestraft.  Gerade  das  letztere  Moment  ist  dabei 
das  beachtenswerteste.  Es  kam  gar  nicht  so  darauf  an, 
für  eine  bestimmte  Tat  eine  bestimmte  Strafe  zu  er- 
kennen, sondern  die  Laune  eines  Despoien  genügte, 
auch  über  Personen,  die  nichts  verbrochen,  sondern 
vielleicht  nur  durch  eine  wirkliche  oder  vermeintliche 
Ungeschicklichkeit  den  Zorn  des  Vielgestrengen  er- 
regt hatten,  furchtbare  Todesmartern  zu  verhängen,  in 
deren  Erfindung  mehr  als  genial  zu  Werke  gegangen 
wurde.  Willkür  herrschte  aber  auch  in  der  Anwen- 
dung der  Todesmartern.  So  kam  es  vor,  daß  Herr- 
scher große  eiserne  Öfen  errichten  ließen,  an  die  die 
Opfer    angeschlossen    wurden.     War   dies    geschehen, 


—     23     — 

dann  wurden  die  Öfen  geheizt,  und  die  Verur- 
teilten mußten  langsam  zu  Tode  gebraten  werden,  ein 
Akt,  dem  der  Herrscher,  wohl  auch  seine  Weiber, 
mit  großem  Behagen  zusah.  Es  gab  gar  kein  größeres 
Vergnügen,  als  die  Qualen  der  Unglücklichen  zu  be- 
obachten. Es  wurde  auch  der  Körper  des  Verurteilten 
mit  Brennstoffen  förmlich  gespickt,  die  dann  ange- 
zündet wurden  und  den  qualvollsten  Tod  verursachten. 
Schon  die  Bibel  berichtet  im  Alten  Testament  von 
grausamen  Strafen,  die  im  Morgenlande  etwas  ganz 
Alltägliches  waren,  und  die  Geschichte  erzählt  von 
Herrschern,  die  zur  Übung  im  Bogenschießen  die  töd- 
lichen Pfeile  auf  ihre  Untertanen  abschössen,  nicht 
etwa,  weil  diese  etwas  verbrochen  gehabt  hätten, 
sondern  einfach  weil  es  ihnen  gerade  gefiel,  auf  lebende 
Ziele  zu  schießen.  Es  ist  doch  heute  noch  so,  daß 
im  Orient  die  furchtbarsten  und  grausamsten  Strafen 
bestehen,  an  denen  beharrlich  festgehalten  wird,  wäh- 
rend unsere  Strafmittel  immer  milder  ausgedacht 
werden,  ja,  es  ist  bei  uns  die  Humanitätsduselei  so 
weit  vorgeschritten,  daß  es  Menschen  gibt,  die  es  sich 
geradezu  zur  Lebensaufgabe  machen,  dahin  zu  wirken, 
daß  nur  um  jeden  Preis  die  Herren  Verbrecher  mit 
Glacehandschuhen  angefaßt  werden  sollen,  ein  Prinzip, 
das  ganz  gewiß  nicht  zu  billigen  ist,  weil  es  über 
die  Grenzen  des  Vernünftigen  hinaus  geht.  Möchte 
man  doch  lieber  dafür  sorgen,  Strafmittel  zu  schaffen, 
durch  die  die  unschuldigen  Angehörigen  eines  ver- 
kommenen Subjekts  nicht  viel  schwerer  getroffen 
werden  als  der  Übeltäter,  Strafmittel  zu  schaffen,  durch 
die  Rückfallshandlungen  nicht  künstlich  gezüchtet 
würden. 


—     24     — 

Jene  Grausamkeit  hat  aber  einen  engen  Zu- 
sammenhang mit  dem  Liebesleben  des  Orients.  Es 
ist  eine  bekannte  Tatsache,  die  psychologisch  ja  auch 
gar  nicht  so  schwer  zu  erklären  ist,  daß  gesteigerte 
Wollust  einen  Hang  zu  raffinierter  Grausamkeit  er- 
zeugt. Wir  können  das  schon  bei  den  alten  Griechen 
nachweisen,  die  desto  grausamer  wurden,  je  mehr  sie 
sittlich  sanken.  Es  war  bei  den  Griechen  gestattet, 
die  Sklaven  furchtbaren  Foltern  zu  unterwerfen.  Zu 
solchen  Gelegenheiten  ließ  man  Einladungen  an  gute 
Freunde  und  Gönner  ergehen,  denen  man  durch  die 
Vorführung  derartiger  Martern  ein  großes  Vergnügen 
bereitete.  Beim  Anblick  des  blutenden  und  zuckenden 
Körpers  geriet  man  in  wollüstige  Raserei.  Diesen 
Brauch  importierte  man  auch  in  dem  an  sittlicher  Ver- 
worfenheit und  Ausschweifungen  verfaulten  römischen 
Reiche.  Die  grausamsten  Christenverfolgungen  wurden 
ebenfalls  nur  von  römischen  Kaisern  begangen,  die  durch 
Unzucht,  natürliche  und  widernatürliche,  zerrüttet 
waren.  Nero  z.  B.  ist  durch  seine  ausschweifende 
Unzucht  ebenso  berüchtigt,  wie  durch  seine  Grausam- 
keit. Übrigens  fallen  auch  in  Deutschland  die  blutig- 
sten Strafen  in  die  Zeiten  der  größten  sittlichen  Ver- 
worfenheit. Ja,  als  noch  in  unseren  Zuchthäusern 
.Willkommen  und  Abschied  von  Rechtswegen  bestan- 
den, da  wurde  diese  viehische  Ausprügelung  nicht 
selten  vor  geladenem  Publikum  vorgenommen,  und  es 
ist  bekannt,  daß  der  Anblick  der  zuckenden  und  im 
Blute  schwimmenden  Hinterteile  bei  den  Zuschauern 
eine  rasende  Wollust  verursachte;  die  teilweise  so- 
gar   recht    anschaulich    beschrieben    worden    ist. 

Ich   möchte  das   alles   als   raffinierte   Grausamkeit 


—     25     — 

bezeichnen,  eine  Grausamkeit,  die  mit  Raffinement  im 
Anblick  fremder  Qualen  eine  sexuelle  Wollust  sucht 
und  findet,  gewiß  ein  geheimnisvoller  Zug  der  Men- 
schenseele, in  der  Haß  und  Liebe  in  so  naher  Nach- 
barschaft wohnen,  daß  sich  diese  Gegensätze  berühren, 
ja  unmittelbar  ineinander  übergehen,  die  aber  auch 
untrennbar  voneinander  sind,  denn  diese  Art  Grau- 
samkeit kommt  nur  bei  sexuell  überreizten  Leuten 
vor.  Volle  sexuelle  Enthaltsamkeit,  d.  h.  wenn  sie 
durch  die  Verhältnisse  erzwungen  ist,  nicht  die,  die 
das  Resultat  des  eigenen  Willens  ist,  beeinflußt  das 
Gemütsleben  ebenfalls;  sie  macht  roh  und  brutal.  Man 
findet  so  etwas  bei  Expeditionen  in  unbewohnten 
Gegenden,  bei  denen  Männer  nur  auf  die  eigene  Ge- 
sellschaft angewiesen  sind  und  absolut  nicht  die  er- 
wünschte Gelegenheit  zu  sexuellem  Verkehr  finden 
können.  Seefahrer,  die  bei  ihren  weiten  Reisen  in 
derselben  Lage  sind,  arten  leicht  zu  rohen  und  bru- 
talen Menschen  aus,  besonders  da  sie  schon  durch  die 
harte  Arbeit  ihres  Berufs  und  das  ständige  Leben  in 
reinster,  kräftigster  Luft  kerngesunde  Leute  mit  einem 
starken  Überschuß  an  Kraft  sind.  Solche  Leute  pflegen 
nicht  selten  fast  ihre  gesamte  Löhnung,  die  sie  von 
der  mühevollen  Fahrt  heimbringen,  in  der  ersten 
Hafenstadt  mit  Frauenzimmern  klar  zu  machen.  Des- 
halb ist  auch  das  Dirnenwesen  in  allen  größeren 
Häfen  außerordentlich  entwickelt,  denn  lohnend  ist 
das  Geschäft  mit  Jan  Matt,  wenn  es  auch  nicht  frei 
von  Gefahren  und  rohen  Auftritten  ist.  Man  billigt 
im  allgemeinen  den  starken  Einflüssen  des  sexuellen 
Lebens  auf  die  männliche  Psyche  bei  weitem  nicht 
den  Einfluß  zu,  den  sie  beanspruchen  dürfen,  sondern 


—     26     — 

sucht  viel  zu  viel  hinter  dem  Alkoholismus,  wenn 
man  das  Motiv  zu  einer  rohen  Tat  nicht  sofort  mit 
Händen  greifen  kann.  Gewiß  soll  nicht  bestritten 
werden,  daß  auch  der  Alkoholismus  viele  Excesse  auf 
dem  Konto  hat;  aber  man  soll  auch  dabei  nicht  über- 
sehen, daß  der  Alkoholismus  ebenfalls  sehr  oft  nichts 
ist  als  eine  Folge  unbefriedigten  Liebeslebens.  Daß 
er  für  dieses  eine  Heilquelle  werden  könnte,  das  stelle 
ich  allerdings  energisch  in  Abrede;  er  kann  nur  ein 
augenblickliches  Betäubungsmittel  sein,  das  aber  in  der 
Regel  das  Übel  größer  macht,  als  es  vorher  war.  Ent- 
weder wird  der  Alkohol  noch  mehr  zu  rohen  Ex- 
cessen  anregen,  oder  er  führt  zum  ewigen  Dämmer- 
zustande des  Vergessens,  d.  h.  aus  dem  Betäubungs- 
versuch entsteht  die  chronische  Trunksucht,  die  den 
Menschen  noch  tief  unter  das  Vieh  herabwürdigt.  Es 
lohnte,  stets  festzustellen,  was  den  Säufer  zu  seinem 
Laster  geführt  hat;  in  der  Regel  wird  man  die  Quelle 
im   Sexualleben   nachweisen   können. 

Der  Orientale,  wenigstens  der  Muselmann,  ist  der 
Gefahr,  ein  Säufer  zu  werden,  weit  weniger  ausgesetzt, 
als  der  Abendländer,  weil  ihm  der  Genuß  berauschender 
Getränke  verboten  ist.  Dafür  entnervt  er  sich  fast 
mehr  als  durch  ein  excessives  Liebesleben  durch  den 
Haschisch-  und  Opium-Rausch,  der  ihn  doch  auch  wieder 
in  die  lieblichen  Gefilde  des  wollüstigen  Sinnengenusses 
hinüberzaubert,  und  jedenfalls  ganz  erheblich  gefähr- 
licher und  zerrüttender  ist  als  der  Alkoholrausch,  so- 
weit eben  nicht  chronische  Trunksucht  entsteht,  die 
aber  viel  eher  noch  vermieden  wird  als  der  chronische 
Opiumismus,  der  etwa  dasselbe  ist  wie  der  Morphinis- 
mus, der    bei    uns    viel    weniger    selten   ist,    als   man 


-~     27     — 

gewöhnlich   glaubt.    Es   ist  fast   unmöglich,   sich   von 
einem  derartigen  Narkotikum  loszureißen,  wenn   man 
ihm   erst   einmal   verfallen   ist.    Auf   den   sexuell   aus- 
gemergelten Orientalen  wirkt  aber  Opium  schon  des- 
halb   viel    nachhaltiger   und    zerrüttender   als    auf    uns 
der  Alkohol,  weil  schon  die  Ernährung  berücksichtigt 
werden   muß.    Leute,  die  Sauerkraut  und   Erbsen  ge- 
nießen,  können   viel   eher   ein   Quantum   Alkohol   ver- 
tragen   als    der   Orientale   bei    seiner    Ernährung   und 
seinem  Klima  das  Opium.    Der  Alkohol  wirkt  vorüber- 
gehend   auf    das    Sensorium,    schwächt    den    Willens- 
widerstand   und    setzt    das    Bewußtsein    herab,     das 
Opium  zerrüttet  das  Nervensystem,  läßt  die  Phantasie 
ausschweifen  und  schwächt  das  Sexualsystem.    Es  ist 
aber  gerade   wegen   der  wunderbaren   sexuellen   Ver- 
zückungen,  in   die   der  Opiumrausch   versetzt,   dessen 
nahe  Beziehung  zum  Liebesleben  viel  leichter  erkenn- 
bar als  beim  Alkoholrausch,  der  wohl  in  seinem  An- 
fangsstadien  die   Phantasie   zu   beleben   vermag,   dann 
aber  abstumpft,  der  deshalb  meist  ein  Lethetrank  gegen 
die   Enttäuschungen    des    Liebeslebens   sein   soll,    und 
nur  in  den  seltensten  Fällen  dazu  bestimmt  ist,  Mut 
zu  gewinnen,  denn  dazu  ist  in  Liebesangelegenheiten 
der  Alkohol  wohl  das  untauglichste  Mittel,  sobald  er 
so    reichlich    genossen    wird,    daß    er    überhaupt    be- 
rauschend wirkt.    Er  ist  schon  deshalb  nicht  geeignet, 
weil  er  impotent  macht,  d.   h.   entweder  eine  völlige 
impotentia   virilis,   oder   die  sogenannten   e  j  a  - 
culatio     praecox     zur    Folge    hat.     Man     nahm 
deshalb    im    älteren     Rechte    an,    daß     ein     Betrun- 
kener    überhaupt      kein      Sittlichkeitsverbrechen     bis 
zur    Vollendung    begehen,    sondern    nicht    über    das 


28 


Attentat  zu  einem  solchen  hinauskommen  könne. 
Auch  Opiumrausch  und  Alkoholrausch  kennzeichnet, 
wie  man  sieht,  eine  starke  Charakterverschieden- 
heit im  Liebesleben  der  Morgen-  und  Abend- 
länder. Jetzt  hat  sich  hierin  allerdings  auch  schon 
vieles  geändert;  der  Alkohol  ist  auch  bei  den  Musel- 
männern  durchaus   nicht   mehr  so   allgemein   verpönt. 

Weit  erheblichere  Unterschiede  als  im  Liebes- 
leben der  Männer  findet  man  aber  im  Liebesleben  der 
Frauen,  denn  diese  spielen  im  Orient  eine  ganz  wesent- 
lich andere  Rolle  als  im  Occident.  Allerdings  wird 
nach  dieser  Richtung  hin  unglaublich  viel  gefabelt  und 
gefaselt.  Ich  habe  schon  in  meinem  Buche  über  das 
Liebesleben  im  alten  Deutschland  nachgewiesen,  daß  bei 
unseren  braven  Vorfahren  die  Frau  nicht  die  Rolle  ge- 
spielt hat,  die  ihr  heutigen  Tages  angedichtet  wird. 
Es  ist  deshalb  ganz  falsch,  zu  behaupten,  daß  wäh- 
rend die  deutsche  Frau  schon  im  Altertum  eine  Art 
Heilige  mit  fast  abgöttischer  Verehrung  gewesen  sei, 
die  Frauen  im  Orient  heute  noch  im  Harem  in  einem 
Sklavenleben  dahin  schmachten  müßten.  Nicht  ein- 
mal ihres  Lebens  seien  sie  sicher,  denn  wenn  der 
gestrenge  Herr  Tyrann  ihrer  überdrüssig  sei,  dann 
lasse  er  sie  einfach  in  einen  Sack  nähen  und  ins  Meer 
stürzen,  wo  es  am  tiefsten  sei. 

In  Wirklichkeit  sieht  die  Sache  völlig  anders  aus. 
Ich  will  zunächst  gar  nicht  darauf  Wert  legen,  daß 
es  keineswegs  überall  im  Orient  Harems  gibt,  und 
daß  auch  da,  wo  es  diese  Zivilversorgung  für  hei- 
ratsfähige Mädchen  gibt,  doch  nur  verhältnismäßig 
wenige  Männer  in  der  Lage  sind,  sich   einen   Harem. 


—     29     — 

zu  halten.  Bleiben  wir  vielmehr  zunächst  bei  den 
Harems,  so  ist  es  doch  ein  recht  sonderbares  Sklaven- 
leben, das  die  Damen,  soweit  sie  überhaupt  Frauen 
des  Besitzers  und  nicht  bloß  Dienerinnen  sind,  dort 
führen. 

Für    die    extremste    Richtung    unserer    modernen 
Frauenbewegung  ist  freilich  auch  unsere  deutsche  Ehe 
ein  entwürdigendes  Sklavenleben  der  Frau.  Gleichviel 
ob  diese  bedauernswerte  Frau  den  ganzen  Tag  in  ihrem 
luxuriös   eingerichteten   Heim   sitzen  kann,   Bälle,   Ge- 
sellschaften, Theater,  Konzerte  besuchen,  sich  überall 
den  Hof  machen  lassen  darf  usw.,  während  der  Mann 
in    seinem    Berufe    sich    abmühen    und    nicht    selten 
schwere  Sorgen  auf  sich  laden  muß,  um  die  Launen 
der   „gnädigen    Frau"    —   pardon   —   der  Sklavin   zu 
befriedigen.    Alles   gleich,    die    Frau    ist   zu    der    ent- 
würdigenden   Pflicht,    Mutter    zu    werden,    verurteilt, 
das    allein    ist    schon    eine    widernatürliche    Sklaverei. 
Im    Sinne    der    extremsten    Frauenrechtlerinnen.     Im 
ganz    allgemeinen    Sinne    allerdings     darf     zugegeben 
werden,   daß   das   Los   vieler   Frauen   der   armen    Be- 
völkerung nicht  beneidenswert  ist.   Arme  Leute  haben 
in    der    Regel    die    meisten    Kinder.     Da   hat    nun    so 
eine  Frau  die  Kinder  zu  versorgen,  die  Wirtschaft  in 
Stand    zu    halten,    pünktlich    für    die    Mahlzeiten    zu 
sorgen,   und  bei  alledem  muß  sie  auch  noch  mit  er- 
werben,  und  wenn  der  Mann  keine  Arbeit  hat  oder 
ein  Lump  ist,  auch  wohl  allein  für  den  Unterhalt  der 
Familie    sorgen.    Wo    die    bittere   Not   ihren    Eingang 
hält,  da  hält  leider  die  Liebe  sehr  oft  ihren  Ausgang, 
die   Frau    muß   sich   dann    meist   auch   noch    schlecht 
behandeln,   oft  sogar   roh   mißhandeln   lassen,   neben- 


—     30     — 

bei  aber  den  Lüsten  des  Mannes  dienen,  so  daß  die 
Familie  immer  größer  wird,  damit  auch  das  Elend. 
Das  ist  ein  betrübendes,  aber  leider  nur  zu  wahres 
Bild  des  gesegneten  abendländischen  Kulturfortschritts. 
Und  nun  das  Sklavenleben  im  Harem  des  Orients! 
In  verschwenderischer  Pracht  und  Üppigkeit,  umgeben 
von  dem  raffiniertesten  Luxus,  den  verschwenderischer 
Reichtum  zu  schaffen  vermag,  verbringen  diese  „Skla- 
vinnen" ihre  Tage  in  süßestem  Nichtstun.  Mehr  ein 
prunkvolles  Zaubermärchen  als  ein  Menschenleben. 
Keinen  Finger  brauchen  diese  Weiber  zu  krümmen, 
es  sei  denn,  daß  sie  ihn  krümmten,  um  den  Diener- 
innen, die  zu  ihren  Befehlen  stehen  und  stets  des 
Winkes  gewärtig  sind,  einen  Befehl  zuzuwinken.  Und 
der  gestrenge  Gebieter  ist  in  der  Regel  der  er- 
gebene Diener  dieser  Sklavinnen  und  beeilt  sich,  jeden 
ihrer  Wünsche  zu  erfüllen,  und  es  sind  meist  die 
absurdesten  Launen,  die  so  eine  Orientalin  hegt.  Der 
gute  Papa  Gatte  besitzt  aber  eine  unglaubliche  Ge- 
duld und  beneidet  vielleicht  manchmal  den  Abend- 
länder, der  doch  wenigstens  nur  unter  einem  Paar 
Pantoffeln  zu  seufzen  braucht.  Die  Königin  des  Harems 
ist  die  Faroritin.  Sie  ist,  wie  sich  dies  schon  aus  der 
Bezeichnung  ergibt,  die  Bevorzugte,  die  vertrauteste 
Vertraute  des  hohen  Herrn.  Aber  deshalb  sind  die 
anderen  Frauen  auch  seine  Frauen,  und  sie  wissen 
das.  Ich  glaube  auch  nicht,  daß  der  Bedarf  an  Säcken 
besonders  groß  ist,  denn  es  dürfte  doch  wohl  außer- 
ordentlich selten  vorkommen,  daß  jetzt  noch  durch 
diese  grausame  Befugnis  ein  unbarmherziger  Strich 
durch  das  Dasein  einer  Haremsdame  gezogen  wird. 
Ich  habe  ja  schon  die  orientalische  Grausamkeit  mit 


—     31     — 

dem  Sadismus  verglichen  und  gesagt,  sie  unterscheide 
sich  dadurch,  daß  sie  sich  gegen  Dritte  richte  und 
nicht  gegen  das  Objekt  des  Liebeshandels  selbst.  Daß 
früher  leichter  solche  Hinrichtungen  stattgefunden 
haben,  wenn  irgend  ein  ernsterer  Grund  vorlag,  also 
vielleicht  ein  starker  Eifersuchtskampf  zwischen  den 
Damen  oder  sonst  ein  Ereignis,  das  geeignet  war, 
den  Frieden  des  Weiberhauses  zu  gefährden,  das  ist 
wohl  nicht  zu  bestreiten;  aber  man  vergesse  doch 
ja  nicht,  daß  auch  im  deutschen  Altertum  der  Mann 
seine  Gattin  töten  durfte,  daß  auch  bei  den  Deutschen 
die  Frau  am  Gelage  der  Männer  nicht  teilzunehmen 
hatte,  daß  die  Frauen  erhielten,  was  die  Männer  übrig 
ließen,  und  daß  die  deutsche  Frau  viel  eher  Dienerin 
des  Mannes  war  als  die  Haremsfrau  im  Orient,  die 
doch  faktisch  niemals  eine  Dienstleistung  für  den 
Mann  zu  erfüllen  brauchte  und  ihm  höchstens  Liebes- 
dienste zu  leisten  hatte,  wie  dies  doch  übrigens  auch 
Pflicht  der  deutschen  Frau  war. 

Ich  bin  weit  davon  entfernt,  etwa  behaupten  zu 
wollen,  daß  trotz  aller  Pracht  und  Üppigkeit,  trotz 
Luxus  und  Reichtum  für  unsere  Begriffe  das  Harems- 
leben ein  erstrebenswertes  Dasein  für  das  schöne  Ge- 
schlecht  sei. 

Es  gibt  aber  doch  nichts  Unsinnigeres  als  des- 
halb von  einem  Sklavenleben  im  Harem  sprechen  zu 
wollen.  Wenn  man  die  Herrlichkeit  einen  vergoldeten 
Käfig  nennen  wollte,  so  hätte  das  eher  eine  „Berech- 
tigung",  denn  eingeschlossen  und  von  dem  Verkehr 
mit  der  Außenwelt  abgeschnitten  sind  diese  Harems- 
damen. Das  ist  richtig,  aber  eines  dabei  ist  doch 
nicht  zu   übersehen,   daß   eben   die   Landessitte   diese 


—     32     — 

Klausur  vorschreibt,  daß  die  Frauen  infolgedessen  ein 
anderes  Leben  überhaupt  nicht  kennen,  und  daß  sie, 
mindestens  der  Hauptzahl  nach,  viel  zu  indolent, 
apathisch  und  unwissend  sind,  um  über  ihre  Lage 
ernstlich  nachzudenken  oder  gar  ein  anderes  Leben 
zu  wünschen   . 

In  neuerer  Zeit  ist  es  ab  und  zu  europäischen 
Damen  gestattet  worden,  die  Harems  zu  besuchen  und 
mit  den  Haremsdamen  in  direkten  Verkehr  zu  treten. 
Dadurch  haben  wir  zwar  einige  genauere  Mitteilungen 
über  das  Haremsleben  erhalten,  ob  sie  aber  ganz  zuver- 
lässig sind,  läßt  sich  schwer  beurteilen,  denn  an  und 
für  sich  ist  es  für  uns  sehr  schwer,  sich  in  das  Seelen- 
leben anderer  hineinzudenken,  ganz  besonders  schwer, 
wenn  der  Blick  Verhältnisse  trifft,  die  so  unendlich  ver- 
schieden von  den  bei  uns  gewohnten  sind,  und  ferner 
traue  ich,  ohne  etwa  gegen  das  weibliche  Geschlecht 
im  mindesten  voreingenommen  zu  sein,  gerade  in 
Haremsfragen  einer  abendländischen  Dame  überhaupt 
kein  objektives  Urteil  zu,  noch  viel  weniger  als  ich 
es  ihnen  in  der  Prostitutionsfrage  zutraue.  Ich  würde 
übrigens  auch  den  Haremsbesitzern  den  Rat  geben, 
eher  einem  Dutzend  Gardeleutnants  den  Zutritt  in  den 
Harem  zu  gestatten,  als  einer  emanzipierten  europäi- 
schen Dame  —  die  nicht  emanzipierten,  werden  sich 
ja  ohnehin  eine  solche  Erlaubnis  schwerlich  auswirken. 
Die  zwölf  Gardeleutnants  würden  in  das  etwas  ein- 
tönige Leben  der  Haremsdamen  eine  interessante  Ab- 
wechselung bringen,  die  letzteren  vielleicht  ganz  er- 
wünscht wäre.  Ich  gebe  zu,  daß  dem  polygamen 
Gatten  an  einer  derartigen  persönlichen  Entlastung 
jedenfalls  nichts  gelegen,  d  .h.  daß  sie  ihm  sehr  un- 


—     33     — 

erwünscht  sein  würde.  Der  Besuch  der  europäischen 
Damen  müßte  dies  aber  in  noch  viel  höherem  Grade 
sein,  denn  er  trägt  in  den  Harem  den  Geist  der  Re- 
bellion, weil  den  Damen,  die  sonst  zufrieden  und 
gleichgültig  ihr  Los  tragen,  europäische  Frauenrechts- 
ideen eingeimpft,  weil  ihnen  Reden  über  das  Un- 
würdige ihres  Daseins  gehalten  werden,  die  sie  mit 
Unzufriedenheit  und  mit  Sehnsucht  nach  Freiheit  er- 
füllen. Unzufriedenheit  zu  stiften,  ohne  die  Lage 
bessern  zu  können,  das  halte  ich  in  jedem  Einzelfalle 
für  verwerflich.  Ich  will  gern  zugeben,  daß  hier  die 
sogenannte  Aufklärung  in  guter  Absicht  erfolgt  ist. 
Ich  kann  mich  aber  nicht  zu  der  Höhe  des  kos- 
mopolitischen Gedankens  aufschwingen,  die  nun  ein- 
mal erforderlich  ist,  um  diese  gute  Absicht  zu  ver- 
stehen. Es  kann  uns  im  Grunde  verdammt  gleich- 
giltig  sein,  ob  die  Haremsdamen  eine  höhere  Geistes- 
ausbildung und  mehr  Freiheit  genießen  sollen  oder 
nicht,  denn  zunächst  ist  doch  die  Haremsordnung  ge- 
setzlich bestimmt  und  zugelassen.  Wir  haben  wahr- 
lich eher  den  Beruf,  unsere  eigenen  Gesetze  zu  ver- 
bessern, die  das  außerordentlich  notwendig  haben, 
und  unsere  eigenen  Mißstände  zu  beseitigen,  die  wahr- 
haftig darnach  verlangen,  ehe  wir  orientalische  Ge- 
setze und  Mißstände  bekämpfen,  die  uns  nicht  das 
Mindeste  angehen.  Mich  erinnern  solche  Versuche 
gar  zu  lebhaft  an  das  Gleichnis  vom  Splitter  und 
Balken.  Es  ist  doch  gerade  in  einigen  Mitteilungen 
aus  dem  Haremsleben  besonders  freudig  betont 
worden,  daß  die  Haremsdamen  den  Unterschied  zwi- 
schen dem  eigenen  Leben  und  dem  der  abendländi- 
schen Frauen  begriffen  hätten  und  entschlossen  seien, 

3 


—     34     — 

für  eine  Änderung  ihrer  Lage  zu  kämpfen.  Ist  das 
etwa  ein  Triumph  für  uns?  Ich  wüßte  es  nicht.  Und 
der  praktische  Wert  dieser  Aufklärung  wird  nur  der 
sein,  daß  die  Haremsdamen,  die  bisher  ihr  Leben  ganz 
erträglich  gefunden  haben,  schon  deshalb  weil  sie 
eben  ein  anderes  Leben  gar  nicht  kannten,  verbittert, 
unzufrieden  und  aufsässig  werden,  ohne  daß  sie  da- 
durch in  absehbarer  Zeit  etwas  erreichen  können. 

Welchen  Wert  hat  es  nun,  die  Harems  zu  re- 
formieren oder  gar  abzuschaffen?  Welchen  Wert 
würde  dies,  wenn  es  gelänge,  für  uns  haben?  Vom 
Standpunkte  der  Moral  geht  uns  das  orientalische 
Haremswesen  nicht  das  Mindeste  an.  Es  wäre  sogar 
eine  starke  Heuchelei,  wenn  wir  uns  für  berechtigt 
halten  wollen,  aus  Gründen  der  Sittlichkeit  gegen  eine 
Institution  einzuschreiten,  die  weder  nach  orientali- 
schen Anschauungen,  noch  auch  nur  nach  alttestament- 
licher  Lehre  unsittlich  ist.  Man  vergleiche  nur  die 
Weiberwirtschaft  der  jüdischen  Könige  David  und  Sa- 
lomo,  die  doch  beide  als  ganz  besonders  Gott  wohl- 
gefällig bezeichnet  wurden,  mit  dem  Orientharem.  Man 
sehe  aber  auch  —  und  das  ist  das  Gleichnis  vom 
Splitter  und  Balken  —  unser  wohl  entwickeltes  Pro- 
stitutionswesen, unsere  Bordelle  und  unsere  Sittlich- 
keitsgesetze zunächst  einmal  genauer  an,  wer  dann 
noch  den  Mut  hat,  zu  behaupten,  daß  wir  berufen  oder 
berechtigt  seien,  gegen  die  Unmoral  des  Harems  zu 
eifern,  der  verdiente  ob  dieses  Mutes  ein  Denkmal, 
falls  sich  für  ein  solches  noch  der  erforderliche  Platz 
finden  sollte.  Vor  allen  Dingen  —  das  muß  immer 
wieder  gesagt  werden  —  ist  es  ein  Unsinn,  die  Moral 
orientalischer   Zustände   nach   unseren   Moralanschau- 


—     35     — 

ungen  bewerten  zu  wollen.  Unsere  christliche  Ehe 
geht  den  Orientalen  gar  nichts  an,  soweit  er  nicht 
Christ  ist,  und  das  ist  der  Haremsbesitzer  ja  nie- 
mals. Im  übrigen  ist  unsere  theoretisch  ganz  nette 
Moral  ziemlich  fadenscheinig,  und  das  ist  viel  schlim- 
mer als  das  Haremswesen,  das  ja  gesetzlich  Moral 
ist,  die  Moral  also  nicht  ungesetzlich  und  wider 
besseres  Wissen  verletzen  kann. 

Vom  Standpunkte  der  persönlichen  Freiheit  ließe 
sich  nun  wohl  einiges  über  das  Leben  einer  Harems- 
dame sagen.  Ob  es  ausreicht,  um  uns  das  Recht  zu 
geben,  im  Harem  das  Evangelium  der  Freiheit  zu 
predigen,  das  ist  eine  andere  Frage.  Mich  erinnert 
das  an  unsere  deutsche  Literaturperiode  um  1848 
herum,  die  alles  andere  eher  war  als  ein  Glanzabschnitt 
und  von  der  Ad.  Stern  in  seiner  Ergänzung  der  Vilmar- 
schen  Geschichte  der  deutschen  National-Literatur 
sehr  richtig  sagt:  „Ein  Blick  auf  die  Gesamtmasse 
der  politischen  Gedichte  jener  Jahre  gewährt  den 
Eindruck  einer  Maskerade.  Da  gab  es  ungezählte 
Polen-,  Magyaren-  und  Tscherkessenlieder,  die  Zu- 
stände Spaniens  und  Irlands  wurden  poetisch  geschil- 
dert, den  Ansprüchen  der  Czechen  auf  die  Wieder- 
herstellung der  Wenzelskrone  liehen  deutsch-böhmische 
Poeten  wie  Alfred  Meißner  im  „Ziska"  und  Moritz 
Hartmann  in  den  „Böhmischen  Elegien"  ihre  erste 
frische  Empfindung  und  jugendliche  Begeisterung. 
Der  kosmopolische  Taumel  dieser  Lyrik  hatte  nach- 
her eine  zum  Teil  sehr  häßliche  Ernüchterung  zur 
Folge."  Noch  viel  gleichgiltiger  als  ob  die  Czechen 
ihren  Wenzelsthron  wieder  aufrichten,  kann  es  uns 
sein,   ob    einige   orientalische    Machthaber    eine   oder 


—     36     — 

mehrere  Frauen  haben,  und  ob  sie  diesen  das  ab- 
geschlossene Leben  im  Harem  vorschreiben  oder  ihnen 
gestatten,  nach  Herzenslust  außer  dem  Hause  zu 
flirten.  Man  soll  sich  ja  auch  bei  uns  nicht  um  fremde 
Familienangelegenheiten  kümmern  und  tut  dies  we- 
nigstens da,  wo  es  recht  gut  angebracht  wäre,  auch 
absolut  nicht.  Wir  können  wohl  die  Fragen  des 
Haremslebens  erörtern,  aber  eine  tätige  Einmischung 
und  Aufstachelung  der  orientalischen  Frauen  steht  uns 
nicht  zu.  Prüfen  wir  also  ganz  objektiv  die  Frage, 
ob  in  der  Klausur  des  Haremslebens  eine  ganz  em- 
pörende Beschränkung  der  persönlichen  Freiheit  liege, 
so  wird  man  dies  nur  dann  bejahen  dürfen,  wenn 
wir  den  Orient  nicht  mit  den  Massen  des  Orients, 
sondern  mit  unserem  Maße  messen  wollen.  Es  ver- 
steht sich  aber  von  selbst,  daß  wir  dabei  ein  schiefes 
Bild  erhalten  müssen. 

Nach  unserem  Maße  ist  es  schon-  nicht  „korrekt", 
daß  ein  weibliches  Wesen  Gattin  oder  richtiger  gesagt, 
Haremsgenossin  eines  Mannes  wird,  ohne  selbst  erst 
um  die  Einwilligung  hierzu  befragt  zu  werden.  Ich 
glaube  gern,  daß  diese  Einwilligung  ziemlich  oft  nicht 
erteilt  werden  würde,  da  ja  auch  das  orientalische 
Weib  ein  Liebesleben  haben  kann,  d.  h.  es  kann 
sein  Herz  an  eine  andere  Person  gehängt  haben  als 
die  des  Haremsinhabers.  Bei  der  Abgeschlossenheit 
der  orientalischen  Weiber  kann  dies  allerdings  nur 
eine  Liebesaffäre  sein,  die  ganz  einseitig  aus  der  Ferne 
angebahnt  worden  ist.  Das  wird  aber  den  abend- 
ländischen Damen  trotz  ihrer  weitgehenden  Freiheit 
wohl  auch  nicht  selten  passieren,  daß  sie  den  Mann, 
der   das   „Ideal   ihrer   Jugendträume"   ist,   nicht   zum 


—     37     — 

Manne  bekommen,  sondern  daß  sie,  falls  sich  eine 
Gelegenheit  bietet,  einen  anderen  nehmen,  der 
vielleicht  ganz  bedeutend  weniger  ideal  erscheint,  da- 
für aber  „reelle  Absichten"  verwirklicht.  Insofern  ist 
die  Orientalin  also  nicht  schlechter  gestellt.  Schlechter 
gestellt  ist  sie  nur  dadurch,  daß  sie  auch  den  unge- 
liebten Mann  noch  mit  vielen  Genossinnen  teilen  muß 
—  was  ja  vielleicht  in  solchem  Falle  ganz  erträglich 
ist  — ,  und  daß  sie  eben  abgeschlossen  von  dem 
freien  öffentlichen  Verkehr  ist,  nicht  vom  Verkehr  im 
Harem,  der  doch  ganz  sicher  die  Klage  über  drückende 
Einsamkeit  nicht  berechtigt  erscheinen  läßt.  Nun  liegt 
aber  gerade  in  dieser  Gemeinsamkeit  des  Frauenlebens 
ein  Moment,  das  den  Gedanken  der  Freiheitsentziehung 
bei  der  Orientalin  wenig  oder  gar  nicht  aufkommen 
läßt,  sofern  sie  nicht  von  fremder  Seite  darauf  hin- 
gewiesen wird,  daß  die  Frau  gleichberechtigt  sei,  also 
dieselben  Freiheiten  beanspruchen  dürfe,  die  dem 
Manne  zugebilligt  werden,  eine  Theorie,  die  aller- 
dings nicht  einmal  für  abendländische  Verhältnisse  un- 
bedingt richtig  sein  kann. 

Eins  der  interessantesten  Probleme  tritt  uns  in 
der  Frage  entgegen,  ob  der  Orientale,  der  eine  seiner 
Frauen  leidenschaftlich  liebt,  trotzdem  in  der  Lage  sein 
könne,  auch  mit  den  anderen  Frauen  des  Harems  in 
ehelichen  Verkehr  zu  treten.  Mich  wundert  es,  daß 
dieser  Stoff  von  den  Romanschriftstellern  nicht  aus- 
genutzt wird,  oder  vielmehr,  es  wundert  mich  auch 
wiederum  nicht,  weil  eben  diese  Frage  viel  zu  schwer 
zu  beantworten  ist  und  sich  der  poetischen  Beant- 
wortung fast  entzieht.  Es  kann  vor  allen  Dingen 
nicht  bestritten  werden,  daß  der  Orientale  heiß  und 


—     38     — 

leidenschaftlich  zu  lieben  vermag,  er  ist  in  der  Glut 
seiner  Liebe  dem  Abendländer  im  Durchschnitt  sogar 
erheblich  überlegen.  Die  Liebe  aber  fragt  nichts  nach 
Gesetzen,  Institutionen  und  Traditionen;  sie  fragt  nicht 
danach,  ob  Menschenwitz  die  Einzelne  oder  die  Viel- 
weiberei für  die  alleinseligmachende  und  allein  sitt- 
liche Form  der  Ehe  erklärt  hat,  sondern  ist  in  jedem 
Falle  darauf  abzielend,  die  geliebte  Person  ganz  zu 
eigen  zu  erhalten,  und  soll  dann  blind  für  andere 
Personen  sein,  denn  nur  in  diesem  Sinne  kann  man 
davon  sprechen,  daß  Liebe  blind  mache;  sie  ist  sonst 
außerordentlich  hellsehend. 

Man  muß  auch  hier  dem  Charakter  des  Orientalen 
voll  Rechnung  tragen  und  wird  dann  finden,  daß  die 
leidenschaftlichste  Liebe  zu  einer  Frau  noch  keines- 
wegs zärtlichere  Gefühle  gegen  andere  ausschließt.  Es 
ist  vor  allen  Dingen  die  Liebe  zum  Weibe,  die  das 
Herz  des  Muselmanns  beherrscht;  diese  Liebe  kann 
zwar  auf  eine  Person  mit  ungeheurer  Gewalt  aus- 
gegossen werden;  deshalb  ist  aber  noch  lange  nicht 
Blindheit  für  die  Reize  anderer  Frauen  die  notwendige 
Folge.  Wenn  der  Blumenfreund  eine  herrliche  Rose, 
deren  Besitz  er  mit  Leidenschaft  sich  gewünscht  hatte, 
endlich  erhielt,  so  wird  ihm  diese  Rose  für  alle  Zeiten 
kostbar  bleiben,  sie  erfreut  ihn  immer  wieder,  und  der 
Besitz  dieses  Wertstücks  ist  sein  Stolz.  Aber  wird 
er  deshalb  nicht  auch  gern  noch  andere  schöne  und 
wertvolle  Blumen  zu  erlangen  suchen?  Werden  ihn 
diese  nicht  ebenfalls  erfreuen,  wenn  er  sie  erworben 
hat?  Frauen  und  Blumen,  das  ist  ja  sogar  ein  be- 
liebter Vergleich,  sie  erfreuen  das  Herz  und  erfüllen 
das  Gemüt  mit  ihrem  köstlichen  Duft.    Der  Orientale 


—     39     — 

würde  es  nicht  verstehen,  wenn  man  durchaus  bloß 
an  einer  Blume  Gefallen  finden  sollte,  und  dies  würde 
ja  auch  der  Abendländer  durchaus  verstehen;  wenn 
aber  Frauen  Blumen  sind,  und  man  an  mehr  als  einer 
Blume  Gefallen  finden  kann,  so  würde  es  der  Orientale 
nicht  einsehen,  warum  man  gerade  nur  eine  Frau  lieben 
dürfe.  Er  denkt  sich  ja  die  höchste  Seligkeit  des 
jenseitigen  Lebens  auch  durch  die  schönsten  Weiber 
vergoldet,  nicht  durch  eine  einzige  bloß.  Wenn  unsere 
Dichter  so  oft  behauptet  haben,  daß  der  Mensch  über- 
haupt nur  einmal  in  seinem  Leben  lieben  könne,  so  ist 
der  Harems-Orientale  felsenfest  davon  überzeugt,  daß 
man  nicht  allein  sehr  oft  lieben  kann,  sondern  zu 
gleicher  Zeit  mehrere,  von  denen  höchstens  eine  die 
Allerliebste  ist.  Man  darf  orientalisches  Empfinden 
nicht  nach  Bodenstedts  „Liedern  des  Mirza  Schaffy" 
analysieren  wollen,  denn  diese  Analyse  würde  einen 
stark  deutschen  Komponenten  ohne  weiteres  ergeben. 
Übrigens  ist  es  ja  auch  in  Deutschland  wohl  nicht 
so  ganz  undenkbar  und  unvorstellbar,  daß  jemand  zu 
gleicher  Zeit  mehr  als  eine  Person  liebt.  Kommt  es 
nicht  vor,  daß  ein  Mann  eine  sehr  begehrenswerte 
Frau  hat,  der  er  auch  wirklich  zugetan  ist,  und  daß 
er  gleichwohl  noch  außer  dem  Hause  auf  Liebes- 
abenteuer ausgeht?  Kommt  es  nicht  vor,  daß  ein 
Mann  außer  seiner  verlobten  Braut,  der  er  wirklich 
von  Herzen  zugetan  ist,  noch  ein  anderes  „Verhältnis" 
unterhält,  das  zuweilen  mit  dem  ganzen  poetischen 
Zauber  wirklicher  Liebe  umstrahlt  ist?  Man  denke 
doch  auch  an  die  entsetzliche  Ehe  des  Dichters  Bürger 
mit  den  beiden  Schwestern  Dorethea  und  Molly.  Ich 
weiß,  daß  gerade  diese  Dichterehe  erfreulicherweise 


—     40     — 

nur  eine  sehr  vereinzelte  Ausnahme  bildet;  ich  weiß 
aber,  daß  sehr  starke  „intime"  Liebschaften  zwischen 
dem  Manne  und  einer  Schwester  von  dessen  Frau 
durchaus  nicht  so  sehr  zu  den  Seltenheiten  gehören, 
wie  man  glaubt,  und  doch  wahrhaftig  auch  zu  glauben 
berechtigt  ist.  Hier  kommt  es  aber  auch  gar  nicht 
darauf  an,  ob  solche  —  im  wahrsten  Sinne  des  Wortes 
—  Mißverhältnisse  häufig  sind,  sondern  lediglich  darauf, 
ob  sie  überhaupt  vorkommen.  Dies  ist  aber  schon 
durch  einzelne  Beispiele  hinreichend  bewiesen,  und 
ich  meine:  kommen  sie  in  Deutschland  überhaupt 
vor,  obwohl  doch  bei  uns  die  Einzelehe  gesetzlich 
ist,  obwohl  auf  die  reine,  keusche,  deutsche  Liebe 
Ozeane  von  Tinte  „verdichtet"  werden,  obwohl  bei 
uns  der  Ehebruch  von  jeher  als  etwas  Sträfliches 
galt,  so  wird  man  sich  doch  wahrlich  nicht  so  baß 
zu  verwundern  brauchen,  wenn  auch  der  Orientale 
trotz  glühendster  Leidenschaft  für  ein  Weib  zu  der- 
selben Zeit  seine  Neigung  auch  anderen  Weibern 
schenkt,  die  ohnehin  auf  diese  Neigung  einen  gesetz- 
lichen Anspruch  haben. 

Es  ist  allerdings  ganz  unmöglich,  andern  Leuten 
ins  Herz  zu  sehen,  und  selbst  die  wunderbaren  Röntgen- 
strahlen können,  wenn  sie  auch  das  Herz  durch- 
leuchten, doch  nicht  die  geheimsten  Regungen  und 
Motive  offenbaren,  die  im  Liebesleben  eine  so  große 
Rolle  spielen.  Es  wäre  deshalb  mehr  als  vermessen, 
möchte  man  in  jedem  Einzelfalle  feststellen  wollen, 
wie  weit  wirkliche  Liebe,  wie  weit  bloße  sexuelle 
Erregung  den  Orientalen  antreiben,  den  Verkehr  mit 
einer  Mehrzahl  von  Frauen  zu  unterhalten.  Ich  habe 
mich    deshalb   nur   darauf   beschränken   können,   den 


—     41     — 

Beweis  dafür  zu  führen,  daß  auch  die  Liebe  zu  ver- 
schiedenen Personen  zu  gleicher  Zeit  sicherlich  nicht 
ausgeschlossen  ist. 

Den  Frauen  im  Harem  muß  diese  leidenschaftliche 
und  mehrfache  Liebe  zu  gleicher  Zeit,  sehr  oft  sogar 
auch  jede  Liebe,  versagt  bleiben.  Es  ist  wohl  ziem- 
lich ausgeschlossen,  daß  alle  den  einen  Mann,  zu 
dessen  Frauen  sie  das  Schicksal  gemacht  hat,  wirklich 
lieben  können.  Ist  dies  nicht  der  Fall,  dann  müssen 
sie  sich,  so  oft  er  es  wünscht,  ihm  ohne  Liebe  hin- 
geben. So  etwas  kommt  ja  allerdings  auch  bei  der 
Einzelehe  vor,  die  trotz  allem  Idealisieren  doch  sehr 
oft  zu  reiner  Geschäftsangelegenheit  herabgewürdigt 
wird.  Ich  möchte  behaupten,  daß  die  Haremsfrauen, 
die  ihren  Gebieter  wirklich  lieben,  eigentlich  noch 
übler  daran  sind.  Mögen  Sitte  und  Gewohnheit  auch 
noch  so  stark  das  Denken  und  Handeln  der  Menschen 
beeinflussen,  das  Ewigmenschliche  werden  sie  nie- 
mals beseitigen  können,  und  das  Ewigmenschliche  im 
Liebesleben  ist  das  sehnende  Verlangen  und  die  eifer- 
süchtige Sorge  um  den  Besitz  des  Geliebten.  Es  ist 
richtig,  daß  das  Haremsleben  danach  angetan  ist,  die 
Frauen  träge  und  bequem  zu  machen;  aber  man  soll 
doch  nicht  übersehen,  daß  das  Weib  im  Orient  ebenso 
leidenschaftlich  von  Natur  veranlagt  ist  wie  der  Mann, 
und  daß  die  äußerliche  Trägheit  auf  das  Liebesleben 
nicht  so  leicht  übergreift.  Die  Liebe  einer  Harems- 
dame wird  deshalb  niemals  wirkliche  Befriedigung 
bringen,  und  selbst  die  rein  sexuelle  Begierde  wird 
niemals  wirklich  befriedigt  werden  können,  da  schon 
eine  einzige  Frau  voll  die  Leistungsfähigkeit  des  Mannes 
in  Anspruch  nehmen  kann,  sehr  oft,  ohne  selbst  dabei 


—     42     — 

volle  Befriedigung  zu  erlangen.  Ich  meine,  daß  ge- 
rade diese  Seite  des  Haremslebens  für  die  Frauen 
diejenige  ist,  die  ihnen  den  größten  Zwang  auferlegt. 

Das  mag  auch  wohl  das  Hauptmoment  sein,  aus 
dem  einmal  die  wesentlichste  Unzufriedenheit  ihre 
Nahrung  schöpft,  und  aus  dem  aber  auch  andererseits 
die  unberufene  Aufklärungsarbeit  unternommen  wird. 
Man  darf  diese  Seite  nur  nicht  frivol  vom  Stand- 
punkte pikanter  Lüsternheit  auffassen  wollen,  sondern 
muß  sich  objektiv  in  die  Psyche  des  Weibes  hinein- 
versetzen. Es  läßt  sich  nicht  verkennen,  daß  einmal 
die  unbefriedigte  oder  doch  wenigstens  nur  sehr  man- 
gelhaft befriedigte  Libido  und  auf  der  andern  Seite 
die  ganz  natürliche  Eifersucht  auch  in  der  Psyche 
eines  durch  Lebensstellung,  Trägheit  und  gewohntes 
Phlegma  indolent  gewordenen  Weibes  arge  Ver- 
heerungen anrichten  müssen.  Das  kann  man  aus  all- 
gemeiner Humanität  bedauern;  aber  es  darf  uns  keine 
Veranlassung  geben,  auf  die  orientalischen  Harems 
Sturm  laufen  zu  wollen.  Wir  müssen  da  vielmehr 
an  die  durch  Bismarck  berühmt  gewordenen  Knochen 
des  pommerschen  Grenadiers  denken,  die  wir  für  die 
paar  Haremsdamen  jedenfalls  noch  viel  weniger  ris- 
kieren dürfen  als  für  die  für  uns  nicht  so  unwesent- 
lichen politischen  Wirren  außerhalb  unserer  direkten 
Interessensphäre. 

Nun  ist  aber  das  Haremsleben  keineswegs  die 
typische  Form  des  Liebes-  und  Ehelebens  im  ganzen 
Orient;  man  kann  vielmehr  sagen,  daß  die  Harems 
immer  mehr  vereinzelt  in  die  Erscheinung  treten,  und 
daß  sie  bei  einem  großen  Teile  der  orientalischen 
Völker  überhaupt  nicht  vorkommen,  wie  ja  bekannt- 


—     43     — 

lieh  im  Orient  die  schärfsten  Rassenunterschiede  be- 
stehen. Wir  haben  dort  immer  noch  Völker,  die  wir 
als  Halbwilde  bezeichnen  dürfen,  neben  Völkern,  die 
eine  hohe  Kultur  besitzen  und  kräftig  aufwärts  streben. 
Die  bestialische  Grausamkeit  mancher  Orientalen  hat 
sich  im  letzten  Kriege  Deutschlands  bei  den  Hilfs- 
truppen der  angeblich  an  der  Spitze  der  Zivilisation 
marschierenden  Franzosen  im  klarsten  Lichte  gezeigt. 
Ich  meine  die  Turcos  und  ähnliches  Gelichter.  Diese 
Zierde  der  französischen  Armee  repräsentierte  das,  was 
wir  im  Orient  heute  noch  gar  nicht  so  selten  finden, 
Halbtiere,  die  sich  nicht  darauf  beschränken,  den 
Feind  im  ehrlichen  Kampfe  zu  töten,  sondern  auch 
den  Gefallenen  noch  die  Hände,  Zunge  und  Nasen 
abschneiden,  die  Augen  ausstechen  und  sie  sonst  in 
der  barbarischsten  Weise  verstümmeln.  Damit  aber 
noch  nicht  genug,  diese  Bestien  haben  auch  noch  gegen 
Sanitätspersonal,  das  ihnen  helfen  wollte,  geschossen, 
den  Ärzten  ins  Gesicht  oder  in  die  Hände  gebissen, 
und  alle  nur  undenklichen  Greueltaten  verübt.  Furcht- 
bar war  ihre  Bestialität  gegen  Weiber;  und  wo  diese 
nicht  zu  haben  waren,  da  begingen  sie  untereinander 
widernatürliche  Unzucht.  Als  nach  dem  Sturz  von 
Sedan  zahlreiche  entwaffnete  Turcos  über  die  bel- 
gische Grenze  geflohen  waren,  stellten  sie  dort  den 
belgischen  Landmädchen  in  so  schamloser  und  gewalt- 
tätiger Weise  nach,  daß  schließlich  nichts  übrig  blieb, 
als  diese  wilden  Horden  in  die  Citadelle  von  Antwerpen 
zu  sperren.  Frankreich  hat  sich  wirklich  unvergäng- 
liche Kulturverdienste  erworben,  daß  es  diese  Halb- 
tiere nach  Europa  brachte,  um  sie  ein  Kulturvolk 
schänden  zu  lassen;  denn  die  Absicht  war  doch  die, 


—     44     — 

daß  dieses  Gesindel  sich  über  Deutschland  herstürzen 
und  vernichten  sollte,   was   ihm   erreichbar  war. 

Es  ist,  wie  gesagt,  ein  jammervolles  Bild,  das 
uns  in  diesen  wilden  Scharen  entgegentritt  und  doch 
so  viel  Lehrreiches  enthält,  daß  es  ein  volles  Kapitel 
orientalischen  Lebens  ausfüllen  kann.  Gerade  diese 
tierische  Leidenschaft  zeigt  uns  echt  orientalisches 
Liebesleben,  wenigstens  doch  ein  vollwertiges  Stück 
davon,  und  liefert  zugleich  den  strikten  und  unanfecht- 
baren Beweis  dafür,  daß  es  übel  angebracht  wäre, 
wollten  wir  solche  Naturen  in  unsere  Sittlichkeits- 
und Moralanschauungen  fesseln.  Geht  dies  aber  beim 
besten  Willen  nicht,  so  sollen  wir  uns  auch  hüten, 
das  orientalische  Haremsleben  lediglich  vom  Stand- 
punkte unserer  Bierphilistermoral  betrachten  zu  wollen. 
Wer  seine  Augen  nicht  gewaltsam  verschließen  will, 
der  kann  den  Unterschied  zwischen  Morgen  und  Abend 
unmöglich   übersehen. 

In  den  letzten  Marokkowirren  hat  sich  auch  für 
das  Liebesleben  ein  eigenartiges  Bild  entrollt.  Der 
siegende  Beherrscher  der  marokkanischen  Gläubigen 
nahm  dem  Besiegten  nicht  allein  Macht  und  Land, 
sondern  kaufte  ihm  auch  seinen  Harem  ab;  er  wurde 
dadurch  der  rechtmäßige  Gatte  aller  der  Frauen,  die 
bisher  Gattinnen  seines  weniger  glücklichen  Rivalen 
gewesen  waren.  Die  Frauen  wurden  nicht  gefragt, 
ob  das  Band  der  Liebe,  das  sie  an  ihren  bisherigen 
Gebieter  gefesselt  hatte,  jäh  zerrissen  werden  dürfe; 
es  wurde  einfach  an  den  neuen  Besitzer  geknüpft  und 
wird  nun  vielleicht  noch  besser  halten.  Es  soll  ein 
besonders  schöner  und  reichhaltiger  Harem  sein,  und 
ich  bin  nicht  darüber  unterrichtet,  ob  die  Damen  sich 


—     45     — 

nicht   etwa   unter   dem    jetzigen    Herrn    noch    wohler 
fühlen  als  unter  dem  früheren. 

In  der  Türkei,  wo  so  viele  Reformbestrebungen 
sich  geltend  machen  resp.  von  auswärts  geltend  ge- 
macht werden,  ist  auch  eine  Reform  des  Harems- 
wesens angebahnt  worden.  Es  wird  den  Haremsdamen 
deshalb  aus  dem  Abendlande  viel  Sympathie  entgegen- 
gebracht, und  man  feiert  sie  gern  als  Heldinnen.  Kenner 
der  Verhältnisse  allerdings  sind  der  Ansicht,  daß  den 
Haremsgattinnen  dadurch  ein  Loblied  gesungen  werde, 
auf  das  sie  nur  im  allerbescheidensten  Maße  An- 
spruch erheben  dürften,  denn  die  welterschütternde 
Haremsbewegung  gehe  in  Wirklichkeit  von  den  Ge- 
feierten überhaupt  nicht  aus;  sie  sei  nicht  aus  den 
Harems  hervorgegangen,  sondern  komme  von  außen, 
und  es  stehe  nicht  einmal  fest,  ob  den  trägen  Harems- 
frauen mit  der  Bewegung  ein  großer  Gefallen  getan 
werde.  Für  die  türkischen  Verhältnisse  selbst  lasse 
sich  noch  keineswegs  sagen,  daß  eine  wesentliche 
Besserung  erzielt  werden  müsse,  wenn  der  Sturm  auf 
die  durch  lange  Gewohnheit  geheiligten  Harems-Ein- 
richtungen einen  praktischen  Erfolg  aufzuweisen  haben 
würde.  Was  übrigens  in  Konstantinopel  geschieht,  das 
ist  doch  keineswegs  für  den  Orient  als  solchen  ent- 
scheidend. In  anderen  Ländern  besteht  schon  längst 
eine  ziemliche  Freiheit  der  Frau,  neben  dem  Harems- 
wesen, die  fast  europäisch  gestaltete  Einzelehe  neben 
der  Vielweiberei. 

Persien  ist  in  dieser  Richtung  typisch.  Der  vor- 
nehme Mann  unterhält  dort  sein  Zanana  oder  Enderen, 
ein  Frauenhaus,  das  fast  dem  Harem  gleicht,  den 
Frauen  aber  doch  eine  größere  Freiheit  gestattet  und 


—     46     — 

dem  Manne  viel  mehr  Schranken  auferlegt,  so  daß 
letzterer  fast  mehr  der  Beherrschte  ist,  als  die  Frauen 
es  sind.  Besuche  im  Zanana  sind  gestattet,  und  wäh- 
rend in  der  Türkei  die  Frau  gefangen  ist,  macht  sie 
in  Persien  Besuche.  Dem  Manne  ist  es  nicht  einmal 
gestattet,  unangemeldet  das  Frauenhaus  zu  betreten. 
Dagegen  steht  es  den  Frauen  frei,  ihre  Eltern  und 
die  weiblichen  Verwandten  zu  besuchen,  ja  selbst 
mehrere  Tage  dort  zu  verweilen,  ohne  daß  sie  es 
nötig  hätten,  den  Mann  erst  deswegen  zu  befragen 
oder  ihm  überhaupt  einen  solchen  Besuch  mitzuteilen. 
Männlicher  Verkehr  ist  den  Frauen  allerdings  unter- 
sagt, und  sie  haben  nicht  das  Recht,  sich  unverschleiert 
vor  Fremden  sehen  zu  lassen.  Das  Leben  im  Zanana 
gleicht  auch  sonst  dem  Haremsleben  sehr  wenig,  die 
Frauen  sind  keineswegs  zu  einem  Leben  untätiger 
Trägheit  verurteilt,  sondern  sie  übernehmen  den  Haus- 
halt und  greifen  auch  tätig  mit  ein,  sind  auch  meist 
vorzügliche  Köchinnen,  die  sogar  das  Konditorhand- 
werk ganz  trefflich  verstehen.  Ebenso  ist  ihnen  die 
Erziehung  der  Kinder  überlassen,  für  deren  Wohl  sie 
auch  nach  der  eigentlichen  Erziehung  insofern  tätig 
sind,  als  sie  in  der  Regel  deren  Heiraten  arrangieren 
und  die  zukünftigen  Lebensgefährten  bestimmen. 

Bei  den  niederen  Ständen  gilt  fast  ausschließlich 
die  Einzelehe,  und  die  Frau  wird  dann  durch  ihre 
Heirat  faktisch  Genossin  des  Mannes,  erfreut  sich  auch 
einer  fast  unbegrenzten  Freiheit.  Sie  bleibt  auch  in 
der  Öffentlichkeit  unverschleiert  und  darf  ohne  Scheu 
mit  fremden  Männern  sprechen.  Es  ist  nicht  be- 
kannt, daß  die  Frauen  diese  Freiheiten  besonders  miß- 
brauchen. 


—     47     — 

Eine  Sekte,  die  den  Frauen  absolute  Freiheit  ver- 
schaffen wollte,  die  sogenannten  Babi,  ist  den  furcht- 
barsten Verfolgungen  ausgesetzt  gewesen  und  nahezu 
ausgerottet  worden.  Diese  Sekte  wurde  von  Ali  Mo- 
hammed, einem  Kaufmann,  gegründet.  Dieser  sonder- 
bare Heilige  bezeichnete  sich  selbst  als  Bab,  d.  h. 
die  Pforte,  er  meinte,  daß  er  die  Pforte  der  Erkennt- 
nis sei,  und  es  dauerte  gar  nicht  lange,  bis  er  seinen 
Anhängern,  die  ihn  als  die  Inkarnation  Gottes  feierten, 
erklärte,  daß  er  sogar  der  Mittelpunkt  der  Welt  sei. 
Die  vollste  Gleichberechtigung  der  Frauen  war  bei 
den  Babis  Prinzip  und  trat  auch  dadurch  in  die  Er- 
scheinung, daß  eine  Frau  der  Hauptapostel  dieses 
Gottmenschen  war.  Nicht  aber  wegen  der  Stellung, 
die  den  Frauen  bei  der  Sekte  gegeben  wurde,  verfolgte 
man  die  Gläubigen,  sondern  deshalb,  weil  sie  auch 
politisch  eine  Rolle  spielen  wollten,  die  dem  Staate 
schwere  Gefahren  brachte.  Mit  echt  persischer  Grau- 
samkeit fiel  man  über  die  Sektierer  her,  die  sich 
aber  durch  die  Ermordung  des  Schahs  rächten  und 
damit  bewiesen,  daß  sie  mindestens  nicht  die  Religion 
der  Duldung  und  Demut  lehrten. 

Fast  bei  allen  orientalischen  Völkern  finden  wir 
die  Polygamie;  aber  niemals  ist  sie  allgemein,  d.  h. 
von  allen  Mitgliedern  eines  Volksstammes  geübt.  Das 
würde  auch  aus  sehr  zwingenden  Gründen  nicht  durch- 
führbar sein.  Der  Koran  gestattet  jedem  Gläubigen 
vier  legitime  Gattinnen  und  erlaubt  ihm  Beischläfer- 
innen ohne  Beschränkung.  Wollte  von  dieser  reli- 
giösen Erlaubnis  jeder  den  vollen  Gebrauch  machen, 
so  müßte  vor  allen  Dingen  schon  ein  ungeheurer 
Überschuß  von  Weibern  vorhanden  sein,  d.  h.  es  müßte, 


—     48     — 

selbst  wenn  sich  jeder  nur  auf  die  erlaubte  Anzahl 
legitimer  Gattinnen  beschränken  wollte,  mindestens 
viermal  soviel  Weiber  als  Männer  geben.  Das  ist  aber 
keineswegs  der  Fall,  also  ist  schon  rein  rechnerisch 
der  Beweis  zu  führen,  daß  es  eine  allgemeine  Viel- 
weiberei nicht  geben  kann.  Nun  ist  aber  auch  der 
Kostenpunkt  nicht  zu  übersehen.  Weiber  kosten  viel 
Geld,  nicht  bloß  den,  der  die  Liebe  mit  Geld  erkaufen 
will,  sondern  erst  recht  den,  der  viele  Gattinnen  hat, 
noch  dazu,  wenn  er  sie  als  Haremsdamen  erhalten 
will,  denn  diese  machen  besonders  hohe  Ansprüche 
an  die  Kasse,  vermehren  aber  in  keiner  Weise  die 
Einkünfte,  wie  dies  im  Abendlande  die  Frauen  oft  tun 
müssen.  Fast  überall  im  Orient  findet  sich  große  Ar- 
mut, die  aus  den  abscheulich  verlotterten  sozialen 
Verhältnissen  resultiert.  In  China  sind  ca.  9/10  der  Ein- 
wohner nicht  imstande,  die  Kinder  auch  nur  einer 
Frau  zu  ernähren,  wieviel  weniger  können  sie  daran 
denken,  die  zwar  gesetzlich  gestattete,  aber  materiell 
unmögliche  Polygamie  zu  treiben.  Ähnlich  liegen  die 
Verhältnisse  bei  den  Indern. 

Noch  eine  andere  absonderliche  Art  der  Gruppen- 
ehe findet  sich  im  Orient;  es  ist  die  sogenannte 
Polyandrie,  d.  h.  die  Ehe  einer  Frau  mit  mehreren 
Männern.  Diese  Eheform  besteht  noch  vielfach  auf 
Ceylon;  sie  kommt  aber  auch  im  Nelgirigebirge  in 
Vorderindien  vor  bei  dem  dort  hausenden  Stamme  des 
Tudas  und  im  Himalaya  bei  den  Sikhs.  In  der  Regel 
sind  die  Männer  Brüder,  und  das  macht  nach  unseren 
Begriffen  diese  Eheart  sicherlich  noch  weniger  sym- 
pathisch. Die  Kinder,  die  solchen  Ehen  entstammen, 
wissen  niemals,  welcher  von  den  Gatten  ihrer  Mutter 


—     49     — 

ihr  Vater  ist;  sie  nennen  deshalb  alle  Väter  und 
sprechen  von  dem  älteren  oder  jüngeren  Vater.  Man 
kann  für  diese  Art  der  Ehe  schwerlich  ein  Moment 
geltend  machen,  das  geeignet  wäre,  sie  annehmbar 
oder  auch  nur  erklärlich  zu  finden,  jedenfalls  ist  sie 
ganz  abscheulich  und  widersinnig.  Wenn  man  bei 
der  Vielweiberei  doch  immer  noch  Gründe,  die  für  ihre 
Anwendung  sprechen,  finden  kann,  so  sind  diese 
Gründe  zugleich  Momente  gegen  die  Polyandrie.  Hat 
ein  Mann  mehrere  Frauen,  so  ist  es  durchaus  mög- 
lich, daß  die  Bevölkerung  aus  diesem  Verhältnis  eine 
stärkere  Vermehrung  erfährt  als  aus  den  Einzelehen, 
denn  jede  Frau  kann  dem  einen  Gatten  Nachkommen 
bescheeren.  Ebenso  ist  die  Möglichkeit,  daß  alle  Frauen 
den  natürlichen  Zweck  der  Mutterschaft  erfüllen,  bei 
der  Vielweiberei  gegeben.  Wir  haben  ja  schon  ge- 
sehen, daß  der  faktische  Überschuß  an  Frauen,  den 
man  fast  überall  findet,  noch  bei  weitem  nicht  ausreicht, 
um  jedem  Manne  die  Vielweiberei  zu  gestatten;  es 
ist  aber  eine  „Versorgung"  aller  vorhandenen  Frauen 
schon  möglich,  wenn  nur  ein  Teil  der  Männer  in 
Polygamie  lebt.  Das  alles  sind  Gründe,  die  sehr  wohl 
und  gewiß  nicht  ohne  Berechtigung  für  die  Viel- 
weiberei geltend  gemacht  werden  können.  Sie  alle 
sprechen  aber  direkt  gegen  die  Polyandrie,  für  die 
nur  der  eine  Umstand  geltend  gemacht  werden  könnte, 
daß  bei  großer  Armut  der  Bevölkerung  der  Einzelne 
nicht  in  der  Lage  sei,  eine  Frau  zu  erhalten,  daß  des- 
halb mehrere  Männer  die  Kosten  eines  Hausstandes 
tragen  müßten,  daß  auch  der  Einzelne  nicht  auf  die 
Freuden  und  Wohltaten  des  Familienlebens  verzichten 
wolle.    Allein,  das  ist,  bei  Lichte  besehen,  auch  noch 

4 


—     50     — 

kein  stichhaltiger  Grund.  Die  Häuslichkeit  zwischen 
mehreren  Männern  und  einer  Frau  läßt  sich  schwer- 
lich als  den  Gipfelpunkt  gemütlicher  Behaglichkeit 
denken.  Entweder  wurde  die  Frau  lediglich  als  I  n  - 
strumentum  pollutionis  betrachtet,  wobei  ihre 
Rolle  erheblich  niedriger  war  als  selbst  bei  der  Viel- 
weiberei, oder  aber  es  hätte  eine  Neigung  zu  der 
Frau  auf  Seiten  aller  ihrer  Männer  bestehen  müssen. 
Im  letzteren  Falle  wäre  das  Verhältnis  kaum  idealer 
gewesen  und  hätte  doch  mindestens  gegen  die  Natur 
verstoßen,  denn  in  eines  jeden  Menschen  Brust  schlum- 
mert neben  der  Neigung  doch  auch  der  Wunsch,  die 
geliebte  Person  für  sich  allein  zu  besitzen.  Daß  in 
der  Liebe  geteilte  Freude  doppelte  sei,  wird  man 
schwerlich  behaupten  dürfen,  mindestens  nicht  in  dem 
Sinne,  daß  verschiedene  Männer  sich  in  dieselbe  Frau 
teilen  sollen.  Es  kann  deshalb  auch  in  solchen  Gruppen- 
ehen nicht  allzu  friedlich  zugegangen  sein.  Wer  eben 
nicht  die  Mittel  hat,  eine  Frau  zu  ernähren,  der  wird 
besser  tun,  auf  die  Ehe  zu  verzichten,  als  daß  er  etwa 
gar  mit  anderen  sich  in  die  Kosten  des  Verfahrens 
teilt,  damit  zugleich  aber  auch  in  die  Frau.  Eine  Liebe 
ohne  Ehe  wird  jedenfalls  den  Durchschnittsmenschen 
viel  eher  zusagen.  Freilich  kennt  der  Orient  nicht 
überall  unsere  Bedenken. 

Wenn  man  nun  erwägt,  daß  selbst  die  Ehe  im 
Orient  so  außerordentlich  vielgestaltig  auftritt  —  daß 
ein  Teil  der  Buddhisten  auch  noch  für  Cölibat  sich 
begeistert,  sei  nebenbei  bemerkt,  —  so  wird  man  schon 
daraus  entnehmen  müssen,  daß  das  Liebesleben  im 
Orient  auf  keinen  Fall  so  einfach  zu  schildern  ist  wie 
das  des  Abendlandes,  das  ja  auch  schon  kaleidoskopisch 


—     51     — 

genug  aussieht,  aber  doch  immerhin  offiziell  nur  die 
Form  der  Liebe  kennt,  die  in  der  Ehe  gipfelt,  und 
zwar  nur  in  einer  einzigen  Form  der  Ehe,  der  Mono- 
gamie. Wenn  sich  nun  auch  das  Liebesleben  an  sich 
nicht  nach  den  Sittenanschauungen  einzelner  Völker 
richtet,  sondern  überall  dem  gleichen  Naturtrieb  ent- 
springt, der  unabhängig  von  Menschendogmen  in  der 
ganzen  Welt  als  Instinkt  zu  finden  ist,  so  läßt  sich 
doch  nicht  bestreiten,  daß  dieser  Trieb  sich  doch  mehr 
oder  weniger  in  bestimmte  Bahnen  lenken  läßt,  und 
daß  seine  Erscheinungsformen  stark  durch  die  Sitten- 
anschauungen  beeinflußt  werden. 


Das  Liebesleben  im  orientalischen 
Altertum. 


Bei  allen  orientalischen  Völkern  des  Altertums 
finden  wir  eine  größere  Leidenschaftlichkeit  und  Wild- 
heit, als  wir  sie  im  Abendland  gewohnt  sind.  Die 
Lüsternheit,  die  ja  in  der  Regel  mit  Grausamkeit  und 
Blutdurst  gepaart  ist,  nimmt  in  der  alten  Geschichte 
einen  breiten  Rahmen  ein,  und  das,  was  wir  heutigen 
Tages  als  Strafrechtspflege  bezeichnen,  wurde  überall 
durch  eine  maßlose  Willkür  ersetzt,  vor  der  das  Leben 
des  Einzelnen  nicht  mehr  Wert  hatte  als  ein  Lufthauch. 
Geschichtliche  Beispiele,  durch  die  diese  Tatsache  be- 
stätigt wird,  sind  in  großer  Menge  bekannt.  Wenn 
ein  Despot  seine  Schießwaffen  einfach  dadurch  er- 
probte, daß  er  auf  den  ersten,  besten  seiner  Unter- 
tanen anlegte  und  ihn  ohne  Besinnen  über  den  Haufen 
schoß,  so  läßt  diese  „harmlose"  Zerstreuung  wohl 
darauf  schließen,  was  die  zu  erwarten  hatten,  die  durch 
irgend  eine  Tat,  mag  sie  auch  nur  dadurch  zu  einer 
Missetat  geworden  sein,  daß  sie  die  augenblickliche 
Mißstimmung  eines  Gewaltigen  erregte,  zu  „Schand- 
tätern" geworden  waren. 


—     53     — 

Der  Hang  zu  unmenschlicher  Grausamkeit  zeigte 
sich  auch  in  der  Auswahl  der  Hinrichtungsmethoden, 
die  auf  eine  ebenso  reiche  Erfindungsgabe  wie  Grau- 
samkeit schließen  lassen.  So  hatte  der  Tyrann  Phalaris 
zu  Agrigent  den  Ruf  besonderer  Bosheit,  und  ein  er- 
finderischer Kopf,  Perillus,  glaubte,  sich  der  besonderen 
Gunst  dieser  menschlichen  Bestie  leicht  dadurch  ver- 
sichern zu  können,  daß  er  ein  sehr  sinnreich  kon- 
struiertes Werkzeug  schuf,  durch  welches  den  Ver- 
urteilten die  schwerste  Marter  zugefügt,  dem  Ty- 
rannen aber  zugleich  ein  eigenartiger  Spaß  bereitet 
werden  konnte.  Er  baute  aus  Erz  einen  Ochsen,  der 
hohl  war,  und  in  den  Menschen  eingeschlossen  werden 
konnten.  Es  war  aber  eine  so  seltsame  Akkustik  an- 
gewendet worden,  daß  ein  Ton,  der  im  Innern  dieses 
Apparates  entstand,  ungeheuer  verstärkt  außen  gehört 
wurde.  Brüllte  im  Innern  des  Ochsen  ein  Mensch, 
so  hörte  man  draußen  das  laute  Gebrüll  eines  Ochsen 
so  täuschend,  daß  es  ein  „wahres  Vergnügen"  war, 
diese  akkustische  Täuschung  zu  genießen.  Der  Ap- 
parat brachte  es  nun  aber  ganz  von  selbst  mit  sich, 
daß  bei  seiner  Anwendung  im  Innern  gebrüllt  werden 
mußte,  denn  er  hatte  den  Zweck,  die  in  ihm  Ein- 
geschlossenen langsam  zu  braten,  da  durch  eine  Heiz- 
einrichtung das  Erz  erhitzt  und  allmählich  zum  Glühen 
gebracht  wurde. 

Als  Herr  Perillus  seinem  gnädigen  Herrn  und  Ge- 
bieter diese  Erfindung  als  Geschenk  anbot,  war 
Phalaris  in  der  Tat  hocherfreut  und  so  gnädig  ge- 
stimmt, daß  er  dem  Erfinder  „erlaubte",  selbst  zu 
zeigen,  ob  das  Werk  alles  das  wirklich  erfüllte,  was 
von  ihm  versprochen  wurde,  d.  h.  Perillus  mußte  sich 


—     54     — 

als  Erster  in  seiner  Maschine  braten  lassen  und  merkte 
zu  spät,  daß  mit  großen  Herren  nicht  gut  Kirschen 
essen  sei.    Jedenfalls  hatte  er  seine  Sache  vorzüglich 
gemacht,   denn  der  Ochse  brüllte  wirklich  ganz  aus- 
gezeichnet, so  daß   Phalaris  sich  oft  das  kleine  Ver- 
gnügen gönnte,  den  trefflichen  Effekt  zu  genießen.  So 
oft  ihm   dazu  die   Lust  ankam,   ließ   er  irgend   einen 
seiner    treuen    Untertanen    am    Kragen    nehmen    und 
schmoren;  wozu  waren  denn  die  Leute  da,  wenn  sie 
sich  nicht  eine  ganz  besondere  Ehre  daraus  machen 
wollten,  ihren  Gebieter  zu  belustigen?  Für  den  braven 
Perillus    war    das    Schicksal,    geschmort    zu    werden, 
sicherlich  wohl  verdienter  als  für  die  meisten  anderen 
Opfer,  denn  die  gemeine  Gesinnung,  die  er  bewiesen, 
indem    er    eine   so   abscheuliche   Maschine   zur   Qual 
seiner  Mitmenschen  schuf,   lediglich  um   dadurch   die 
Gunst   eines   Scheusals   für  sich   selbst  zu   gewinnen, 
hatte  eigentlich  einen  solchen  Lohn  noch  am  ehesten 
verdient.    Übrigens  soll  auch  dem  grausamen  Phalaris 
die  Geschichte  übel  eingetränkt  worden  sein,  denn  die 
Überlieferung  erzählt,  daß  er  schließlich  selbst  durch 
die    Heftigkeit    seines    Schmerzgebrülls    andere     be- 
lustigt habe;  er  soll  ebenfalls  in  der  berüchtigten  Ma- 
schine  ein   Ende  mit  Schrecken  genommen   haben. 

Daß  sich  an  den  ehernen  Ochsen  der  Aberglaube 
liebevoll  rankte,  ist  nur  ein  Beweis  dafür,  daß  die 
Erfindung  überall  Beachtung  fand.  So  wurde  erzählt, 
daß  verschiedenen  Personen,  die  dem  furchtbaren 
Tode  geweiht  worden  waren,  die  sonst  so  verderb- 
liche Prozedur  auch  nicht  das  Mindeste  geschadet 
habe.  Gallonius  berichtet  allen  Ernstes,  daß  wieder- 
holt Personen  in  dem  Ochsen  geschmachtet  hätten,  die, 


—     55     — 

nachdem  das  Feuer  gelöscht  worden,  ohne  den  gering- 
sten Schaden  aus  diesem  Schmorofen  herausgezogen 
worden  seien.  Man  habe  also  dasselbe  erlebt  wie  bei 
den  drei  Männern  im  feurigen  Ofen,  von  denen  die 
Bibel  berichtet.  Gerade  dieser  Hinweis  auf  die  Bibel 
macht  freilich  diese  Erzählung  nicht  wahrscheinlicher, 
denn  offenbar  hat  Herr  Gallonius  seine  Wundermähr 
aus  der  Bibel  geschöpft  und  die  biblische  Erzählung 
einfach  auf  den  Ochsen  des  unglücklichen  Erfinders 
Perillus  übertragen. 

Dem  mag  nun  aber  sein,  wie  ihm  wolle,  —  die 
grausame  Erfindung  ist  jedenfalls  historisch,  und  wenn 
sie  wirklich  einmal  versagt  haben  sollte,  so  ist  dieser 
Umstand  auch  noch  nicht  geeignet,  die  unerhörte 
Grausamkeit  in  einem  milderen  Lichte  erscheinen  zu 
lassen.  Nun  ist  das  alte  Agrigent  zwar  das  heutige 
Girgenti  an  der  Südküste  Siziliens,  und  man  könnte 
ja  vielleicht  den  Einwurf  machen,  daß  Agrigent  doch 
eigentlich  nicht  die  Sitten  und  Bräuche  des  Orients 
beweise.  Aber  es  darf  nicht  übersehen  werden,  daß 
es  eine  dorische  Kolonie  war,  die  etwa  580  v.  Chr. 
gegründet  und  etwa  5  Lustren  nach  der  Gründung 
von  Phalaris  beherrscht  wurde,  der  16  Jahre  lang 
dort  in  seiner  sichern  Burg  mit  furchtbarer  Grausam- 
keit die  Stadt  beherrscht,  sie  allerdings  auch  zu  einem 
der  mächtigsten  Plätze  gemacht  haben  soll.  Es  ist 
eben  echt  orientalischer  Geist,  der  in  Phalaris  lebte  und 
wirkte.  Agrigent  hatte  zur  Zeit  der  Carthagerkriege 
2—300  000  Einwohner,  und  der  Stier  soll  von  den 
Carthagern  geraubt  und  in  die  ferne  Heimat  gebracht 
worden  sein,  von  wo  er  146  von  Scipio  nach  der 
Zerstörung    Carthagos    den    Agrigentinern    zurückge- 


—     56     — 

bracht  wurde;  jedenfalls  hat  er  auch  die  Carthager 
ergötzt  gehabt,  d.  h.  nur  die,  die  nicht  selbst  in  ihm 
ein    Ende  fanden. 

Wenn  man  sich  weiter  nach  Osten  wendet  und 
prüft,  ob  dort  ebenfalls  eine  ganz  ungewöhnliche  Grau- 
samkeit herrschte,  so  wird  man  dies  ohne  weiteres 
bestätigt  finden,  ja  bis  auf  den  heutigen  Tag  ist  dieser 
schlimme  Charakterzug  der  Orientalen  noch  unver- 
wischt,  wenn  es  auch  nicht  mehr  so  entsetzliche  Marter- 
Instrumente  gibt,  wie  sie  das  Altertum  kannte  und  mit 
besonderer  Vorliebe  anwendete.  Geradezu  verrufen 
waren  die  Tötungsarten  der  Perser.  Wir  finden  dort 
eine  Todesmarter,  die  stark  an  den  ehernen  Ochsen 
erinnert,  in  ihrer  Wirkung  fast  gleichartig  ist,  wenn 
sie  auch  keine  so  raffinierte  Erfindung  darstellt.  Es 
war  diese  ein  hoher  eiserner  Ofen,  an  dem  eiserne 
Ringe  angeschmiedet  waren,  in  die  man  Hände  und 
Füße  der  Opfer  schloß,  so  daß  diese  mit  der  ganzen 
Vorderseite  ihres  Körpers  an  den  Ofen  gefesselt  waren. 
Dann  heizte  man  den  Ofen  bis  zur  Glühhitze  und 
erreichte  damit,  daß  die  Unglücklichen,  die  völlig  ent- 
kleidet waren,  allmählich  erwärmt  und  nach  und  nach 
völlig  verbrannt  wurden.  Der  Effekt,  daß  das  Geschrei 
der  Unglücklichen  wie  das  Brüllen  eines  wütenden 
Stieres  klang,  war  dabei  allerdings  nicht  zu  erzielen, 
aber  dafür  hatten  die  Herrscher,  die  der  Hinrichtung 
auf  ihrem  Thronsessel  in  aller  Gemütsruhe  zusahen, 
das  besondere  Vergnügen,  sich  an  den  Qualen  ihrer 
Opfer  weiden  zu  können. 

Ich  will  mich  hier  nicht  darauf  einlassen,  die 
furchtbaren  Todesstrafen,  die  im  Orient  schon  ver- 
hängt wurden,  wenn  ein  Mensch  das  Unglück  hatte, 


—     57     — 

dem  einmal  übelgelaunten  Herrscher  in  den  Weg  zu 
laufen,  eingehender  zu  besprechen;  ich  möchte  aber 
daran  erinnern,  daß  auch  die  entsetzliche  Marter  der 
Kreuzigung  echt  orientalischen  Ursprungs  ist.  Meder, 
Perser  und  Babylonier  hielten  diese  Todesmarter  für 
die  beliebteste  Hinrichtungsmethode  und  wendeten  sie 
nicht  selten  in  einem  Umfange  an,  den  man  einfach 
nicht  für  möglich  halten  könnte,  wenn  er  nicht  historisch 
erwiesen  wäre.  Darius  ließ,  als  das  alte  Babylon  sich 
gegen  ihn  längere  Zeit  energisch  verteidigt  und  seinem 
Heere  arge  Verluste  bereitet  hatte,  nach  der  Er- 
oberung der  Stadt  etwa  3000  der  vornehmsten  Feinde 
kreuzigen,  und  Alexander  der  Große  eiferte  ihm  hierin 
nach.  Er  liebte  es  nicht,  daß  sich  seinen  Eroberungs- 
zügen jemand  widersetzte,  und  hielt  deshalb  die 
energische  Verteidigung  der  von  ihm  Angegriffenen  für 
ein  besonders  todeswürdiges  Verbrechen.  Die  Höhe 
der  Gesinnung,  die  sich  darin  zeigt,  daß  ein  Feld- 
herr den  Heldenmut  auch  beim  überwundenen  Feinde 
achtet,  war  den  grausamen  Völkern  des  Orients  über- 
haupt fremd.  Als  Alexander  bei  der  Belagerung  von 
Tyros  durch  die  heldenhafte  Verteidigung  der  Ein- 
wohner 6  Monate  lang  aufgehalten  war,  steigerte  er 
die  Wut  des  Angriffs  bis  zur  Raserei.  Immer  neue 
Scharen  seines  gewaltigen  Heeres  trieb  er  gegen  die 
Stadt,  die  schließlich  einer  Insel  in  einem  ungeheuren 
Blutmeere  glich.  Erst  als  über  6000  der  Belagerten 
gefallen  waren,  konnte  Alexander  die  Stadt  erobern. 
Er  ließ  dann,  da  er  ein  besonderes  Exempel  statuieren 
und  seine  Feinde  vor  ähnlichem  „Übermut"  warnen 
wollte,  2000  der  Besiegten  kreuzigen,  und  um  diese 
Greuel  noch  furchtbarer  erscheinen  zu  lassen,  befahl 


—     58     — 

er,  daß  die  Kreuze  auf  weite  Gebiete  verteilt  werden 
sollten,  so  daß  überall  die  grausam  Hingerichteten 
gesehen  werden  mußten. 

Es  ist  nun  ein  oft  und  mit  vollstem  Rechte  be- 
tontes Faktum,  daß  gerade  die  sexuelle  Wollust  den 
Hang  zur  Grausamkeit  am  meisten  steigert.  Bei 
Alexander  dem  Großen  ist  die  Wechselwirkung  schon 
deshalb  nicht  widerlegt,  weil  von  ihm  genügend 
bekannt  ist,  daß  er  bei  den  Weibern  ebenso  große 
Siege  erfochten  hat  wie  gegen  seine  Feinde.  Vor 
allen  Dingen  ist  aber  die  Tatsache,  daß  die  verweich- 
lichtesten Wüstlinge  stets  zugleich  die  grausamsten 
Tyrannen  waren,  nicht  zu  übersehen;  sie  kann  kaum 
dem  Uneingeweihten  entgehen,  und  für  die  Psycho- 
logen ist  sie  weder  neu  noch  unerklärlich,  sie  be- 
stätigt ihm  nur  durch  eine  Reihe  praktischer  Beispiele 
den  Schluß,  zu  dem  er  auch  auf  rein  theoretischem 
Wege  gelangen  kann.  Die  Cäsaren  von  Nero,  Helio- 
gabalus  usw.  an,  sind  ebenso  als  Wüstlinge  wie  als 
grausame  Bestien  bekannt.  Die  meisten  von  ihnen 
waren  Wüstlinge,  die  sexuell  so  übersättigt  waren, 
daß  sie  nicht  bloß  mit  Weibern  ein  Schandleben 
führten,  sondern  sich  auch,  wie  man  heutigen  Tages 
sagt,  homosexuell  betätigten.  Sie  sind  als  Knaben- 
schänder bekannt,  und  so  wie  es  in  ihrem  Liebes- 
leben keine  Abscheulichkeit  gab,  der  sie  sich  nicht  mit 
Leidenschaft  zugeneigt  hätten,  so  war  auch  keine 
Grausamkeit  abscheulich  genug,  um  sie  voll  zu  be- 
friedigen. Gerade  die  Leidenschaft  und  Unersättlich- 
keit, das  unstillbare  Verlangen  nach  immer  stärkeren 
und  immer  neuen  Nervenkitzeln,  das  ist  es  ja,  was 
dem     Psychologen     den     Zusammenhang     zwischen 


—     59     — 

sexuellen  und  bestialischen  Exzessen  zeigt  und  ihn 
beide  Abscheulichkeiten  geradezu  als  aus  einer  Quelle 
fließend  erkennen  läßt. 

Noch  klarer  ist  der  Zusammenhang  zwischen 
Wollust  und  Grausamkeit  im  Liebesleben  der  alten 
Griechen  zu  erkennen.  Eine  gesunde  Erotik,  wie  sie 
das  griechische  Altertum  kannte,  und  wie  sie  ja  natur- 
gemäß auch  aus  der  griechischen  Mythologie  zu  uns 
spricht,  kennt  den  Grad  der  Perversität,  bei  dem 
die  unnatürliche  Grausamkeit  ausgelöst  wird,  noch 
nicht.  Eine  robuste  Erotik,  selbst  wenn  sie  dem 
sexuellen  Moment  einen  breiten  Rahmen  und  einen 
größeren  Einfluß  gewährt,  als  dies  nach  unseren  Moral- 
anschauungen zulässig  erscheint,  ist  noch  durchaus 
nicht  krankhaft,  sondern  im  Gegenteil  in  der  Regel  ein 
Zeichen  überschäumender  Kraft  und  Gesundheit,  ein 
Ausfluß  heiterer,  sorgloser  Lebensauffassung.  Selbst- 
verständlich kann  man  aber  von  einer  gesunden  Erotik 
nur  solange  reden,  wie  noch  keine  Übersättigung  ein- 
getreten ist,  durch  die  der  Liebesdrang  in  Bahnen 
gelenkt  wird,  die  nicht  mehr  normal  und  natürlich 
sind,  sondern  gerade  durch  ihre  Unnatur  neue  Reize 
schaffen  sollen.  Dieser  Zustand  war  eingetreten,  als 
Sodomie  und  Päderastie  bei  den  Griechen  ihren  Sieges- 
zug hielten.  Sofort  finden  wir  aber  auch  eine  Nei- 
gung zu  Grausamkeiten,  die  dem  heitern  Volke  der 
Griechen  ursprünglich  völlig  fremd  gewesen  war.  Es 
wurde  ein  beliebter  Sport,  die  Sklaven  wegen  ge- 
ringer Vergehen,  oft  auch  nur  wegen  angeblicher 
Verfehlungen,  die  nur  behauptet  wurden,  um  einen 
Vorwand  zur  Folter  zu  liefern,  zu  torquieren.  Man 
führte  die  sogenannte  Privatfolter  ein,  d.  h.  es  wurde 


—     60     — 

dem  Herrn  gestattet,  ganz  nach  Belieben  die  Folter 
an  seinen  Sklaven  vorzunehmen.  Ich  habe  das  einen 
Sport  genannt,  und  es  verdient  diesen  Namen  auch 
vollkommen,  denn  die  Folter  diente  nicht  etwa  der 
Gerechtigkeit,  deren  Namen  höchstens  dadurch  schwer 
mißbraucht  werden  konnte,  daß  man  sich  auf  sie  be- 
rief; —  nein,  man  schuf  sich  ein  Vergnügen,  das  einen 
ganz  besonderen  Sinnenkitzel  gewährte.  Man  lud  zu 
solchen  Foltern  Freunde  und  Bekannte  ein,  und  die 
ganze  Gesellschaft  geriet  beim  Anblick  des  vor  Schmer- 
zen zuckenden  Körpers,  beim  Niederrieseln  des  frischen, 
warmen  Blutes  in  wollüstige  Ekstase.  Ja,  es  darf 
wohl  gesagt  werden,  daß  ein  solcher  Anblick  die  se- 
xuelle entnervte  Gesellschaft  viel  mehr  erregte  und 
bei  ihnen  eine  viel  intensivere  Wollust  auslöste  als 
jede  direkte  sexuelle  Betätigung.  Es  ist  dies  dieselbe 
Erscheinung,  die  uns  beim  Sadismus  entgegentritt, 
und  die  schließlich  auch,  wenigstens  in  der  Negation, 
der  Masochismus  trägt.  Man  darf  doch  aber  bei 
Leibe  nicht  etwa  behaupten  wollen,  daß  diese  beiden 
Modezustände,  wenn  man  so  sagen  darf,  Beweise  für 
besondere  Gesundheit  wären ;  sie  können  vielmehr 
nur  gedeihen  auf  einem  durch  ständige  Überreizung 
erkrankten  Nervenszstem.  Man  soll  doch  gesunde 
Erotik  nie  mit  sexueller  Übersättigung  verwechseln. 
Es  ist  aber  die  Sodomie  keineswegs  etwa  ein 
Charakteristikum  der  Griechen  gewesen,  sondern  sie 
war  im  Orient  erst  recht  verbreitet  und  wird  doch 
selbst  in  der  Bibel  recht  getreu  und  ausführlich  ge- 
schildert, nicht  etwa  bloß  soweit,  wie  sie  im  mosai- 
schen Rechte  verboten  ist,  sondern  noch  viel  präziser 
in   der  Geschichte  von  Sodom   im   1.   Mose   19,   5  ff. 


—     61     — 

und  schlimmer  noch  in  der  Geschichte  der  Benja- 
miniter,  Richter  IQ,  22 ff.,  wo  die  Männer  des  Stammes 
Benjamin  zunächst  den  Mann  zur  Befriedigung  ihrer 
bösen  Lüste  verlangen,  dann  dessen  Kebsweib,  das 
ihnen  als  Ersatz  gegeben  wurde,  zu  Tode  brachten. 
„Die  erkannten  sie  und  trieben  ihren  Mutwillen  an 
ihr  die  ganze  Nacht  bis  an  den  Morgen;  und  da  die 
Morgenröte  anbrach,  ließen  sie  sie  gehen."  Es  liegt 
gerade  in  dieser  Geschichte  eine  ganze  Kulturlehre 
des  orientalischen  Altertums.  Zunächst  ist  es  auf- 
fallend, daß  die  Bewohner  einer  ganzen  Stadt  den 
fremden  Gast  für  ihre  Lust  verlangen.  Das  wird 
zwar  als  etwas  Unerhörtes  bezeichnet,  scheint  aber 
nur  in  den  Augen  des  bedrohten  Leviten  und  seines 
Gastgebers,  der  ebenfalls  nicht  zum  Stamme  Benjamin 
gehörte,  so  unerhört,  in  den  Augen  der  Benjaminiter 
dagegen  etwas  ganz  Selbstverständliches  gewesen  zu 
sein.  Dagegen  ist  wieder  etwas,  das  für  alle  heutigen 
Menschen  etwas  Furchtbares  und  Entsetzliches  war, 
offenbar  für  den  Leviten  und  dessen  Gastgeber  einfach 
völlig  selbstverständlich  erschienen.  Sie  opfern  beide 
ohne  jedes  Bedenken  das  Weib  des  Leviten,  über- 
lassen es  den  viehischen  Gelüsten  des  Stammes  und 
kümmern  sich  um  die  Angelegenheit  überhaupt  nicht 
mehr  bis  zum  andern  Morgen.  Dabei  hatte  aber  der 
Levit  erst  eine  weite  Reise  gemacht,  um  sich  dieses 
Weib  wieder  zu  verschaffen.  Die  Geschichte  erinnert 
allzu  lebhaft  an  die  List  der  von  Wölfen  Überfallenen, 
die  den  hungrigen  Bestien  ein  Pferd  opfern,  damit 
sie  selbst,  während  die  Raubtiere  den  ersten  Hunger 
an  dem  Opfer  stillen,  entkommen  können.  Das  mag 
eine    kluge    Rettung   sein;   wer   aber   sein    Weib    der 


—     62     — 

Lüsternheit  der  Menge  opfert,  um  selbst  deren  sodo- 
mitischem  Hunger  zu  entgehen,  der  wird  wohl  mit 
vollstem  Rechte  erheblich  weniger  anerkennend  zu 
beurteilen  sein.  Das  ist  hier  aber  weniger  der  Er- 
wägung wert;  die  Hauptsache  ist  der  Nachweis  einer 
stark  entwickelten  Sodomie  auch  bei  den  Benjaminitern 
zu  alttestamentlichen  Zeiten,  ebenfalls  ein  Beitrag  zur 
Geschichte  des  orientalischen  Liebeslebens  im  Alter- 
tum. Es  soll  vorgekommen  sein,  daß  sogar  regel- 
rechte Ehen  zwischen  Personen  gleichen  Geschlechts 
eingegangen  wurden;  eine  Tatsache,  die  keineswegs 
für  eine  besondere  seelische  Veranlagung  spricht,  son- 
dern lediglich  beweist,  daß  das  Laster,  dem  kein 
energischer  Damm  gesetzt  wird,  sich  bis  ins  Unge- 
heuerliche auszuwachsen  pflegt. 

Auch  im  Altertum  ist  die  Notwendigkeit,  das  Laster 
durch  schwere  Strafen  auszurotten,  erkannt  worden, 
mindestens  immer  dann,  wenn  sich  die  Schäden  der 
um  sich  greifenden  Unnatur  mehr  und  mehr  fühlbar 
machten.  So  findet  sich  bei  Döpler  folgende  Stelle: 
„Pausanias,  ein  schöner  Jüngling  ward  an  des  Königs 
Philippi  in  Macedonien  Hoff  wieder  seinen  Willen 
von  Attalo  zur  Sodomiterey  einsten  mißbrauchet. 
Als  er  es  nun  dem  König  klagte,  und  umb  Bestrafung 
bath,  auch  solches  offt  wiederholete,  aber  ausge- 
lachet,  und  Attalus  immer  größer  und  größer  bey 
Hoff  wurde,  ergrimmete  Pausanias  und  erstach  Phi- 
lippum,  als  er  ihn  einsten  allein  antraff,  daß  er  nicht 
Justitiam  administrieren  wolte.  Pausanias  ward  zwar 
ergriffen  und  stranguliret,  die  Königliche  Wittbe  Olym- 
pia aber  ließ  ihm  eine  güldene  Krön  aufsetzen,  und 
mit  großem  Pomp  begraben." 


—     63     — 

Der  gekrönte  Königsmörder  hat  zwar  nur  sein 
eigenes  Interesse  vertreten,  als  er  den  König  für  die 
verweigerte  Gerechtigkeit  so  energisch  strafte;  aber 
die  Geschichte  ist  doch  sehr  lehrreich.  Schon  daraus, 
daß  der  schöne  Jüngling  Pausanias  eine  Bestrafung 
des  Attalus  verlangte,  ergibt  sich  zwanglos,  daß  dessen 
Treiben  strafwürdig  erscheinen  mußte,  denn  wäre 
sein  Tun  allgemein  als  einwandfrei  betrachtet  worden, 
so  hätte  auch  Pausanias  nicht  auf  den  Gedanken  ver- 
fallen können,  daß  er  eine  Strafe  verlangen  dürfe,  da 
man  eine  solche  doch  nur  für  etwas  Strafbares  und 
keineswegs  für  etwas  durchaus  Erlaubtes  beanspruchen 
darf.  Daß  nun  der  König  nicht  strafte,  sondern  den 
Ankläger  einfach  auslachte,  das  zeigt  weiter  nichts, 
als  daß  er  das  Recht  äußerst  willkürlich  anwendete) 
und  seinen  Günstling  schützte.  Dafür  wendete  dann 
Pausanias  eine  Radikalkur  an,  die  zwar  den  König, 
später  aber  auch  ihn  selbst  vernichtete.  Nun  hat  die 
Königin  den  Mörder  ihres  Mannes  gekrönt,  ein  Zeichen, 
daß  sie  die  Gerechtigkeit  weit  höher  schätzte,  als  der 
ermordete  König.  Zwar  konnte  sie,  wieder  aus  Hang 
zur  Gerechtigkeit,  den  Königsmörder  nicht  vor  der 
Todesstrafe  schützen;  daß  sie  ihn  aber  krönte  und 
krönen  durfte,  das  läßt  sicherlich  darauf  schließen,  daß 
auch  andere  das  Verlangen  des  Pausanias  nach  einer 
Sühne  für  durchaus  berechtigt  hielten. 

Sittliche  Verwahrlosung  wird  niemals  das  Gefühl 
für  Recht  und  Gerechtigkeit  im  Menschenherzen 
stärken,  deshalb  werden  entsittlichte  Könige  auch  nie- 
mals gerecht  regieren,  sondern  die  Grausamkeit,  die 
eine  Folge  ihrer  unstillbaren  Lüsternheit  ist,  auch  stets 
mit  großer  Willkür  anwenden.    Das  ist  wieder  eine 


—     64     — 

Erklärung  für  die  entsetzliche  Tyrannei  orientalischer 
Herrscher. 

Ausnahmen  hat  es  aber  auch  da  gegeben,  und 
die  alte  Geschichte  des  Orients  weist  auch  Züge  des 
Liebeslebens  auf,  die  so  sinnig  und  zart  anmuten,  wie 
der  Frühlingstraum  eines  deutschen  Gemüts.  Ich  will 
mich  hier  auf  die  Geschichte  der  Stratonike  beschrän- 
ken, die  allerdings  in  ihrem  ganzen  Verlauf  absolut 
nicht  deutsch  sondern  echt  orientalisch  ist. 

Seleukos  I.,  dem  die  Geschichte  den  Ehrennamen 
„Nikator"  beigelegt  hat,  was  so  viel  heißt  wie  der 
Siegreiche,  beherrschte  etwa  300  Jahre  vor  Chr.  das 
gewaltige  Syrische  Reich.  Seleukos  hat  gelebt  und 
geliebt,  wie  dies  damals  bei  den  Großen  des  Orients 
Sitte  war.  Noch  im  Alter  von  60  Jahren  führte  er 
die  jugendliche  Tochter  seines  Verbündeten  Demetrius 
Poliorketes,  die  schöne  Stratonike  als  Gattin  heim. 
Da  diese  für  den  Lebensherbst  des  Greises  viel  weniger 
paßte  als  für  einen  Jüngling,  und  da  Seleukos  einen 
erwachsenen  Sohn  Antiochus  besaß,  der  noch  nicht 
das  Glück  der  Ehe  gekostet  hatte,  war  es  schließlich 
gerade  kein  Wunder,  daß  Antiochus  der  Meinung  war, 
Stratonike  sei  als  Gattin  unendlich  begehrenswerter 
denn  als  Stiefmutter.  Antiochus  verliebte  sich  sterblich 
aber  hoffnungslos  in  die  schöne  Stratonike,  die  ihm 
zwar  mit  aller  Freundlichkeit  begegnete,  aber  selbst 
nicht  auf  den  Gedanken  verfiel,  daß  ihr  Stiefsohn  ihr 
eine  andere  Neigung  entgegenbringen  könne  als  das  Ge- 
fühl liebevoller  Verwandtenneigung.  Antiochus  wußte 
sehr  wohl,  daß  seine  Neigung  völlig  aussichtslos  war, 
und  es  ging  ihm  so  ähnlich  wie  den  Männern  vom 
Stamme  Asra,  welche  sterben,  wenn  sie  lieben.    An- 


—     65     — 

tiochus  siechte  auch  wirklich  an  seiner  hoffnungslosen 
Liebe  dahin  und  wurde  so  leidend,  daß  sein  Vater 
bange  Sorgen  seinetwegen  fühlte. 

Der  alte  Seleukos  liebte  seinen  Sohn,  der  ihm 
in  der  Regierung  folgen  sollte,  und  zerbrach  sich  den 
Kopf  über  die  schleichende  Krankheit,  für  die  sich 
in  der  Tat  keine  Erklärung  finden  ließ.  Seleukos 
wendete  sich  deshalb  an  seinen  alten,  erfahrenen  Arzt 
Erasitratos,  der  den  Sohn  eingehend  prüft  und  gar 
bald  herausfindet,  daß  nicht  ein  körperliches,  sondern 
ein  seelisches  Leiden  bestehen  müsse.  Er  vermutete 
eine  heimliche  Liebe,  war  aber  keineswegs  in  der  Lage, 
auch  nur  die  mindeste  Vermutung  auszusprechen,  wem 
sie  gelten  könne.  Der  alte  Erasitratos,  der  zwar  nicht 
den  Doktortitel  führte  und  auch  nicht  den  Beweis 
dafür  erbringen  konnte,  daß  er  ein  erfolgreiches  Uni- 
versitätsstudium hinter  sich  und  das  Staatsexamen  be- 
standen habe,  der  also  nach  heutigen  „aufgeklärteren" 
Begriffen  nur  ein  elender  Kurpfuscher  sein  konnte, 
war  in  Wirklichkeit  ein  Arzt,  wie  er  sein  soll,  also 
ein  Mann,  der  nicht  allein  seine  Wissenschaft  gar 
trefflich  beherrschte,  sondern  es  auch  verstand,  seine 
Patienten  mit  Menschenkenntnis  und  Wohlwollen  zu 
beobachten  und  sich  dadurch  ein  klares  Bild  ihrer 
Leiden  zu  verschaffen.  Er  war  viel  zu  klug  und  er- 
fahren, als  daß  er  den  Antiochus  durch  eine  Anspielung 
auf  dessen  heimliche  Liebe  härte  aushorchen  wollen; 
er  gab  sich  vielmehr  den  Anschein,  als  stehe  er  dem 
Leiden  völlig  ratlos  gegenüber.  Da  Antiochus  immer 
leidender  in  seinem  Bette  lag,  wußte  Erasitratos  es 
zu  veranlassen,  daß  der  ganze  Hofstaat,  d.  h.  alle 
weiblichen  Schönheiten  am  Hofe  des  Seleukos  einzeln 

5 


—     66     — 

nach  einander  durch  das  Zimmer  gehen  mußten. 
Seleukos  litt  gewiß  nicht  an  Geschmacklosigkeit,  und 
seiner  Gattinnen  und  Huldinnen,  die  wohl  auf  das 
sehnende  Herz  eines  Jünglings  ihren  Zauber  ausüben 
konnten,  waren  nicht  wenige,  denn  der  alte  Mann 
sorgte  dafür,  daß  er  stets  jugendlichen  Ersatz  erhielt. 

Erasitratos  hielt  nun,  während  die  Schönheiten 
am  Bette  seines  Patienten  langsam  vorüberschritten, 
dessen  Puls  und  beobachtete  den  Kranken  mit  aller 
Schärfe.  Nichts  deutete  aber  darauf  hin,  daß  Antiochus 
gegen  irgend  eine  der  Vorüberwandelnden  auch  nur 
die  geringste  Neigung  oder  Aufmerksamkeit  fühle;  er 
blieb  so  gleichgiltig,  als  würden  leblose  Gegenstände 
an  ihm  vorübergeführt,  die  noch  nicht  einmal  durch 
ihren  Anblick  ein  geringes  Interesse  erregen  könnten. 
Schon  gab  der  erfahrene  Arzt  die  Hoffnung,  einen 
Anhalt  für  die  Richtigkeit  seiner  Diagnose  zu  finden, 
auf.  Da  nahte  die  jugendliche  Stratonike.  Der  Kranke 
zuckte  zusammen,  sein  leidendes  Antlitz  wurde  von 
Purpurglut  Übergossen,  und  der  Arzt  fühlte  die  Pulse 
in  fieberhafter  Erregung  schlagen.  Selbst  einem  we- 
niger erfahrenen  Beobachter  wäre  wohl  nicht  ent- 
gangen, daß  Stratonike  dem  Herzen  des  Kranken  nahe- 
stehen mußte.  Es  war  ja  nun  allerdings  für  den  Arzt 
recht  erfreulich,  zu  sehen,  daß  er  sich  über  das  Leiden 
des  Kranken  nicht  getäuscht  hatte;  aber  für  den 
Menschenfreund  war  dieser  Roman  doch  eine  ver- 
teufelt dumme  Geschichte,  denn  daß  hier  nicht  viel 
zu  helfen  war,  erschien  auf  den  ersten  Blick  sicher. 
Wie  sollte  die  Liebe  des  Sohnes  zu  der  schönsten 
Gattin   seines   Vaters   hoffnungsvoll  sein? 

Erasitratos  war  aber,  wie  gesagt,  ein  Arzt,  wie 


—     67     — 

er  sein  soll;  deshalb  gab  er  die  Hoffnung  doch  nicht 
auf,  denn  wo  das  Latein  des  Alltagslebens  zu  Ende 
war,  da  konnte  doch  vielleicht  ein  ungewöhnlich  guter 
Gedanke  retten.  Der  Arzt  suchte  den  alten  König 
auf  und  sagte  ihm:  „O  Seleukos,  ich  kenne  das  Leiden 
deines  Sohnes  wohl;  aber  ich  kann  ihm  leider  nicht 
helfen !"  Das  war  für  Seleukos  eine  schlimme  Bot- 
schaft, und  es  läßt  sich  wohl  denken,  daß  ein  so 
gewaltiger  Herrscher  nicht  einfach  ergebungsvoll  das 
tragische  Schicksal,  das  ihm  den  berufenen  Thron- 
folger rauben  sollte,  ertragen  möchte. 

Er  drang  in  den  Arzt,  ihm  doch  das  schleichende 
Leiden  seines  Sohnes  zu  nennen  und  lachte,  als  ihm 
Erasitratos  sagte:  „Dein  Sohn  ist  verliebt."  „Was", 
rief  er  aus,  „das  soll  eine  Krankheit  sein?  Ich  möchte 
das  Weib  sehen,  das  es  wagte,  die  Werbung  eines 
Königssohnes  abzulehnen !"  „Und  doch,  mein  König, 
ist  die  Sache  hoffnungslos,  denn  dein  Sohn  liebt  die 
Gattin  eines  Andern!"  „Nun,"  meinte  der  König,  „so 
mag  ihm  der  Andere  die  Gattin  überlassen;  das  ist 
doch  furchtbar  einfach !  Wer  ist  denn  der  Andere." 
—  Der  Arzt  tat  verlegen  und  meinte  dann  „der  Andere 
bin  ich  selbst!  Dein  Sohn  hat  mir  gestanden,  daß 
er  meine  schönste,  jüngste  Gattin  liebe,  und  daß  er 
sterben   müsse,  wenn   er  sie  nicht  bekomme!" 

Der  König  runzelte  die  Stirn  und  sagte:  „Mein 
Sohn  darf  nicht  sterben,  das  weißt  du,  also  rette  ihn !" 
„O,"  erwiderte  der  Arzt,  „das  würdest  du  selbst  für 
deinen  Sohn  nicht  tun."  Seleukos  aber  fuhr  grimmig 
auf:  „Das  würde  ich  ohne  Bedenken  tun,  ja,  ich 
würde  noch  viel  mehr  tun;  ich  würde  außer  der  Frau 
mein  ganzes  Königreich  hingeben,  wenn  ich  damit  den 

5* 


—     68     — 

Sohn  retten  könnte!"  „Ist  das  ein  Königswort,  das 
du  auf  jeden  Fall  halten  würdest?"  „Wagst  du  es, 
daran  zu  zweifeln?"  „Nun  wohl,  erhabener  Herrscher, 
da  du  denn  zu  solchen  Opfern  mit  Freuden  bereit 
bist,  so  bringe  sie  und  rette  deinen  Sohn,  denn  nicht 
meine  Frau  ist  es,  die  er  liebt,  sondern  deine  jüngste 
Gattin  Stratonike!" 

Es  hätte  vielleicht  einiges  kulturhistorisches 
Interesse  gehabt,  wenn  Erasitratos  nicht  nur  ein  treff- 
licher Arzt  und  Menschenkenner,  sondern  auch  ein 
geübter  Photograph  gewesen  wäre,  der  das  Gesicht, 
das  der  edle  Seleukos  bei  dieser  Eröffnung  zog,  in 
einer  wohlgelungenen  Momentaufnahme  festgehalten 
hätte.  Da  diese  schöne  Kunst  aber  leider  damals 
selbst  die  klügsten  Gelehrten  noch  nicht  verstanden, 
müssen  wir  uns  die  Überraschung  des  großen  Syrer- 
königs schon  selbst  ausmalen  und  uns  mit  der  ge- 
schichtlichen Tatsache  begnügen,  daß  Seleukos  sein 
Wort  wirklich  hielt.  Er  gab  dem  Sohne  seine  schönste 
Gattin  und  trat  ihm  das  halbe  Königreich  ab.  Antiochus 
wurde,  als  er  dies  vernahm,  noch  einmal  purpurrot; 
es  war  diesmal  vor  Freude,  und  da  offenbar  auch 
Stratonike  mit  diesem  Tausche  außerordentlich  zu- 
frieden   war,    wurde    Antiochus   sehr   schnell   gesund. 

Es  läßt  sich  nicht  verkennen,  daß  diese  keusche 
Liebe,  wenn  man  sie  durchaus  so  nennen  will,  etwas 
ungemein  Rührendes  enthält,  das  keineswegs  etwa 
deutsches  Gemüt  verrät,  sondern  gerade  im  Orient, 
wo  das  Gemütsleben  neben  der  starken  Sinnlichkeit 
vorherrscht  und  deshalb  den  Orientalen  so  oft  als 
unberechenbar  erscheinen  läßt,  keineswegs  selten  ist. 
Ich  möchte  fast  sagen,  die  romantische  Zeit  Deutsch- 


—     69     — 

lands,  in  der  die  führenden  Geister  stark  „in  Ge- 
fühl machten",  so  daß  sich  die  Freunde  küßten  wie 
Pensionsfreundinnen  und  ständig  in  einem  Meere  von 
rührseligen  Tränen  schwammen,  freilich  alles  ohne  daß 
man  dabei  auf  den  modern  auffrisierten  Gedanken 
homosexueller  Seelenverwandtschaft  verfallen  wäre,  ist 
viel  eher  dem  Orient  abgelauscht,  als  daß  man  die 
Rührgeschichte  orientalischen  Liebeslebens  auf  deut- 
sches Gemütskonto  zu  setzen  berechtigt  wäre,  denn 
der  Orient  ist  älter  in  seiner  Geschichte,  älter  in  seiner 
Kultur,  die  zum  großen  Teile  schon  versunken  und 
halbvergessen  war,  als  deutsche  Kultur  die  Kinder- 
schuhe anzog.  Man  gefiel  sich  übrigens  auch  in  der 
deutschen  Sturm-  und  Drangperiode  des  überschäu- 
menden Gemütslebens  darin,  die  orientalischen  Liebes- 
lieder und  Liebeslegenden  ins  Deutsche  zu  übertragen, 
wie  die  schon  angedeutete  Legende  von  der  Liebe  der 
Männer  vom  Stamme  der  Asra,  die  durch  Heine  bei 
uns  heimisch  und  dann  auch  musikalisch  ausgebeutet 
wurde.  Die  Asra,  die  übrigens  korrekter  Banu  Udsra 
oder  Banu  Odsra  heißen,  sind  ein  Araberstamm,  der 
in  Südarabien  hauste  und  besonders  durch  seine 
schwärmerischen  Liebesoden  bekannt  ist,  wenn  er  auch 
ganz  bestimmt  ebenso  wenig  wie  die  übrigen  Araber- 
stämme, auf  die  ich  noch  etwas  eingehender  zurück- 
kommen werde,  an  der  Liebe  seiner  männlichen  Mit- 
glieder ausgestorben  ist. 

Der  echt  orientalische  Charakter  der  Seleukos- 
Geschichte  tritt  darin  zu  Tage,  daß  einmal  Seleukos 
noch  im  Alter  von  60  Jahren  seine  Frauen  um  die 
begehrenswertesten  Töchter  anderer  Fürsten  oder  auch 
Nichtfürsten  vermehrt,  daß  er  aber  die  Gattin,  mit  der 


—     70     — 

er  die  Freuden  der  Ehe  genossen  hat,  einfach  dem 
Sohne  überläßt,  und  daß  Stratonike  überhaupt  nicht 
gefragt  wird,  wie  sie  über  diese  sonderbare  Meta- 
morphose ihres  Liebes-  und  Ehelebens  denkt.  Nach 
unseren  Auffassungen  wäre  eine  solche  friedliche  Lö- 
sung des  Konflikts  überhaupt  nicht  möglich  gewesen. 
Don  Carlos,  dessen  Liebesleid  uns  Schiller  in  seiner 
unvergänglichen  Bühnendichtung  schildert,  befand  sich 
ja  in  ähnlicher  Situation  wie  Antiochus;  aber  wie 
wesentlich  weichen  die  Lösungen  beider  Irrungen  und 
Wirrungen  voneinander  ab.  Abendland  und  Morgen- 
land. Daß  man  es  im  Orient  nicht  so  genau  mit  den 
Heiraten  nahm,  wenigstens  nicht,  wenn  ein  Herrscher 
als  Beteiligter  in  Frage  kam,  ist  ja  bekannt;  wir  finden 
dafür  sogar  in  der  Bibel  nicht  wenige  Beispiele,  z.  B. 
in  der  Geschichte  Johannes  des  Täufers,  die  uns  in 
der  „Salome"  möglichst  lebenswahr  auf  die  Opern- 
bühne gebracht  zu  haben,  das  nicht  unangefochtene 
Verdienst  Richard  Strauß'  ist,  in  der  Geschichte  des 
Königs  David  und  noch  an  anderen  Stellen.  Es  ist 
bei  den  Völkern  des  Orients  gar  nicht  so  selten  im 
Altertum  vorgekommen,  daß  ein  Weib  nacheinander  die 
Ehe  mit  dem  Vater  und  dem  Sohne  einging.  Die 
Ehehinderungsgründe,  die  wir  als  etwas  Selbstver- 
ständliches betrachten,  kannte  man  im  orientalischen 
Altertume  zum  großen  Teile  nicht,  und  es  gibt  ja 
auch  heute  noch  orientalische  Völker,  deren  Ansichten 
in  diesem  Punkte  sehr  erheblich  von  den  unsrigen  ab- 
weichen. 

Geschwisterehen  waren  ebenfalls  keineswegs 
selten,  sie  kommen  sogar  in  den  Mythologien  sehr, 
sehr  oft   vor,   und   die   Mythologien   sind   ja   in    der 


—     71     — 

Regel  die  besten  Spiegelbilder  alter  Kulturen  und 
Moralanschauungen,  weil  die  Völker  sich  die  Götter  ge- 
nau so  schufen,  wie  sie  sie  brauchten  und  verstanden. 
Besonders  bei  den  Persern,  Assyrern,  Oalatern  und 
Ägyptern  ist  es  nichts  Ungewöhnliches  gewesen,  daß 
Männer  ihre  Schwestern,  ja  selbst  ihre  Mütter  oder 
Töchter  zur  Gattin  machten;  diese  letztere  Eheart 
wird  beispielsweise  auch  dem  Artaxerxes  nachgesagt. 
Selbst  bei  den  Lacedämoniern,  diedoch  einen  ganzanderen 
Menschenschlag  darstellten  als  die  meisten  Orientalen, 
war  es  Brauch,  daß  ein  Mann  dem  andern  seine  Frau 
borgte,  damit  dieser  für  Nachkommen  sorgte.  Es 
ist  das  offenbar  etwas  ganz  anderes  gewesen  als  die 
Eheh elferschaft  unseres  alten  Bauernrechts.  Diese  war 
nur  dann  erlaubt,  wenn  der  eigene  Mann  impotent 
war;  bei  den  Spartanern  aber  ist  auch  ein  Austausch 
der  Frauen  vorgekommen,  so  daß  also  nicht  wegen 
der  Impotenz  des  einen  Mannes  der  andere  einspringen 
mußte,  sondern  es  hat  wohl  das  alte  Sprichwort 
„Variatio  delectat",  den  Ausschlag  gegeben.  Freilich 
mag  auch  eine  Impotenz  das  Ausleihen  der  Frauen 
begründet  haben.  Vorgekommen  sind  solche  Frauen- 
austausche auch  bei  den  Römern  und  den  Athenern. 
Herr  Dr.  Joh.  Philipp  Pfeiffer  (Antiq.  Graec.  Lib.  4. 
Kap.  3,  Pag.  602)  behauptet,  daß  selbst  Sokrates  sich 
dieser  Sitte  angeschlossen  und  seine  böse  Xanthippe 
ab  und  zu  verborgt  habe.  Sokrates  hat  in  diesem 
Falle  wirklich  als  Weiser  gehandelt,  denn  die  Xanthippe 
läßt  es  viel  eher  begreiflich  erscheinen,  daß  der  gute 
alte  Sokrates  sie  gern  mindestens  zeitweilig  los  sein 
wollte,  als  daß  ein  Anderer  wünschte,  sie  zu  besitzen. 
Herr    Doktor   Pfeiffer  führt   auch   an,   daß   Sokrates 


—     72     — 

zwei  Gattinen  besessen  habe.  Das  trifft  übrigens 
tatsächlich  zu;  aber  der  Wortlaut  der  Pfeifferschen 
Ausführungen  läßt  vermuten,  daß  er  auf  ein  anderes 
Verhältnis  hindeuten  wollte:  offenbar  hat  er  da 
den  alten  griechischen  Brauch  nicht  berücksichtigt, 
nach  dem  die  Gattin  das  Haus  leitete  und  die  Kinder 
zur  Welt  brachte,  während  der  Herr  Gemahl  noch 
außer  dem  Hause  eine  Geliebte  hatte,  die  ihn  geistig 
fördern  sollte.  Geliebte  ist  freilich  nicht  einmal  der 
richtige  Ausdruck,  denn  die  „Freundinnen"  waren  in 
der  Regel  etwas  anderes;  im  schlechten  Sinne  das 
Wort  Geliebte  verstanden,  trifft  es  über  das  Ziel  weit 
hinaus.  Im  alten  Griechenland  nannte  man  diese 
Damen  Hetären.  Das  ist  aber  auch  nur  ein  Aus- 
druck, denn  Hetärie  ist  durchaus  nicht  mit  Prosti- 
tution usw.  äquivalent,  sondern  bedeutet  nichts  als 
einen  Verein,  ein  Freundschaftsbündnis,  und  wenn 
man  in  der  Ethnologie  Hetärismus  für  Gruppenehe 
braucht,  so  ist  das  absolut  nicht  durch  den  eigent- 
lichen Sinn  des  Wortes,  der  nichts  Sexuelles  darstellt, 
gerechtfertigt. 

Hetären  war  wohl  auch  ein  Kunstausdruck,  mit 
dem  man  ein  Verhältnis  beschönigen  wollte,  das  zwar 
an  sich  nicht  als  entehrend  galt,  doch  immerhin  nicht 
gerade  der  Harmlosigkeit  ein  Ehrenzeugnis  ausstellte. 
Die  Hetären  verstanden  es  meisterhaft,  den  lebens- 
lustigen Männern  gründlich  die  Taschen  zu  leeren; 
aber  sie  unterschieden  sich  doch  wesentlich  von  unseren 
heutigen  Prostituierten,  die  diese  Kunst  nicht  selten 
mit  derselben  Virtuosität  betreiben,  die  aber  doch  nie- 
mals das  sein  werden,  was  die  Hetäre  Griechenlands 
war,    deren    Niveau    noch    am    nächsten    dem    einer 


—     73     — 

Maitresse  steht,  wie  sie  an  deutschen  Fürstenhöfen 
„regierten",  nur  mit  dem  Unterschied,  daß  die 
Maitresse,  wenigstens  offiziell,  nur  einem  Manne  ge- 
hörte, während  die  Hetären  viele  „Freunde"  besaßen, 
die  sich  in  die  Ehre  teilten,  für  ihr  Wohlergehen  zu 
sorgen.  Erklärlich  wird  die  Institution  des  Hetären- 
wesens ziemlich  leicht,  wenn  man  erwägt,  welche 
niedrige  Stufe  die  griechische  Frau  in  der  Gesellschaft 
und  Familie  einnahm  und  der  Bildung  wegen  auch  nur 
einnehmen  konnte,  denn  die  Sitte  erlaubte  es  einfach 
nicht,  daß  die  Frau  mehr  hervortrat;  das  ist  übrigens 
echt  orientalisch. 

.Wenn  nun  ein  Weib  die  Sitte  nicht  achtete,  sondern 
sich  geistig  glänzend  ausbildete  und  auch  sonst  über 
alle  den  Frauen  gezogene  Schranken  kühn  hinweg- 
voltigierte, so  war  es  sehr  einfach  und  selbstverständ- 
lich, daß  sie  den  hochgebildeten,  heiteren  und  lebens- 
lustigen Männern  viel  mehr  ein  Magnet  sein  mußte, 
als  daheim  die  Gattin,  die  das  Haus  versorgen  und 
die  Nachkommen  zur  Welt  bringen  mußte,  im  übrigen 
aber  nur  eine  Null  war.  Die  Hetären  konnten  in  der 
Tat  eine  geistige  Anregung  bieten,  die  der  sinnlich 
veranlagte  Mensch,  der  trotzdem  auf  einer  hohen 
Kulturstufe  steht,  unendlich  höher  schätzt  als  der 
Durchschnittsmensch  für  möglich  hält.  Bei  den  Grie- 
chen war  der  Verkehr  mit  den  Hetären  so  wenig 
eine  Schande  oder  auch  nur  bedenklich,  daß  die 
größten  Philosophen  offen  und  frei  sich  solchem  Ver- 
kehr hingaben,  und  es  hat  Hetären  gegeben,  die  heute 
noch  bekannt  sind,  nicht  dadurch,  daß  sie  fürstliche 
Reichtümer  erwarben,  sondern  hauptsächlich  dadurch, 
daß  sie  dauernd  die  geistige  Elite  Griechenlands  in  ihre 


—     74     — 

Netze  zu  fesseln  wußten.  Das  Hetärenwesen  ist  ein 
äußerst  wichtiger  Faktor  im  Liebesleben  des  griechi- 
schen Altertums,  und  des  orientalischen  Altertums! 
überhaupt.  Daß  die  Hetären  nicht  bloß  geistige  An- 
regung gaben,  sondern  daß  sie  nebenbei  auch  noch 
den  sexuellen  Begierden  dienten  und  in  letzter  Be- 
ziehung unsittliche  Dirnen  waren,  das  ergibt  sich  aus 
dem  ganzen  Charakter  der  Orientalen,  die  ja  an  sich 
über  den  sexuellen  Verkehr  ganz  andere  und  viel 
urwüchsigere,  wenn  man  will,  auch  viel  natürlichere 
Ansichten   hegten. 

So  wurde  bei  vielen  Völkern  des  Altertums, 
namentlich  im  Orient  gar  nichts  darin  gefunden,  wenn 
die  Mädchen  sexuellen  Verkehr  suchten.  Tiraquell 
berichtet,  daß  es  bei  den  Illyriern,  den  Phöniziern, 
Thebanern  und  Syrakusanern  usw.  durchaus  üblich  ge- 
wesen sei,  Frauen  und  Töchter  den  sexuellen  Verkehr 
mit  anderen  Männern  nach  Herzenslust  pflegen  zu 
lassen.  War  das  aber  allgemeine  Sitte,  dann  kann 
natürlich  ein  solcher  Verkehr  auch  im  Einzelfalle  die 
Ehre  nicht  geschädigt  haben,  denn  als  entehrend  und 
schändend  kann  doch  immer  nur  das  gelten,  was  nicht 
erlaubt  ist  und  deshalb,  wenn  auch  nicht  gesetzlich, 
so  doch  wenigstens  moralisch  verboten  ist.  Wie  es 
scheint,  folgten  aber  nicht  überall  die  Weiber  nur 
ihren  sinnlichen  Begierden,  wenn  sie  einen  Verkehr 
suchten,  der  nach  heutigen  und  überhaupt  späteren 
Anschauungen  als  unsittlich  galt,  sondern  sie  gaben 
sich  diesem  Vergnügen  aus  kluger  Berechnung  hin, 
um   so  viel   wie   möglich  Geld   zu  gewinnen. 

Besonders  stand  die  Insel  Cypern  in  dem  Rufe, 
daß  dort  die  Jungfrauen  um  Geld  stets  zu  haben  seien, 


—     75     — 

daß  diese  sogar  eifrigst  jede  Gelegenheit  suchten,  durch 
die  Gestattung  des  sexuellen  Verkehrs  Geld  zu  er- 
werben. Es  soll  geradezu  Sitte  dort  gewesen  sein,  daß 
die  Jungfrauen  „so  zum  heyrathen  tüchtig,  sich  an 
das  Ufer  des  Meeres  verfüget  und  denen  anlandenden 
Fremden  ihre  Jungferschaft  verkaufft,  und  so  lange 
Handel  und  Gewerbe  getrieben,  biss  sie  ein  gut  stück 
Geld  zur  Morgen-Gabe  verdienet  hatten.  (Justinus 
lib.  18,  Kap.  5.)  Daher  das  Land  der  Heydnischen 
Hurerey  Göttin  Venen  gewidmet  gewesen,  welche 
auch  desswegen  Dea  Cypria  oder  potens  Cypri  ge- 
nennet worden.  (Horat.  lib.  1,  ad.  3.)  Solches  ist 
bei  den  Scytikis  und  Corsis  gleichfalls  üblich  ge- 
wesen.   (Tiraq.)" 

Es  ist  dies  eigentlich  ein  Bild,  das  auf  große 
Einfalt  der  Sitten  schließen  läßt.  Man  nahm  damals 
das  Natürliche  natürlich  und  wußte  das  Angenehme 
mit  dem  Nützlichen  zu  verbinden.  Da  nun  in  jenen 
Gegenden  ein  schwunghafter  Handel  getrieben  wurde, 
der  reiche  Kaufleute  in  Massen  herbeiführte,  da  aber 
andrerseits  diese  Kaufleute  immer  geneigt  waren,  die 
Gelegenheit  zu  einem  interessanten  Liebesabenteur  zu 
benutzen,  ist  es  fast  selbstverständlich,  daß  die  Jung- 
frauen keine  törichten  Jungfrauen  waren,  weil  sie  ganz 
sicher  stets  auf  ihre  Rechnung  gekommen  sind.  Wenn 
nun  auch  die  „anlandenden  Fremden"  sicher  eine 
reiche  Anzahl  von  Mädchen  vorgefunden  haben,  so 
daß  sie  nicht  in  Verlegenheit  zu  kommen  brauchten, 
wenn  sie  außer  einem  guten  Handelsgeschäft  ein  noch 
besseres  Liebesabenteuer  suchten,  so  werden  doch  die 
liebenden  Weiber  wohl  auf  Preise  gehalten  haben, 
einmal  wollten  sie  ja  für  ihre  zukünftige  Ehe  eine  mög- 


—     76     — 

liehst  große  Morgengabe  haben  —  hier  ist  der  Be- 
griff der  Morgengabe  offenbar  satirisch  angewendet 
worden  — ,  und  zweitens  wußten  sie  recht  gut,  daß 
die  Fremden  in  hohem  Grade  zahlungsfähig  waren, 
diese  besonders  gute  Eigenschaft  der  Abenteur  Suchen- 
den werden  sie  sich  wohl  zu  nutze  gemacht  haben. 
Die  zukünftigen  Ehemänner  dieser  geschäftsgewandten 
jungen  Damen  müssen  allerdings  an  die  Tugend  und 
Reinheit  ihrer  Gattinnen  keine  besonders  großen  An- 
forderungen gestellt  haben,  denn  sie  wußten  doch 
ganz  genau,  auf  welchem  mehr  praktischem  als  sitt- 
lichem Wege  ihre  Holden  die  Reichtümer  erworben 
hatten;  vielleicht  hat  ein  Bräutigam  auch  die  Ehe 
möglichst  lange  hinausgeschoben,  damit  der  Schorn- 
stein des  eigenen  Haushalts  desto  besser  rauchen 
konnte,  wenn  der  schnöde  Mammon  in  reichlicher 
Fülle  vorhanden  war.  Geld  riecht  nicht.  Im  übrigen 
beweist  diese  Mitteilung  nichts,  als  daß  das  Weib 
keine  dominierende  Stellung  einnahm,  es  war  gesucht 
und  begehrt  als  Mittel  zum  Zweck,  nicht  aber  als 
gleichberechtigte  Persönlichkeit. 

Auch  da,  wo  das  Weib  den  Gatten  wählte,  statt 
von  ihm  gewählt  zu  werden,  ist  die  Stellung  der 
Frau  kaum  eine  bessere  gewesen.  Daß  solche  „Damen- 
wahlen" in  verschiedenen  Gegenden  Sitte  waren,  be- 
richtet Athenäus:  „Bey  den  Messiliensern  freieten  die 
Jungfern  um  die  jungen  Gesellen,  und  wenn  deren 
mehr  waren,  so  auch  affection  zu  ihnen  hatten,  reichten 
sie  nach  dem  Essen  denenjenigen,  so  ihnen  am  besten 
gefiehl,  eine  Schale  voll  Wasser,  und  dem  dieses  wider- 
fuhr, war  hernach  der  rechte  Bräutigam."  Es  ist 
nicht  nachzuprüfen,  ob  diese  Wahl,  wenn   die  Sache 


—     77     — 

wirklich  so  gehandhabt  wurde,  immer  zur  Ehe  ge- 
führt hat;  man  wird  das  aber  wohl  kaum  annehmen 
dürfen,  denn  dazu  wäre  die  Männerwelt  wohl  schwer- 
lich zu  bewegen  gewesen,  weil  ja  sonst  jeder  ohne 
Widerspruch  gezwungen  gewesen  wäre,  die  zu  hei- 
raten, die  ihm  das  Wasser  reichte.  Ob  nicht  auch 
das  Sprichwort  „es  kann  mir  jemand  nicht  das  Wasser 
reichen",  auf  diese  alte  Sitte  zurückgeführt  werden 
darf?  Man  nimmt  meist  allerdings  einen  anderen  Ur- 
sprung dieser  Redensart  an. 

Die  Bräuche,  durch  die  der  Ehestand  geschlossen 
oder  doch  dessen  Schließung  wenigstens  angebahnt 
wurde,  sind  allerdings  recht  verschieden  und  teil- 
weise außerordentlich  absurde  gewesen.  Da,  wo  die 
Vielweiberei  herrschte,  wie  fast  überall  im  Orient,  ist 
es  den  Männern  in  der  Regel  nicht  so  wichtig  gewesen, 
welche  Holde  sie  als  Gattin  heimführen  konnten,  denn 
einmal  waren  die  Männer  in  der  angenehmen  Lage, 
ein  Weib,  das  ihnen  nicht  gefiel,  recht  schnell  wieder 
los  zu  werden,  und  ferner  konnten  sie  auch  stets  eine 
neue  Gefährtin,  für  die  sie  mehr  empfanden,  zu  den 
übrigen  hinzunehmen.  Die  Stelle  über  die  Massilienser 
betont  ja  nun  freilich,  daß  die  Töchter  des  Landes 
unter  den  jungen  Gesellen  die  Wahl  durch  die  Über- 
reichung der  Schale  Wasser  getroffen  hätten.  Unter 
jungen  Gesellen  ist  dabei  ein  lediger  Mann  zu  ver- 
stehen, den  wir  ja  auch  bei  uns  noch  in  der  Regel 
als  einen  Junggesellen  bezeichnen;  aber  man  darf 
derartige  unkontrollierbare  Geschichten  schließlich  nicht 
allzu  genau  nach  dem  Buchstaben  nehmen.  Gemeint 
sind  nicht  etwa  die  Massilienser,  die  im  4.  Jahrhundert 
eine  Sekte   in   Syrien   bildeten,   wohl   auch   Eucheten, 


—     78     — 

Euphemiten,  Coelicolae  hießen  und  halb  Heiden,  halb 
Christen  waren,  sondern  die  Semipelagianer,  die  nach 
ihrer  Hauptstadt  Massilia  benannt  wurden.  Diese 
Semipelagianer  waren  ebenfalls  eine  Sekte,  die  425 
n.  Chr.  gegründet  wurde  und  lehrte,  daß  eine  mensch- 
liche Freiheit  bestehe,  die  zwar  durch  die  Sünde  der 
ersten  Menschen  geschwächt  aber  nicht  aufgehoben 
sei.  Diese  Sektirer  gaben  sich  alle  Mühe,  durch  be- 
sondere Bräuche  sich  von  anderen  Leuten  zu  unter- 
scheiden. Es  ist  deshalb  die  Möglichkeit,  daß  sie  es 
den  Weibern  gestatteten,  den  zukünftigen  Gatten  zu 
wählen,  keineswegs  ausgeschlossen,  obwohl  für  das 
orientalische  Liebesleben  diese  Sekte,  wie  überhaupt 
alle  christlichen  Orientalen  nicht  viel  beweisen,  weil 
sie  stets  nur  Ausnahmen  von  dem,  was  ganz  allge- 
meiner Brauch  war,  gelten  ließen.  Ich  habe  gleich- 
wohl geglaubt,  auch  diese  Mitteilung  aus  alter  Zeit 
nicht  unerwähnt  lassen  zu  dürfen,  mag  sie  selbst  für 
das  orientalische  Leben  des  Altertums  wenig  oder  nichts 
beweisen. 

Es  hat  aber  auch  bei  anderen  Völkern  offenbar 
höchst  eigenartige  Bräuche  gegeben,  durch  die  man 
versuchte,  alle  Mädchen  an  den  Mann  zu  bringen 
und  auch  den  Männern  eine  Frau  zu  verschaffen.  So 
lese  ich  bei  einem  alten  Schriftsteller,  der  aus  dritter 
Hand  geschöpft  hat  und  den  Born  seiner  Weisheit 
in  Plutarchos  nachweist,  das  Folgende:  „Es  ist  auch 
eine  Arth  Leuthe,  Dapsolyber  genennet,  gefunden 
worden,  bey  welchen  diese  Närrische  Gewohnheit 
gewesen,  daß  zu  einer  gewissen  Zeit  des  Jahres  sich 
diejenigen  Personen,  so  heyrathen  wollen  an  einen 
finstern    Orth    versamelen    müssen,    und    zwar     die 


—     79    — 

jungen  Gesellen  besonders,  die  Weiber  und  Jung- 
frauen auch  besonders.  Wenn  sie  nun  alle  beysammen 
gewesen,  hat  man  die  Lichter  ausgeleschet,  und  beyde 
Hauffen  zusammen  belassen,  da  nun  Männer  und 
Weiber  also  durcheinander  gelauffen,  hat  ein  jeder 
eins  erwischt,  und  was  einer  in  demselben  Gemenge 
vor  eine  erhaschet,  sie  sey  schön  oder  heßlich,  jung 
oder  alt,  gut  oder  böse  gewesen,  hat  er  auch  müssen 
behalten,  und  also  sind  die  heßlichen  in  der  Summa 
mit  verthan   worden." 

Die  Ehe  ist  zwar  sonst  auch  ein  Lotteriespiel,  bei 
dem  jeder  in  der  Regel  behalten  muß,  was  er  er- 
haschet; aber  bei  den  Dapsolybern  ist  die  Sache  doch 
noch  erheblich  anders  gewesen.  Ich  muß  allerdings 
bekennen,  daß  ich  über  die  Dapsolyber  außerordent- 
lich wenig  unterrichtet  bin.  Es  ist  deshalb  auch  nicht 
zu  bestimmen,  ob  das,  was  von  diesen  Leuten  als 
eine  „Närrische  Gewohnheit"  gesagt  wird,  wirklich 
korrekt  und  wahrheitsgemäß  geschildert  wird,  denn 
erstens  sind  an  und  für  sich  bei  der  Kritik  fremder 
Bräuche  den  Irrtümern  und  Mißverständnissen  Tür  und 
Tor  geöffnet,  und  zweitens  kann  man  da,  wo  erwiesen 
Übersetzungen  aus  fremden  Quellen  vorliegen,  meist 
annehmen,  daß  auch  bei  der  Übersetzung  noch  Einzel- 
heiten so  unrichtig  übertragen  werden,  daß  zu  den 
alten  Fehlern  neue  hinzukommen.  Ist  doch  selbst  die 
Bibel  durch  verschiedene  Übersetzungsfehler  zum  Teile 
in  ihrem  Inhalt  wesentlich  verändert  worden,  einmal 
weil  für  die  morgenländischen  Worte  den  abendländi- 
schen Übersetzungen  zum  Teil  die  richtigen  Begriffe 
fehlten,  und  schließlich  auch  noch,  weil  derartige  Fehler 
bei  Übersetzungen  an  sich  fast  natürlich  sind.   Nimmt 


—     80     — 

man  aber  an,  daß  alles,  was  über  die  Dapsolyber 
gesagt  ist,  völlig  stimmt,  und  „in  dubio  pro  reo", 
so  besagt  die  Stelle,  daß  die  Dapsolyber  jedenfalls 
in  Polygamie  gelebt  haben.  Es  ist  da  zwischen  Männern 
und  jungen  Gesellen,  und  zwischen  Weibern  und 
Jungfrauen  ausdrücklich  unterschieden  worden,  d.  h. 
es  haben  Verheiratete  und  Ledige  sich  an  der  „Närri- 
schen Gewohnheit"  beteiligt.  Nach  Lage  der  Sache 
ist  es  natürlich  völlig  ausgeschlossen  gewesen,  daß 
eine  einzige  der  beteiligten  Personen  auch  nur  den 
leisesten.  Anhalt  dafür  hatte,  ob  er  eine  ledige  oder 
verheiratete  Person  erhaschte,  denn  es  ist  ja  sogar 
gesagt,  ob  jung  oder  alt,  sei  nicht  vorher  festzustellen 
gewesen,  ehe  das  Licht  wieder  angezündet  wurde; 
da  ist  es  also  selbstverständlich  auch  vorgekommen, 
daß  ein  Ehemann  eine  Jungfrau,  oder  ein  Junggeselle 
eine  Frau  erhaschte.  Was  im  letztern  Falle?  Daß 
der  Verheiratete  sich  noch  eine  weitere  Frau  nahm, 
das  ist  bei  der  Vielweiberei  durchaus  nicht  auffällig, 
sondern  selbstverständlich,  weil  es  eben  sonst  keine 
Vielweiberei  gegeben  hätte.  Der  Verheiratete,  der 
an  der  Ehelotterie  teilnahm,  ging  einfach  darauf  aus, 
seinen  Haremsstand  um  eine  weitere  Frau  zu  ver- 
größern. Sehr  schwierig  ist  aber  die  zweite  Eventualität 
nämlich  die,  daß  die  verheiratete  Frau,  von  einem  neuen 
Manne  erhascht  wurde.  Hier  kommt  man  mit  der 
Vielweiberei  deshalb  nicht  mehr  aus,  und  man  müßte 
schon  Gruppenehen  annehmen,  wie  sie  ja  das  orien- 
talische Altertum  tatsächlich  gekannt  hat,  d.  h.  ein 
Mann  konnte  mehrere  Frauen  haben,  da  aber  auch 
die  Frauen  mehrere  Männer  nehmen  konnten,  mußte 
der  Mann  seine  Frauen  wieder  mit  anderen  Männern 


—    81     — 

teilen.  Ich  halte  diese  Erklärung  jedoch  keineswegs 
für  zutreffend,  denn  für  solche  Gemeinschaftsehen  hätte 
man  wahrlich  der  sonderbaren  Ehelotterie  nicht  be- 
durft, und  der  Schluß  des  Berichts,  daß  auf  diese 
Weise  die  Häßlichen  in  der  Summa  mit  vertan  worden 
seien,  würde  absolut  nicht  zu  der  Geschichte  gepaßt 
haben;  er  scheint  überhaupt  nichts  weiter  zu  sein 
als  ein  witziger  Zusatz  des  Autors,  der  sicherlich  selbst 
nicht  recht  gewußt  hat,  was  er  mit  der  Sache  eigentlich 
anfangen  sollte. 

Es  gibt  aber  eine  andere  Erklärung  für  die  selt- 
same Zusammengebung  der  Paare,  nämlich  die,  daß 
es  sich  überhaupt  nicht  um  Eheschließungen  ge- 
handelt habe,  sondern  daß  eine  gleiche  Anzahl  von 
Männern  und  Weibern  sich  lediglich  zu  dem  Zwecke 
in  den  geheimnisvollen  Zusammenkunftsraum  begeben 
haben,  um  einmal  einen  Begattungsakt  zu  vollziehen, 
wobei  es  dann  allerdings  nicht  so  wesentlich  war, 
welche  Personen  sich  zu  diesem  einmaligen  Zwecke 
erhaschten.  Daß  dabei  auch  die  Häßlichen  einmal  auf 
ihre  Rechnung  kamen,  liegt  in  der  Natur  der  Sache, 
und  jedenfalls  ist  das  Arrangement  das  gewesen,  daß 
nicht  nur  das  Erhaschen,  sondern  auch  die  ganze 
Orgie  sich  in  dem  dunklen  Räume  abspielte.  Daß 
dabei  jeder  die  behalten  mußte,  die  er  erhaschte,  ist 
selbstverständlich,  wenn  man  dabei  das  Behalten  nicht 
über  die  Orgie  hinaus  ausdehnen  will,  und  dazu  liegt 
doch  absolut  kein  zwingender  Grund  vor.  Es  ist 
nicht  einmal  gesagt,  ob  die  einzelne  Person  über- 
haupt erfuhr,  mit  wem  sie  die  Freuden  der  Liebe 
genossen  hatte,  denn  es  kam  doch  lediglich  darauf 
an,   daß   sie  Jeder  und   Jede   genoß,   die   zu   diesem 

6 


—    82    — 

Zwecke  sich  eingefunden  hatten.  Daß  auf  solche  Weise 
auch  die  Häßlichen  ebenso  versorgt  wurden  wie  die 
Schönen,  das  war  ein  Gedanke,  der  auch  bei  dieser 
Erklärung  nur  als  geistreich  und  gut  bezeichnet  werden 
kann.  Vielleicht  war  es  beabsichtigt,  auch  dem  Schön- 
heitsideal Rechnung  zu  tragen  und  es  der  Phantasie 
der  einzelnen  Person  zu  überlassen,  ob  sie  sich  vor- 
gaukeln wollte,  daß  sie  mit  einem  bildschönen  Partner 
zu  tun  gehabt  habe. 

Vielleicht  klingt  die  Erklärung  des  seltsamen 
Brauches,  die  ich  mir  hier  scheinbar  aus  den  Fingern 
gesogen  habe,  doch  allzu  kühn  und  willkürlich,  als 
daß  sie  hätte  in  einem  ernsten  Buche  niedergeschrieben 
werden  dürfen.  Ich  habe  aber  keineswegs  meine 
Phantasie  allzu  lebhaft  spielen  lassen,  sondern  sehr 
eingehend  geprüft,  ob  ähnliche  Dinge  wie  die  von 
mir  geschilderten  nicht  auch  anderwärts  vorgekommen 
sind,  nämlich  bei  anderen  Völkern  des  orientalischen 
Altertums.  Ich  brauche  da  faktisch  keine  Trugschlüsse 
gelten  zu  lassen,  denn  es  sind  die  unglaublichsten 
Dinge  in  der  Tat  erwiesen.  Es  ist  dabei  noch  nicht 
einmal  die  zarte  Rücksicht  geübt  worden,  den  Raum 
zu  verdunkeln;  man  ist  allerdings  andererseits  auch 
nicht  so  berechnend  gewesen,  die  Häßlichen  gewissen- 
haft zu  versorgen,  sondern  folgte  stets  nur  der  augen- 
blicklichen Lüsternheit,  hielt  es  dagegen  aber  auch  für 
angemessen,  natürliche  Dinge  frei  und  offen  zu  treiben. 

Im  übelsten  Rufe,  wenn  man  so  sagen  darf,  standen 
wohl  die  Mastageten  oder  Massageten.  Dieses  Volk 
lebte  in  der  Gegend  des  Kaspischen  Meeres  bis  zum 
Aralsee  und  führte  in  den  Steppen  ein  Nomadenleben. 


—     83    — 

Diese  Nomaden  waren  aber  keineswegs  etwa  harm- 
lose Hirten,  sondern  gefürchtete  rohe  Krieger,  die  für 
unbesiegbar  galten  und  jedenfalls  auch  unbesiegbar 
waren,  da  sie  530  v.  Chr.  selbst  das  gewaltige  Heer 
des  sieggewohnten  Cyrus  vernichteten.  Cyrus  selbst 
soll  nach  alten  Überlieferungen  bei  den  Massageten 
umgekommen  sein.  Dieses  rohe  und  gewaltige  Volk 
wurde  von  einer  Königin  Tomyris  beherrscht,  und  es 
ist  fast  wunderbar,  daß  solche  rauhe  Männer,  die  sicher- 
lich keine  Feministen  waren,  sondern  im  Gegenteil 
das  Weib  sehr  gering,  lediglich  als  Werkzeug  für  ihre 
Gelüste  und  die  „Erhaltung  der  Art"  betrachteten, 
sich  von  einem  Weibe  beherrschen  ließen.  Die  Massa- 
geten waren,  wie  viele  Orientalen,  Sonnenanbeter;  die 
Sonne  war  ihre  höchste  Gottheit,  vor  der  sich  auch 
diese  wilden  Horden  in  Furcht  und  Demut  beugten 
und  durch  Opfer  Gnade  und  Gunst  zu  erlangen  suchten. 
Sie  opferten  Pferde,  die  ihnen  selbst  als  sehr  wertvoll 
galten,  und  können  wohl  als  eine  Type  für  die  Be- 
hauptung angeführt  werden,  daß  auch  das  roheste 
Volk  auf  religiöses  Empfinden  nicht  verzichten  kann. 
Nur  der  starke  Krieger  galt  im  übrigen  etwas  bei 
diesem  Volke;  das  Weib,  das  nicht  kämpfen  konnte, 
war  naturgemäß  nur  ein  Geschöpf  zweiten  Ranges, 
und  es  wird  berichtet,  daß  die  Weiber  selbst  diese 
Ansicht  geteilt  und  sich  deshalb  nicht  selten  ent- 
schlossen hätten,  es  den  Männern  im  Kampfe  gleich 
zu  tun.  Vielleicht  ließe  sich  hieraus  die  Erklärung 
dafür  finden,  daß  die  Massageten  von  einer  Königin  be- 
herrscht wurde.  Greise  duldete  man  nicht.  Sie  nützten 
nichts  im  Kriege  und  halfen  nur  die  Nahrung  ver- 
mindern.   Deshalb  war  es   Brauch,  sie  zu  schlachten 


—     84     — 

und  zu  verzehren.  So  konnten  sie  wenigstens  noch 
durch  ihren  Tod  dem  Stamme  nützen. 

Das  Abscheulichste  war  aber  das  Liebesleben 
des  arg  verrohten  Volkes.  Eine  Ehe,  die  diesen  Namen 
auch  nur  einigermaßen  verdient  hätte,  gab  es  nicht; 
es  herrschte  vielmehr  die  unbedingteste  Geschlechts- 
gemeinschaft. Wo  ein  Mann  ein  Weib  traf,  das  ihn 
gerade  reizte,  da  legte  er  die  schweren  Waffen  nieder 
und  vereinigte  sich  mit  der  Holden  auf  offener  Straße. 
Ob  dieser  Akt  sich  vor  einer  Anzahl  von  Zuschauern 
vollzog,  das  galt  völlig  gleich;  es  war  eine  durchaus 
natürliche  Sache,  und  niemand  war  der  Ansicht,  daß 
er  etwas  so  Selbstverständliches  vor  den  Augen  der 
Andern  verbergen  müsse.  Das  war  ein  Gedanke,  den 
ja  auch  einige  griechische  Philosophen  auf  Grund  reif- 
lichen Nachdenkens  gefaßt  hatten.  Man  nannte  diese 
Philosophengruppe  deshalb  die  Cyniker,  ein  Wort,  das 
von  dem  griechischen  Namen  des  Hundes  =  Küon 
gebildet  wurde  und  besagen  sollte,  daß  die  Gelehrten 
lebten  wie  die  verachteten  Hunde,  die  ja  auch  für 
unrein  galten,  weil  sie  auf  offener  Straße  ihren  sexuellen 
Gefühlen  freien  Lauf  ließen.  Bei  den  Massageten  war 
aber  die  Philosophie  keineswegs  entwickelt;  man  gab 
sich  nicht  die  Mühe,  über  philosophische  Ideen  oder 
sonstige  philosophische  Probleme  nachzudenken,  son- 
dern handelte  aus  natürlicher  Roheit.  Das  ist  aber  schließ- 
lich ebensogut  eine  Entschuldigung  wie  ein  Vorwurf, 
jedenfalls  dann  eine  Entschuldigung,  die  jene  Leute 
keineswegs   sympathisch    erscheinen    läßt. 

Sicherlich  ist  ein  gewaltiger  Unterschied  zwischen 
den  Dapsolybern  und  den  Massageten,  aber  der  Zu- 
sammenhang   ist    doch    im    Punkte    des    Liebeslebens 


—    85    — 

unverkennbar  da,  daß  offenbar  bei  beiden  eine  Ge- 
schlechtsgemeinschaft bestanden  hat,  die  bei  den  Massa- 
geten  dauernd  als  Normalzustand  herrschte,  während 
sie  bei  den  Dapsolybern,  falls  ich  den  oben  zitierten 
literarischen  Erguß  richtig  interpretiert  habe,  aber 
nur  periodisch  auftrat.  Ich  will  es  auch  hier  völlig 
dahingestellt  lassen,  was  vom  Standpunkte  der  Moral 
als  das  Schlimmere  zu  gelten  hat,  denn  in  der  Tat 
kann  man  wohl  sagen,  daß  ein  Volk,  das  eine  rechte 
Ehe  kennt,  schlimmer  handelt,  wenn  es  diese  gelegent- 
lich verletzt,  als  ein  Volk,  das  überhaupt  keine  andere 
Geschlechtsgemeinschaft  kennt  als  die  unbedingteste 
Gemeinschaftsehe,  sofern  man  dabei  das  Wort  Ehe  nun 
einmal   anwenden  will. 

Auch  die  Garamantes,  ein  großes  Volk,  das  in 
Lybien  hauste,  standen  nicht  viel  höher  als  das  Volk 
der  Massageten,  dafür  scheinen  sie  aber  auf  einer  noch 
etwas  tieferen  Kulturstufe  gestanden  zu  haben.  Herodot 
berichtet,  daß  diese  Menschen,  die  im  Lande  „Pha- 
zania"  lebten,  halb  oder  selbst  ganz  Wilde  gewesen 
seien.  Nicht  einmal  bis  zu  wirklichen  und  menschen- 
würdigen Wohnräumen  hätten  sie  es  gebracht,  sondern 
sie  bewohnten  Höhlen  und  ähnliche  Schlupfwinkel  und 
lebten  ähnlich  wie  die  Tiere.  Die  Kleidung  dieser 
Leute  sei  liederlich  und  schäbig  gewesen  und  über- 
haupt kaum  als  eine  wirkliche  Kleidung  anzusehen. 
Es  läßt  sich  schon  nach  dieser  Schilderung  nicht  an- 
nehmen, daß  die  Eheverhältnisse  und  das  Liebes- 
leben der  Garamanten  besonders  hoch  entwickelt  ge- 
wesen seien,  denn  je  höher  die  Kultur,  desto  idealer 
pflegt  auch  das  Liebesleben  zu  sein.  Nach  Tiraquell 
gab   es   bei   den   Garamanten   nur   eine  Gruppenehe, 


—     86     — 

d.  h.  Männer  und  Weiber  lebten  untereinander  in  Ge- 
meinschaft. Ich  kann  allerdings  nicht  sagen,  ob  die 
intimeren  Liebesakte  sich  ebenso  öffentlich  abgespielt 
haben  wie  bei  den  Massageten;  vielleicht  ist  es  in 
dieser  Beziehung  etwas  manierlicher  zugegangen,  weil 
die  Garamanten  weniger  roh  und  weniger  verwildert 
waren;  aber  da  die  allgemeinste  Geschlechtsgemein- 
schaft bestand,  wird  es  ja  wohl  auch  etwas  anders 
zugegangen  sein  als  da,  wo  Europas  übertünchte  Höf- 
lichkeit sich  darüber  streitet,  ob  das,  was  scham- 
verletzend sei,  ohne  unzüchtig  zu  sein,  doch  in  Schrift 
und  Bild  von  der  Öffentlichkeit  streng  entfernt  werden 
müsse.  Ich  meine,  die  Garamantes  werden  sich  nicht 
die  Köpfe  darüber  zerbrochen  haben,  ob  das,  was 
sie  in  ihrem  Liebesleben  mehr  oder  weniger  öffent- 
lich taten,  unzüchtig  oder  schamverletzend  sei,  sondern 
sie  haben  über  alle  diese  Dinge  mit  der  Naivetät  ein- 
facher Naturmenschen  höchst  wahrscheinlich  —  gar 
nicht   nachgedacht. 

Tiraquell  hebt  noch  ein  Moment  hervor,  daß  mir 
nicht  unwesentlich  erscheint;  nämlich  die  Familien- 
angehörigkeit  der  einzelnen  Personen.  Es  ist  zwar  eigent- 
lich einleuchtend,  daß  bei  einer  absoluten  Geschlechts- 
gemeinschaft von  einer  Familie  nicht  die  Rede  sein 
kann,  weil  die  Familienbildung  schon  die  allgemeine 
Geschlechtsgemeinschaft  ausschließt;  aber  es  soll  auch 
bei  den  Garamantes  und  bei  anderen  Völkern  des 
orientalischen  Altertums,  auf  die  ich  noch  etwas  weiter 
eingehen  will,  doch  eine  Art  Vaterrecht  gegeben  haben. 
Zunächst  konnte  natürlich,  wenn  ein  Weib  in  die  Lage 
kam,  die  Zahl  der  Stammesmitglieder  zu  vermehren, 
kein  Mensch  wissen,  welchem  von  den  Männern  des 


—    87    — 

ganzen  Stammes  die  Ehre  der  Vaterschaft  zuzubilligen 
sei.  Man  habe,  so  behauptet  Tiraquell,  die  Kinder  bis 
zu  deren  5  Jahre  auf  gemeinsame  Kosten  erzogen 
und  sie  einfach  als  Angehörige  des  Stammes  betrachtet. 
Dann  aber  habe  man  Umschau  gehalten,  ob  so  ein 
Kind  etwa  einem  einzelnen  Manne  besonders  ähnele. 
Sei  eine  solche  auffallende  Ähnlichkeit  festgestellt 
worden,  dann  habe  der  Mann,  der  auf  diese  einfache 
Methode  als  der  Vater  ermittelt  worden  sei,  sich  des 
Kindes  angenommen  und  es  völlig  groß  gezogen.  Es 
ist  möglich,  daß  an  dieser  Behauptung  etwas  Wahres 
ist,  denn  eigentlich  ist  die  Methode  garnicht  so  übel. 
Würde  man  sie  überall  anwenden,  um  den  Vater  zu 
finden,  wo  er  sich  aus  bestimmten  Gründen  nicht 
gern  finden  läßt,  weil  die  Sache  zuweilen  doch  mit 
nicht  gerade  erwünschten  Kosten  verknüpft  ist,  so 
würde  sich  vielleicht  bei  uns  jeder  Junggeselle,  der 
moralisch  nicht  völlig  mit  dem  Joseph  übereinstimmt, 
den  die  Geschichte  den  Keuschen  nennt,  möglichst 
bemühen,  sein  Exterieur  immer  und  immer  wieder  zu 
verändern,  und  trotzdem  wäre  unseren  Gerichten  noch 
die  größte  Gefahr  bereitet,  Fehlsprüche  abzugeben 
und  Männer  zu  Alimenten  zu  verurteilen,  die  nichts 
weiter  verbrochen  hätten,  als  daß  sie  nach  der  Ansicht 
irgend  eines  Sachverständigen  eine  gewisse  Ähnlich- 
keit mit  einem  unehelichen  Kinde  aufzuweisen  hätten. 
Das  würde  vielleicht  noch  schlimmer  sein  als  die  Ge- 
schichte mit  den  Schreibsachverständigen,  die  doch 
schon  so  unendlich  oft  ihrer  unrichtigen  Gutachten 
überführt  worden  sind,  und  gleichwohl  kommt  es 
immer  wieder  vor,  daß  Gerichte  auf  solch  ein  Gut- 
achten hin  die  Verurteilung  selbst  unbescholtener  Per- 


—     88    — 

sonen  aussprechen.  Da  hatte  Napoleon  einen  bessern 
Blick,  als  er  das  Suchen  nach  dem  unehelichen  Vater 
ein  für  allemal  gesetzlich  untersagte.  Na,  das  ist  ja 
nun  aber  schließlich  Sache  der  Garamanten  gewesen. 
Ich  will  hier  noch  ein  Volk  beleuchten,  dessen 
Herodot  (lib.  4,  §  123)  Erwähnung  tut;  das  Volk 
der  Giodaner.  Diese  Völkerschaft  lebte  in  Lybien  und 
hat  wohl  mit  den  bisher  besprochenen  Völkern  das 
übereinstimmend  gehabt,  daß  Kultur  und  Moral  eben- 
falls auf  einer  sehr  niedrigen  Stufe  standen.  Die 
Weiber,  die  in  keiner  besonderen  Ehe  lebten,  sondern 
für  alle  Männer  gemeinschaftlich  da  waren,  wie  auch 
jedes  Weib  wieder  Anspruch  an  alle  Männer  hatte, 
wurden  von  den  Männern  auserwählt,  und  hielten  es 
für  eine  große  und  besondere  Ehre,  möglichst  vielen 
Männern  so  gut  zu  gefallen,  daß  diese  der  Liebe 
letzte  und  liebste  Gunst  begehrten.  Da  dieses  Viel- 
verlangtwerden  aber  nun  einmal  die  höchste  Ehre 
war,  die  einem  Weibe  widerfahren  konnte,  war  man 
bemüht,  diese  Ehre  auch  nach  Möglichkeit  zur  Schau 
zu  tragen,  und  man  verfiel  auf  eine  eigenartige  Idee. 
Die  Weiber  trugen  zottige  Röcke,  die  wohl  aus  Pelz- 
werk gefertigt  gewesen  zu  sein  scheinen.  Wenn  ein 
Mann  nun  eines  Weibes  begehrte,  machte  er  ihr 
einen  deutlich  sichtbaren  Knoten  in  den  Rock,  d.  h., 
es  wird  wohl  in  das  Pelzwerk  ein  Knoten  geschürzt 
worden  sein,  da  der  Rock  selbst  zu  diesem  Zwecke 
sich  wohl  sehr  wenig  geeignet  haben  dürfte.  An  der 
Zahl  der  Knoten  ließ  sich  nun  erkennen,  welcher 
Anzahl  von  Männern  die  betreffende  Frau  den  Liebes- 
dienst erwiesen  hatte.  Ich  bin  allerdings  nicht  darüber 
unterrichtet,  ob  jeder  Mann  nur  einen  Knoten  machen 


—     89     — 

durfte,  oder  ob  es  ihm  freistand,  bei  jedem  Besuche 
einen  neuen  zu  schürzen,  nehme  aber  das  letztere 
schon  deshalb  an,  weil  es  ein  zu  gutes  Gedächtnis 
verlangt  hätte,  wäre  immer  nur  ein  einziger  Knoten 
erlaubt  gewesen,  denn  die  Männer  werden  sich  doch 
schwerlich  jedes  ihrer  Liebesabenteuer  genau  gemerkt 
haben,  ebenso  wenig  aber  wohl  die  Personen,  mit 
denen  sie  es  erlebt  hatten.  Es  mag  nun  aber  auch  da- 
bei noch  eine  hohe  Ehre  für  eine  Frau  gewesen 
sein,  einen  total  mit  Knoten  übersäeten  Rock  tragen 
zu  dürfen,  fast  so  wie  bei  uns  die  Männer  die  zahl- 
reichen Orden,  die  ihre  Brust  schmücken,  mit  Stolz 
zur  Schau  tragen,  wenn  auch  nicht  wenige  davon  noch 
leichter  verdient  sind  als  die  Knoten,  die  den  Giodaner- 
Frauen  in  die  Röcke  geschürzt  wurden. 

Unter  den  Völkern,  die  in  Geschlechtsgemeinschaft 
lebten,  nennen  die  alten  Schriftsteller  auch  die  Brach- 
manen. Das  macht  nun  allerdings  die  Angaben  im 
allgemeinen  zweifelhaft.  Über  die  Massageten  und 
Garamanter  läßt  sich  ja  freilich  der  Nachweis  ihres 
absurden  Liebeslebens  führen;  mit  den  Brachmanen 
aber  scheint  die  Sache  doch  nicht  zu  stimmen.  Diese 
wohnten  allerdings  auch  in  einer  sehr  weit  vom  Ge- 
biet der  andern  entfernten  Gegend,  und  wurden  ihrer 
Eigenart  wegen  schon  von  alten  griechischen  Schrift- 
stellern vielfach  erwähnt.  Sie  sind  vor  allen  Dingen 
in  Wirklichkeit  kein  Volk,  sondern  nur  eine  Sekte 
gewesen,  die  bei  den  Hindus  in  großem  Ansehen 
stand  und  es  sich  auch  gewiß  nicht  leicht  werden 
ließ,  dieses  Ansehen  zu  erringen.  Der  Weg,  der  zu 
Ruhm  und  Ehren  führte,  war  für  sie  etwa  derselbe, 
den   die  überspanntesten   christlichen   Asketen   später 


—     90     — 

wandelten,  d.  h.  sie  verbrachten  ihre  Zeit  mit  Buß- 
übungen. Diese  Übungen  aber  waren  nichts  als  die 
furchtbarste  Selbstpeinigung.  Wer  sich  die  größten 
Qualen  auferlegte  und  seinen  Leib  zermarterte,  der 
galt  als  der  Größte  unter  ihnen,  und  da  nach  diesem 
Ruhme  alle  trachteten,  läßt  sich  ungefähr  ermessen, 
welche  Leiden  sich  jeder  auferlegte.  So  etwas  hat 
die  profane  Menge  stets  bewundert;  bei  den  Hindus 
war  aber  die  Achtung  vor  der  Heiligkeit  der  Brach- 
manen so  gewaltig,  daß  diese  sogar  den  Herrschern 
als   Ratgeber  stets  willkommen  waren. 

Das  hat  freilich  wohl  auch  noch  eine  andere 
Ursache  gehabt,  denn  die  Brachmanen  waren  nicht 
bloß  Asketen  in  des  Wortes  grausamster  Bedeutung, 
sondern  sie  waren  auch  gelehrte  Philosophen,  die  aus 
den  Sternen  zu  lesen  vermochten,  was  das  Geschick 
jedem  Menschen  vorbehielte.  Sie  waren  Astronomen 
und  mehr  wohl  noch  Astrologen,  die  die  Kunst  des 
Wahrsagens  verstanden  und  eine  religiöse  Geheim- 
lehre besaßen,  die  es  ihnen  allein  gestattete,  das  Licht 
der  Wahrheit,  also  die  höchste  Gottheit,  zu  sehen. 
Die  Brachmanen  lebten  äußerst  dürftig,  hielten  sich 
in  den  Wäldern  auf  und  gingen  völlig  nackt  einher. 
Das  erregte  damals  durchaus  kein  Ärgernis.  Wenn 
diese  Sekte  als  ein  Volk  geschildert  wird,  so  liegt 
dies  wohl  daran,  daß  es  trotz  des  schweren,  qual- 
vollen und  freudearmen  Lebens  dieser  Männer  doch 
zahllose  Mitglieder  der  Sekte  gegeben  haben  soll. 
Die  Schüler  waren  verpflichtet,  37  Jahre  der  Sekte 
anzugehören,  und  während  dieser  ganzen  Zeit  die 
Selbstmarter  zu  betreiben. 

Es  erscheint  danach  kaum  denkbar,  daß  auch  diese 


—    91     — 

Leute  gemeinsame  Weiber  gehabt  haben  sollten,  denn 
offenbar  ist  doch  bei  einem  Asketenleben  kein  Raum 
für  Weiber  und  die  Freuden  der  Liebe  und  Ehe.  Es 
ist  aber  gleichwohl  von  allen,  die  uns  über  jene  selt- 
samen Menschen  Kunde  bringen,  betont,  daß  die 
Brachmanen,  wenn  sie  37  Jahre  „aktiv"  gewesen  waren, 
in  eine  Art  Ruhestand  traten,  bei  dem  es  ihnen  auch 
erlaubt  war,  Weiber  zu  nehmen.  Daß  ein  37  jähriger 
Peinigungszustand  den  Männern  die  Lust  zu  Liebe 
und  Ehe  nicht  zu  vertreiben  vermochte,  das  läßt  aller- 
dings darauf  schließen,  daß  ihre  Herzen  von  recht 
dauerhaften  und  unverwüstlichen  Empfindungen  beseelt 
gewesen  sein  müssen.  Hat  nun  aber  die  lange  Zeit 
des  Leidens  nicht  die  sexuellen  Regungen  zu  erdrücken 
vermocht,  dann  ist  auch  die  Wahrscheinlichkeit  oder 
doch  wenigstens  Möglichkeit  vorhanden,  daß  es  bei 
den  „ausgedienten"  Sektierern  auch  eine  Weiberge- 
meinschaft gegeben  haben  kann,  die  jedenfalls  nicht 
als  unsittlich  empfunden  und  gedacht  war,  sondern 
vielleicht  nur  den  Zweck  hatte,  den  Heiligen  Nach- 
kommen zu  sichern.  Jedenfalls  hat  im  Altertum  weder 
die  Gelehrsamkeit  noch  die  besondere  Heiligkeit  in 
allen  Fällen  dahin  geführt,  die  Weibergemeinschaft 
als  etwas  Verwerfliches  zu  betrachten.  Sie  resultierte 
vielmehr  auch  bei  höher  kultivierten  Menschen  aus 
der  Stellung  der  Frau  im  allgemeinen  und  teilweise 
sogar  aus  der  besonderen  Erwägung,  daß  es  sittlicher 
und  eines  ernsten  Mannes  würdiger  sei,  sich  nicht  an 
eine  bestimmte  Frau  zu  ketten,  sondern  nur  aus 
Opportunitätsgründen,  d.  h.  aus  Gründen  des  öffent- 
lichen Wohles,  dafür  zu  sorgen,  daß  das  Geschlecht 
der  Menschen  nicht  aussterbe.    Das  war  im  wesent- 


—     92     — 

liehen  der  Gedankengang,  der  auch  griechische  Philo- 
sophen auf  die  Theorie  brachte,  daß  eine  Weiber- 
gemeinschaft eigentlich  das  würdigste  Verhältnis  für 
den  Mann  sei.  Vielleicht  sind  die  Brachmanen  weiter 
gegangen  und  haben  diese  Theorie  zur  Praxis  erhoben. 
Es  ist  aber  wohl  auch  die  Wahrscheinlichkeit,  daß 
die  Berichte  des  Altertums  nicht  besonders  zuverlässig 
waren,  nicht  zu  übersehen.  Jedenfalls  sind  die  Brach- 
manen des  Altertums  nichts  anderes  gewesen  als  die 
Brahmanen,  die  ja  jetzt  noch  existieren,  ihren  Lebens- 
wandel allerdings  im  Laufe  der  Jahrhunderte  wesent- 
lich geändert  haben  werden,  ebenso  wie  die  Moral- 
anschauungen. 

Unter  den  alten  Völkern,  denen  die  allgemeine 
Geschlechtsgemeinschaft  nachgesagt  wurde,  sind  auch 
die  Troglodyten  genannt.  Das  Wort  läßt  schon  seiner 
ursprünglichen  Bedeutung  nach  auf  eine  nicht  gerade 
hohe  Kulturstufe  schließen,  denn  Troglodyten  heißt 
eigentlich  nichts  als  Höhlenbewohner;  es  würde  also 
auf  alle  Völker  zutreffen,  die  nicht  genügend  fortge- 
schritten waren,  um  sich  ihre  Wohnungen  zu  erbauen, 
die  sich  deshalb  auf  Höhlen  und  ähnliche  von  der  Natur 
gelieferte,  mietsfreie  Behausungen  beschränken.  In 
diesem  Allgemeinsinn  ist  das  Wort  auch  auf  eine  ganze 
Reihe  unkultivierter  Völker  angewendet  worden.  Wenn 
also  noch  ein  Volksstamm  besonders  als  Troglodyten 
bezeichnet  wurde,  so  beweist  dies,  daß  dieser  Stamm 
erst  recht  als  unkultiviert  galt.  Das  war  auch  durch- 
aus zutreffend.  Das  Land  Troglodytica,  das  diese 
Höhlenmenschen  beherbergte,  zog  sich  an  der  Abes- 
synischen  Küste  hin.  Das  Volk  war  halbverwildert, 
und  es  ist  wohl  kaum  zu  bestreiten,  daß  dort  wirk- 


-     93     - 

lieh  die  Geschlechtsgemeinschaft  allgemein  herrschte. 
Jedenfalls  hat  es  dann  auch  keine  gesonderten  Höhlen- 
wohnungen gegeben,  sondern  wenn  ein  solcher  Schlupf- 
winkel gefunden  wurde,  stand  er  allen  zur  Verfügung,  und 
in  diesem  Loche  erfreute  sich  die  Gesellschaft  ihres 
Lebens  und  ihrer  Liebe. 

Nicht  viel  besser  waren  die  Tyrrhener  oder 
Tyrsaner,  die  geschichtlich  schon  vor  dem  trojani- 
schen Kriege  bekannt  waren.  Dies  Volk  war  schon 
im  hohen  Altertum  von  den  Nachbarvölkern  gehaßt 
und  befeindet  und  soll  vor  dem  trojanischen  Kriege  aus 
seiner  damaligen  Heimat  Thessalien  vertrieben  worden 
sein  und  sich  dann  nach  Attika  geflüchtet  haben.  Auch 
dort  wurden  diese  Barbaren  nicht  geduldet,  sondern 
überfallen  und  in  alle  Welt  zerstreut.  So  gab  es  denn 
zahlreiche  Kolonien,  besonders  auf  Lemnos  und  der 
thracischen  Küste.  Die  Tyrrhener  waren  nicht  bloß 
wegen  ihres  wüsten  Liebeslebens  und  ihrer  üblen 
Sitten  verhaßt,  sondern  teilweise  auch  gefürchtet,  weil 
sie  das  Mein  und  Dein  nicht  nur  in  bezug  auf  ihre 
Weiber  nicht  zu  unterscheiden  vermochten,  sondern 
weil  sie  diese  Rechtsbegriffe  auch  im  allgemeinen  nicht 
mit  genügender  Klarheit  auseinanderhalten  konnten. 
Die  meisten  Kolonien  waren  verrufene  Seeräuber- 
nester, die  dem  griechischen  Handel  sehr  gefährlich 
wurden.  Die  Männer  waren  kühn  bis  zur  Verwegen- 
heit, und  da  sie  das  Meer  als  ihre  Heimat  betrachteten, 
mußten  sie  natürlich  auch  als  Räuber  zur  See  große 
Erfolge  erringen  können.  Wie  die  gefürchteten  Wi- 
kinger im  Norden  unsere  deutschen  Lande  gefährdeten 
und  sich  mit  ihren  Schiffen  dem  Laufe  der  Ströme 
folgend  auf  Raubzüge  bis  ins  Innere  des   Festlandes 


—    94     — 

wagten,  so  waren  die  Tyrrhener  in  ihrer  kühnen  Wild- 
heit eine  Geißel  für  den  griechischen  Handel.  Daß 
dieses  Volk  sich  nicht  an  bestimmte  Ehegesetze 
fesselte,  sondern  daß  alle  Männer  mit  allen  Weibern 
verkehrten,  wie  sie  gerade  Lust  hatten,  ist  gewiß  nicht 
der  schlimmste  Vorwurf,  der  ihnen  mit  Recht  gemacht 
werden  durfte.  Viel  auszurichten  war  ohnehin  gegen 
die  Gesellschaft  nicht,  die  sich  im  Falle  eines  Raub- 
zuges stets  schnell  in  Sicherheit  zu  bringen  wußte 
und  den  Feinden  doch  wieder  viel  zu  schaffen  machte, 
ehe  sie  recht  entdeckt  werden  konnte.  Die  Eigen- 
art des  Landes  begünstigte  das  Seeräuberhandwerk  in 
hohem  Maße.  Das  Hauptgebirge,  der  Hämus,  bot 
viele  Schlupfwinkel,  und  der  Scomius,  der  sich  im 
Südwesten  an  dieses  Gebirge  anschloß  und  einzelne 
Zweige  als  Vorgebirge  bis  ins  Meer  erstreckte,  ließ 
eine  erfolgreiche  Überrumpelung  von  der  See  her 
überhaupt  nicht  zu,  gestattete  es  vielmehr  der  See- 
räuberflotte, sich  zu  verbergen  und  plötzlich  über 
nahende  Feinde  herzufallen.  Wild  wie  die  Natur, 
war  auch  der  Volksstamm,  der  sie  bewohnte  und 
dort  ein  Leben  führte,  das  alles  andere  eher  war, 
als  ein  geordnetes  und  gesittetes  Staatsleben. 

Ebenso  wie  die  Griechen  unter  den  Troglodyten 
Menschen  verstanden,  die  ihnen  als  entsetzliche  Bar- 
baren erschienen,  weil  sie  auf  so  niederer  Kultur- 
stufe standen,  daß  sie  sich  keine  Wohnungen  bauen 
konnten,  nannte  das  hochgebildete  Griechenvolk  die 
unkultivierten  Bewohner  verschiedener  Meeresküsten 
Ichthyophagen.  Das  heißt  zwar  nur  Fischesser  und 
würde  für  heutige  Begriffe  nicht  auf  Barbarismus 
schließen  lassen,  weil  wir  die  volkswirtschaftliche  Be- 


—    95    — 

deutung  der  Seefischkost  kennen  und  würdigen  ge- 
lernt haben.  Im  Altertum  freilich  dachte  man  hier- 
über wesentlich  anders,  da  war  das  Wort  Ichtyophage 
der  Ausdruck  großer  Verachtung  und  deutete  eine 
Kulturstufe  an,  die  der  etwa  gleich  ist,  die  wir  den 
Menschenfressern  zutrauen.  Ichtyophagen  gab  es 
natürlich  nur  in  den  Küstenländern,  das  ist  schon  in 
der  Natur  der  Sache  begründet,  denn  Flußfische  als 
Nahrung  kamen  nicht  in  Betracht.  Den  Griechen  waren 
die  Küstengebiete  der  Ichthyophagen  nicht  besonders 
bekannt,  und  die  Völker  ebenfalls  nicht,  denn  es 
lohnte  sich  für  sie  nicht,  jene  Gegenden,  in  denen 
ja  weder  für  den  Handel  Schätze  noch  für  den  Ver- 
kehr Vorteile  zu  haben  waren,  genauer  zu  durch- 
forschen; das,  was  sie  aber  von  diesen  Barbaren 
kennen  gelernt  hatten,  war  nicht  geeignet,  sie  mit 
besonderer  Hochachtung  zu  erfüllen.  Die  bekanntesten 
waren  die  äthiopischen  Ichthyophagen,  die  im  äußer- 
sten Osten  die  Küsten  der  südlichen  Meere  bewohnten. 
Von  diesen  war  die  genaueste  Kunde  bis  nach  Griechen- 
land gelangt.  Es  ist  ja  nun  freilich  die  Frage,  ob 
es  wahr  ist,  daß  diese  guten  Leutchen  ausschließ- 
lich sich  von  Fischkost  nährten;  angenommen  wurde 
es  jedenfalls.  Das  wäre  nun  aber  wohl  noch  nicht 
ausreichend  für  die  allgemeine  Beurteilung  gewesen. 
Das  Volk  war  auch  sonst  als  roh  und  barbarisch 
bekannt.  Das  Liebesleben  dieser  Küstenbewohner 
war  auf  den  einfachsten  Instinkten  aufgebaut.  Es 
gab  überhaupt  keine  bestimmte  Form,  in  die  der 
Verkehr  der  Geschlechter  gezwungen  gewesen  wäre. 
Die  unkultivierten  Leute  kannten  keine  Ehe,  wohl 
auch  nicht  die  Liebe  in  ihrer  poetischen  Gestalt,  die 


—    96    — 

das  Leben  veredelt,  und  den  Sinn  für  weitere  Ent- 
Wickelung und  das  Streben  nach  Vervollkommnung 
weckt,  sondern  es  war  ihnen  nichts  zum  Bewußtsein 
gekommen  als  der  Trieb  der  Erhaltung  der  Art,  d.  h., 
die  Notwendigkeit  der  Fortpflanzung,  also  der  rein 
animalische  Instinkt.  Dabei  kam  es  ihnen,  ebenso  wie 
allen  Völkern,  bei  denen  die  allgemeine  Geschlechts- 
gemeinschaft bestand,  nicht  darauf  an,  wer  sich  an 
der  Erreichung  dieses  Zieles  beteiligte,  sondern  es 
blieb  der  augenblicklichen  Laune  und  Neigung  von 
Mann  und  Weib  überlassen,  ob  sie  sich  zu  einem 
gelegentlichen  Begattungsakte  entschließen  wollten, 
aus  dem  für  keinen  der  Beteiligten  irgend  welche 
Rechte   und   Pflichten   entstanden. 

Diese  primitive  Ausgestaltung  des  Liebeslebens 
war  für  die  hochkultivierten  Griechen  und  überhaupt 
für  die  gebildeteren  Völker  des  Altertums  ein  Greuel, 
obwohl  man  doch  im  allgemeinen  an  die  Sittlich- 
keit durchaus  keine  hohen  Ansprüche  stellte  und  gar- 
nichts  so  bedenkliches  darin  fand,  wenn  „in  Venere" 
excediert  wurde.  Im  Gegenteil,  gerade  die  hoch- 
gebildeten Völker  hätten  für  eine  Enthaltsamkeit  so 
gut  wie  kein  Verständnis  besessen,  sondern  den  keu- 
schen Joseph  für  ein  Muster  von  Dummheit  und  Un- 
verstand gehalten.  Das  zeigt  sich  nicht  bloß  in  der 
Mythologie,  sondern  im  ganzen  öffentlichen  Leben 
des  sogenannten  klassischen  Altertums.  Man  war 
weder  prüde,  noch  ein  Verächter  des  Vergnügens, 
sondern  liebte  es  sehr,  wie  der  Schmetterling  von 
allen  Blüten  zu  naschen,  mochten  es  auch  verbotene 
Früchte  sein,  nach  denen  man  griff;  im  Gegenteil 
das    Verbotene    reizt   bekanntlich    viel   mehr   als   das 


—    97     — 

Erlaubte.  Es  war  aber  als  ein  Beweis  wüstester 
Barbarei  verhaßt,  wenn  das  Liebesleben  so  wenig  aus- 
gebildet war,  daß  es  eben  verbotene  Früchte  garnicht 
mehr  geben  konnte,  weil  einfach  alles  erlaubt  war. 
Weder  Rücksichten  auf  Verwandtschaft  konnte  es  bei 
einer  allgemeinen  Geschlechtsgemeinschaft  geben,  noch 
eine  Pietät,  die  doch  von  den  Alten  sonst  viel  mehr 
in  Ehren  gehalten  wurde  als  in  unserer  Zeit.  Wer 
kannte  denn  überhaupt  bei  den  Barbaren  seine  Ver- 
wandtschaftsgrade? Es  wußte  doch  niemand  anzu- 
geben, wer  sein  Vater,  wer  sein  Kind  war,  und  eine 
allgemeine  Verwandtschaft  mußte  man  selbst  da  an- 
nehmen, wo  man  den  oben  geschilderten  geistreichen 
Gedanken  ausgeheckt  hatte,  daß  die  Ähnlichkeit  eines 
Kindes  mit  irgend  einem  Manne  dessen  Vaterschaft 
beweisen  sollte.  In  der  Tat  kann  es  für  einen  ge- 
sitteten und  gebildeten  Menschen  kein  abscheulicheres 
Liebesleben  geben  als  die  unbedingte  Geschlechts- 
gemeinschaft des  ganzen  Stammes. 

Im  ganzen  Orient  war  das  Liebesleben  wenn  man 
so  sagen  darf,  überhaupt  erst  das  eigentliche  Leben, 
der  eigentiche  Lebenszweck  bestand  beinahe  darin,  die 
Freuden  der  Liebe  zu  genießen  und  alles  diesem 
Genuß  hintanzustellen.  Das  war  ja  wohl  bei  der 
Geschlechtsgemeinschaft  auch  nicht  anders;  der  Unter- 
schied bestand  aber  darin,  daß  die  höher  kultivierten 
Völker  die  Weiber,  die  sie  für  sich  nahmen,  auch 
absolut  für  sich  allein  haben  und  niemals  mit  einem 
anderen  Manne  teilen  wollten.  Deshalb  erfolgte  der 
strenge  Abschluß  des  Harems,  und  wo  es  weder  den 
Harem  noch  die  Vielweiberei  gab,  hielt  doch  jeder 
Mann  sein  Haus  rein,  die  Frau  von  andern  Männern 

7 


—    98    — 

fern.  Keine  Regel  ohne  Ausnahme.  Hier  ist  die  Aus- 
nahme, die  schon  früher  erwähnte  Idee,  die  Frauen 
sich  gegenseitig  auszuleihen.  Wir  haben  eine  ähn- 
liche Erscheinung  auch  im  deutschen  Altertum  zu  ver- 
zeichnen. Es  handelt  sich  da  um  die  sog.  Ehe- 
helferschaft,  die  allerdings  nur  unter  bestimmten 
Voraussetzungen  möglich  war,  aber  doch  —  und  das 
ist  gerade  der  springende  Punkt  —  vorkam.  Ich 
werde  auf  diesen  Punkt  gelegentlich  noch  zurück- 
kommen. 

Von  den  alten  Babyloniern,  die  alles  andere  viel 
eher  waren  als  Sittlichkeitsfexe,  wurde  nach  Herodot 
eine  sehr  sinnreiche  Verheiratungsmethode  geübt,  die 
vor  allen  Dingen  dahin  abzielte,  alle  Jungfrauen  zu 
versorgen  und  nicht  bloß  die  schönsten,  sondern  auch 
die  häßlichen  an  den  Mann  zu  bringen.  Es  sollen 
da  alljährlich  einmal  alle  heiratsfähigen  Töchter  ver- 
sammelt worden  sein.  Man  suchte  dann  die  schönsten 
aus  und  bot  sie  für  Geld  aus,  d.  h.  es  wurde  eine 
Art  Auktion  veranstaltet;  wer  am  meisten  zahlte,  der 
erhielt  die  Schönheit  als  Eigentum  und  konnte  sie  in 
sein  Heim  führen.  Je  nach  dem  Grade  der  Schönheit 
waren  natürlich  auch  die  Gebote  verschieden,  und 
es  kam  dann  schließlich  soweit,  daß  für  die  mit 
weniger  Reizen  ausgestatteten  Töchter  niemand  mehr 
etwas  bieten  mochte.  Damit  war  aber  die  Auktion 
noch  nicht  beendet;  sie  wurde  im  Gegenteil  nun  erst 
interessant.  Die  schönsten  Mädchen  hatte  man 
sicherlich  mit  Neid  in  die  Hände  der  „Beati  pos- 
sidentes"  übergehen  sehen.  Wenn  die  Angebote 
recht  hoch  ausgefallen  waren,  so  hatte  man  doch 
wenigstens  den  schönsten  Trost,  daß  die  glücklichen 


—     99     — 

Erwerber  immerhin  ihren  Sieg  teuer  bezahlen  mußten, 
und  daß  diese  Summen  nun  anderen  zufließen  würden. 
Das,  was  durch  den  Verkauf  der  Schönheiten  erlöst 
worden  war,  das  floß  nämlich  weder  in  die  Taschen 
der  Verkauften,  noch  in  die  von  deren  Eltern,  son- 
dern diente  dazu,  die  Häßlicheren,  die  ja  auch  auf 
die  Freuden  der  Liebe  nicht  verzichten  wollten  und 
sollten,  anzubringen.  Es  wurde  nämlich  nochmals 
sortiert  und  festgestellt,  welche  von  den  noch  zu  ver- 
gebenden Jungfrauen  die  häßlichsten,  und  welche  min- 
der häßlich  waren.  Die  Häßlichsten  erhielten  das 
Geld,  das  für  die  Schönsten  erlöst  worden  war,  und 
die  minder  Häßlichen  erhielten  das,  was  für  die 
minder  Schönen  erzielt  worden  war.  Wenn  nun  erst 
für  die  schönsten  Mädchen  große  Summen  geboten 
waren,  weil  die  reichen  Männer  in  ihrer  Leidenschaft- 
lichkeit für  den  Besitz  solcher  auserlesener  Weiber 
kein  Opfer  scheuten,  so  war  nun  die  Sache  gerade 
umgekehrt,  die,  für  die  niemand  mehr  etwas  geboten 
hatte,  fanden  Männer,  weil  diese  dafür,  daß  sie  ein 
solches  Weib  erwählten,  das  Geld  erhielten,  das 
diesem  aus  dem  Auktionserlös  zugefallen  war,  so  daß 
nun  eigentlich  die  Männer  gekauft  wurden,  wobei 
die,  die  an  die  Schönheit  ihres  neuen  Weibes  die 
niedrigsten  Ansprüche  stellten,  das  meiste  Geld  er- 
hielten. Ein  Zeichen,  daß  man  im  alten  Babylon 
äußerst  praktisch  dachte  und  sich  durch  Geld  über 
das  Glück  anderer  in  der  Liebe  zu  trösten  wußte. 

Jedenfalls  zeigt  dieser  Brauch  aber,  daß  die  Weiber 
eigentlich  nichts  waren  als  ein  Handelsobjekt,  daß 
sie  eine  eigene  Wahl  des  Gatten  nicht  treffen  konnten, 
sondern  dem  Manne  angehören  mußten,  der  sie  ver- 


—     100     — 

langte,  bezahlte  oder  sich  auch  dafür  bezahlen  ließ, 
daß  er  das  Weib  zu  sich  nehmen  wollte.  Letzteres 
kommt  ja  auch  wo  anders  vor  und  ist  immer  ein 
beliebtes  Mittel,  einen  Mann  zu  erhalten,  der  Geld 
zu  schätzen  weiß,  und  zwar  in  so  hohem  Grade,  daß 
er  dafür  auch  eine  Gattin  mit  in  den  Kauf  nimmt, 
die  doch  nun  einmal  die  einzige  Bedingung  ist,  unter 
der  das  Geld  zu  erlangen  ist.  Freilich  so  deutlich 
wie  im  alten  Babylon  werden  die  Herren  Mitgift- 
jäger ihr  „berechtigtes  Interesse"  öffentlich  nicht  gleich 
betonen. 

Nach  Strabo  hat  bei  einem  indischen  Volksstamm, 
den  er  Taxilli  nennt,  ein  Brauch  bestanden,  durch 
den  der  Vater  einer  heiratsfähigen  Tochter  sich  mehr 
oder  weniger  leicht  einen  Schwiegersohn  verschaffen 
und  dabei,  wenn  das  Mädchen  schön  genug  war, 
auch  ein  ganz  gutes  Geschäft  machen  konnte.  Der 
Vater  nahm  seine  Tochter,  wenn  er  glaubte,  daß  sie 
zum  Heiraten  reif  sei,  wohl  geschmückt  mit  auf  den 
Markt,  ließ  die  Trommeln  rühren,  damit  die  Leute 
aufmerksam  wurden  und  in  genügender  Menge  er- 
schienen und  bot  dann  die  Tochter  aus.  Da  die  Taxilli 
aber  sehr  praktische  Leute  waren,  die  nicht  gern  die 
Katze  im  Sacke  kauften,  so  begnügte  man  sich  nicht 
damit,  daß  der  Vater  die  Vorzüge  seines  Kindes  in 
grellen  Farben  schilderte,  sondern  man  wollte  sehen, 
ob  es  sich  auch  wirklich  lohne,  das  Mädchen  zur 
Ehe  zu  nehmen.  Das  Gesicht  mochte  noch  so  schön 
sein,  was  half  es?  Auch  die  Schönheit  vergeht,  und 
ein  schönes  Gesicht  beweist  doch  noch  lange  nicht, 
daß  auch  der  Körper  schön  und  ohne  Fehler  sein 
müsse,  und  ein  schönes  Gesicht  allein  kann  den  Mann 


—     101     — 

nicht  glücklich  machen  und  eine  Frau  nicht  begehrens- 
wert,  wenn  der  Körper  etwa  Fehler  aufzuweisen  hat, 
die    auch    das   schönste    Gesicht    nicht    aufzuwiegen 
vermag.    Vor  allen  Dingen  war   es  nach  der  Ansicht 
der  Taxilli    nicht  mehr  als   recht  und   billig,  daß  man 
ein  fremdes  Weib,    das  man  sich  aussuchen  und  be- 
halten   sollte,    allermindestens    doch   ganz    angesehen 
haben  müsse.    So  wurde  dann,  wenn  sich  genügend 
viele  Interessenten  auf  dem  Markte  versammelt  hatten, 
die  Vorstellung  eröffnet.   Das  Mädchen  drehte  zunächst 
den  Schaulustigen   den  Rücken  zu  und  hob  dann  die 
Kleidung  bis    zu    den   Schultern    hoch,    so   daß   der 
Körper  in   seiner  Gesamterscheinung  den  Blicken  der 
Männer  freigegeben  war.    In  dieser  Stellung  verharrte 
die  Schöne  eine  ganze  Weile,  bis  sich  annehmen  ließ, 
daß  die  Beschauer  nunmehr  ihre  Studien  mit  der  ge- 
nügenden Gründlichkeit  beendet  haben  könnten.    Das 
Mädchen    drehte    sich    dann    herum    und    enthüllte 
wiederum   durch  Hochheben  des  Kleides  die  Vorder- 
ansicht des  Körpers.     Das  soll  in  der  Regel  den  ge- 
wünschten Erfolg  gehabt  und  die  anwesenden  Männer 
bewogen    haben,    den    Vater    um    Überlassung    der 
Schönen   zu    bitten.      Da    natürlich    die    Stärke    des 
Wunsches,   die  Tochter  zu   besitzen,   in   erster  Linie 
von  deren   Körperschönheit   abhing,   versteht  es   sich 
von   selbst,  daß   die  Sache  für   den  Vater  umso  an- 
genehmer gewesen  sein  muß,  je   schöner  die  Tochter 
war,   denn   in  diesem  Falle   wurde   natürlich  dem  die 
meiste  Aussicht,  seine  Wünsche  erfüllt  zu  sehen,  der 
seine    Bitte    durch    den    stärksten    „Metallzusatz"    zu 
unterstützen   vermochte.     So   wurde  der  Vater  nicht 
nur  die  Tochter  los,  sondern  er  erhielt  auch  noch  ein 


—     102     — 

schönes  Stück  Oeld.  Das  ist  sicherlich  ein  weit  an- 
genehmeres Los  als  das,  was  heutigen  Tages  den 
Vater,  der  eine  Tochter  zu  verheiraten  hat,  zu  treffen 
pflegt.  Er  muß  dabei  recht  energisch  in  den  Beutel 
greifen  und  außer  der  standesgemäßen  Ausstattung 
meist  auch  noch  eine  möglichst  reich  bemessene  Mit- 
gift geben,  und  doch  wird  das  wohl  jeder  Vater  der 
Taxilli-Sitte  vorziehen. 

Die  Szene,  die  Strabo  beschreibt,  erinnert  lebhaft 
an  die  Sklaven  markte,  bei  denen  die  zu  verkaufenden 
Sklaven  und  besonders  die  Sklavinnen  ebenfalls  nackt 
den  Kauflustigen  vorgestellt  wurden.  Das  war  auch 
ganz  bestimmt  die  beste  Anpreisung,  die  jemals  ge- 
geben werden  konnte,  vorausgesetzt  natürlich,  daß 
die  Menschenware  körperlich  einwandsfrei  war.  Daß 
die  Sklavinnen  nicht  sittlich  als  unantastbar  galten, 
ist  bekannt,  gerade  das  nackte  Vorstellen  zielte  in 
erster  Linie  dahin,  daß  sie  außer  zu  schweren  Ar- 
beiten auch  dazu  Verwendung  finden  sollten,  die  sinn- 
lichen Gelüste  ihrer  Käufer  zu  befriedigen.  Auch  darin 
herrschte  volle  Übereinstimmung  mit  der  von  Strabo 
geschilderten  Verheiratungsmethode  der  Taxilli. 


Die  Vorliebe  für  Nuditäten. 


Wenn  es  auch  unbestreitbar  ist,  daß  die  Phantasie 
durch  das,  was  den  Blicken  verborgen  bleibt  und  in- 
folgedessen nicht  sinnlich  wahrgenommen,  sondern 
nur  geahnt  und  vermutet  werden  kann,  viel  lebhafter 
angeregt  wird,  als  durch  das  wirklich  Gesehene,  so 
ist  doch  im  Liebesleben  der  Anreiz  durch  das  sich 
offen  den  Blicken  Darbietende  in  der  Regel  viel  inten- 
siver als  der  durch  das  Spiel  der  bloßen  Phantasie 
hervorgerufene.  Das  ist  nur  scheinbar  ein  Wider- 
spruch, denn  in  Wirklichkeit  sprechen  hierbei  ganz 
andere  Momente  mit.  Es  ist  zunächst  der  Anblick 
des  Schönen,  der  mächtig  auf  das  Gemütsleben  ein- 
wirkt und  die  Begierde  anregt,  dabei  aber  die  Phantasie 
keineswegs  ausschaltet.  Die  Phantasie  beschäftigt  sich 
vielmehr  erst  dann  lebhaft,  wenn  sie  es  sich  ausmalt, 
welche  Genüsse  der  Besitz  des  Gesehenen  schaffen 
könnte.  Das  Schöne  ist  dabei  nur  das  Objekt.  Wer 
z.  B.  sich  ein  herrliches  Schaugericht  nur  in  der 
Phantasie  ausmalt,  der  wird  sicherlich  den  lebhaften 
Wunsch  damit  zu  erwecken  vermögen,  das  Gedachte 
auch  wirklich  zu  besitzen;  aber  sicherlich  wird  durch 
den  unmittelbaren  Anblick  des  herrlichen  Gerichts  der 


—     104     — 

Appetit  weit  lebhafter  angeregt  als  durch  die  bloße 
Vorstellung.  Es  kommt  dabei  freilich  sehr  viel  auf  die 
Lebhaftigkeit  der  Phantasie  an,  so  daß  Abstufungen 
in  der  Wirkung  von  Wahrheit  und  Dichtung  selbst- 
verständlich, weil  naturgemäß,  sind. 

Will  man  das  Gesagte  auf  die  Nuditäten  allein 
anwenden,  so  lehrt  auch  da  die  Praxis  des  täglichen 
Lebens  schon  die  Richtigkeit  der  These  vollkommen. 
Wir  leben  in  einer  Zeit,  in  der  das  Nackte  in  Kunst 
und  Leben  besonders  lebhaft  umstritten  wird.  Wäh- 
rend ein  Teil  des  Publikums  alles  Nackte  als  unsitt- 
lich und  unzüchtig  perhorresziert  und  sich  darin  ge- 
fällt, die  Grenzen  der  Vernunft  systematisch  zu  über- 
schreiten, treibt  ein  anderer  Teil  die  Schwärmerei  für 
das  Nackte  ebenso  ins  Ungemessene,  und  man  kann 
selbst  hier  wieder  sagen,  daß  die  Extreme  sich  be- 
rühren, so  unhaltbar  diese  Behauptung  auf  den  ersten 
Blick  auch  erscheinen  mag.  Beide  Parteien  gehen 
nämlich  von  demselben  Grundgedanken  aus,  daß  der 
nackte  Körper  einen  eigenen  Reiz  auf  das  Sinnen- 
leben ausübt. 

Schon  seit  Jahrtausenden  bemüht  sich  die  bildende 
Kunst,  in  der  Darstellung  des  nackten  Körpers  das 
Schönheitsideal  zu  schaffen;  besonders  ist  die  Bild- 
hauerkunst von  jeher  auf  Aktstudien  angewiesen. 
Sie  schafft  im  nackten  Körper  das  bleibend  Schöne, 
während  der  bekleidete  Körper  doch  immer  nur  das 
Schönheitsideal  einer  bestimmten  Zeit  wiederspiegelt. 
Das  Kostüm  wechselt,  weil  es  etwas  Willkürliches 
ist,  das  nicht  dauernden  Gesetzen  unterworfen  ist 
und  nur  zu  oft  absurde  Schönheitsprinzipien  darstellt, 
so  daß  ein  Kostüm,  das  als  das  Schönste  gepriesen 


—     105     - 

wird  und  die  Welt  entzückt,  nicht  selten  schon  nach  sehr 
kurzer  Zeit  als  eine  Ausgeburt  verschrobener  und 
wahnsinniger  Geschmacksverirrung  belacht  wird.  Wer 
wollte  es  heute  noch  zu  behaupten  wagen,  daß  die 
Krinoline  das  höchste  Schönheitsideal  sei?  Wer  kann 
auch  nur  eine  kurze  Sekunde  im  Zweifel  darüber  sein, 
ob  die  bildnerische  Darstellung  eines  unbekleideten 
weiblichen  Körpers  oder  des  mit  der  Krinoline  „ver- 
schönerten" einen  idealeren  Kunstgenuß  bereitet?  Ob 
das  Schönheitsideal  mehr  in  dem  einen  oder  mehr 
in  dem  andern  gewahrt  sei  und  zur  Geltung  komme? 
Es  würde  wohl  jedem,  gleichwohl  welcher  Partei  er 
angehört,  lächerlich  erscheinen,  eine  solche  Frage 
überhaupt  ernstlich  anzuregen. 

Während  nun  die  Sittlichkeitsapostel  davon  aus- 
gehen, daß  alles  Nackte  schon  immer  deshalb,  weil  es 
schön  sei,  die  Sinnlichkeit  in  moralgefährdender  Weise 
anrege,  sind  die  Verteidiger  des  Nackten  der  Ansicht, 
daß  gerade  das  Empfinden  des  Schönen  die  Menschen 
veredele,  sie  reiner  und  edeler  mache.  Ohne  in 
eine  ernste  Kritik  der  einen  oder  der  andern  Ansicht 
einzutreten,  soll  nur  kurz  gesagt  sein,  daß  beide 
Meinungen  durch  ihre  Übertreibungen  sich  selbst 
ins  Unrecht  setzen.  So  falsch  es  ist,  das  Nackte  ohne 
jede  Einschränkung  für  unsittlich  und  schamverletzend 
zu  halten,  so  falsch  ist  es,  durch  den  steten  Anblick 
des  Nackten  die  Menschheit  veredeln  zu  wollen.  Es 
ist  bedauerlich,  daß  auf  beiden  Seiten  so  unendlich 
über  das  Ziel  hinausgeschossen  wird. 

Wenn  im  Orient  eine  Vorliebe  für  Nuditäten  be- 
stand und  zum  Teile  auch  noch  besteht,  so  läßt  sich 
gewiß    nicht    behaupten,    daß    durch    diese    Vorliebe 


—     106     — 

eine  Veredelung  und  eine  sittliche  Reinheit  der 
Menschen  herbeigeführt  oder  auch  nur  beabsichtigt 
worden  sei.  Daran  hat  sicherlich  kein  Mensch  ge- 
dacht, und  vor  allen  Dingen  hat  man  unter  der  Ver- 
edelung und  sittlichen  Reinheit  etwas  absolut  anderes 
verstanden  als  Prüderie  und  sexuelle  Enthaltsamkeit, 
die  ja  auch  in  der  Tat  meist  mit  Veredelung  und 
sittlicher  Reinheit  nicht  das  mindeste  zu  schaffen 
haben.  Im  Gegenteil;  Prüderie  schließt  sogar  natur- 
gemäß die  sittliche  Reinheit  völlig  aus.  Deshalb 
herrscht  die  Prüderie  immer  bei  Völkern  vor,  die  stark 
entsittlicht  sind.  Insbesondere  haben  die  alten  Griechen 
alles  andere  eher  gepriesen  als  die  Prüderie.  Bei 
ihnen  galt  das  Nackte  in  der  Kunst  keineswegs  als 
etwas  sexuell  Erregendes,  mindestens  nicht  im  klas- 
sischen Altertum,  sondern  höchstens  in  den  Zeiten 
des  sittlichen  Verfalls.  Man  begeisterte  sich  für  das 
Nackte  in  den  bildnerischen  Schöpfungen,  die  wir  auch 
heute  noch  bewundern,  nur  für  das  reine  Schönheits- 
ideal, und  wer  heute  die  wunderbaren  Werke  plasti- 
scher Kunst,  die  sich  bis  auf  unsere  Tage  erhalten 
haben,  nicht  von  diesem  Gesichtswinkel  aus  zu  wür- 
digen weiß,  sondern  nur  daran  denkt,  daß  die  herr- 
lichen Körperformen,  weil  sie  nicht  durch  ausgiebige 
Kleidung  verhüllt  sind,  schamverletzend  oder  gar  un- 
sittlich wirken,  der  beweist  damit  nicht  sittliche  Rein- 
heit, sondern  einen  so  bedenklichen  Grad  moralischer 
Verkommenheit,  daß  man  gut  daran  täte,  ihm  durch 
eine  reichlich  bemessene  Dosis  ungebrannter  Holz- 
asche eine  so  nachdrückliche  Lektion  zu  erteilen,  daß 
er  auf  eine  ganze  Weile  vergäße,  die  Schleusen  seiner 
Beredsamkeit  zur  Hebung  fremder  Sittlichkeit  in  Be- 


—     107     — 

trieb  zu  setzen.  Niemals  wird  ein  Volk,  das  sittlich 
auf  einem  wirklich  tiefen  Niveau  steht,  Werke  hervor- 
zubringen vermögen,  deren  ideale  Schönheit  auf  Jahr- 
tausende das  Entzücken  aller  hervorruft,  die  nicht  in 
der  Heuchelei  und  sittlichen  Scheinheiligkeit  ihre 
Lebensaufgabe  erblicken.  Es  läßt  sich  indessen  auch 
nicht  behaupten,  daß  im  Orient  ganz  allgemein  aus 
künstlerischem  Idealismus  etwa  das  Nackte  in  der 
Kunst  die  Menschheit  begeistert  hätte.  Wohl  das 
Nackte  ohne  Kunst  und  aus  anderen  Gründen. 

Dabei  liegt  natürlich  die  Sache  ganz  wesentlich 
anders,  und  das  ist  die  geschichtliche  Tatsache,  die 
sich  unsere  modernen  Lobredner  auf  das  Tanzen 
nackter  Personen  doch  lieber  einmal  etwas  sorgfältiger 
zu  Gemüte  führen  sollten.  Die  orientalische  Neigung, 
sich  am  Anblick  nackter  Körper,  besonders  von  Tänzern 
und  noch  mehr  Tänzerinnen,  zu  berauschen,  läßt 
schlechterdings,  doch  nicht  auf  ein  sittlich  völlig  ein- 
wandfreies Motiv  schließen.  Es  liegt  nun  einmal  in 
der  menschlichen  Natur,  daß  der  Anblick  eines  be- 
sonders schönen  menschlichen  Körpers  Begierden 
wachruft,  die  weder  an  sich  verwerflich  noch  un- 
sittlich, sondern  durchaus  natürlich  sind.  Darüber 
wird  auch  die  Phrase  von  der  Freude  am  Schönen 
nicht  hinwegzutäuschen  vermögen.  Anders  wirkt 
immer  das  reine  Kunstwerk  als  das  wirkliche  Leben. 
Wir  haben  durchaus  keinen  Grund,  uns  darüber  zu 
beklagen,  wir  sollen  aber  auch  nicht  eine  Tatsache 
bestreiten,  die  doch  nun  einmal  nicht  zu  leugnen  ist. 
Ich  will  mich  dabei  garnicht  auf  eine  Kritik  von 
Gründen  und  Scheingründen  einlassen,  denn  sie  führt 
zu  nichts,  schon  deshalb  nicht,  weil  die  Verschieden- 


—     108     — 

heit  der  menschlichen  Naturen  sich  nicht  in  eine  be- 
stimmte Methode  hineinzwängen  läßt.  Wenn  es  selbst 
Menschen  gäbe,  die  mit  gutem  Gewissen  behaupten 
könnten,  daß  sie  der  Anblick  einer  nackten  Tänzerin 
sexuell  absolut  nicht  errege,  daß  sie  vielmehr  nur 
die  reine  Schönheit  ohne  jeden  Nebengedanken  zu 
bewundern  vermöchten,  so  ist  damit  noch  lange  nicht 
festgestellt,  daß  dabei  nicht  eine  starke  Selbsttäuschung 
mitwirke,  und  für  die  Frage,  ob  solche  Schaustellungen 
für  die  Allgemeinheit  zulässig  seien,  würde,  selbst 
wenn  keine  Selbsttäuschung  im  Spiele  wäre,  die  ab- 
norme reine  Formenschönheitsfreude  Einzelner  garnicht 
in  Betracht  kommen  können,  da  der  normale  Durch- 
schnittsmensch doch  anders  empfindet  und  zweifellos 
sexuell  erregt  wird,  ganz  besonders  wenn  es  sich  um 
eine  schöne  Tänzerin  handelt,  die  eifrig  bestrebt  ist,  sinn- 
berückend auf  die  Menge  zu  wirken.  Eine  solche 
öffentliche  künstliche  Erregung  der  Leidenschaften  zu 
verbieten,  ist  aber  durchaus  die  berechtigte  Aufgabe 
der  Obrigkeit. 

Neu  ist  ein  solches  Einschreiten  der  Obrigkeit  doch 
ohnehin  nicht.  Schon  das  mosaische  Gesetz  unter- 
sagte die  Entblösungen  in  einer  langen  Reihe  von 
Fällen  aus  sehr  triftigen  Gründen,  und  wo  sie  ge- 
stattet war,  da  ist  auch  die  schlimme  Wirkung  nie- 
mals ausgeblieben.  Ich  vermag  überhaupt  das  Be- 
dürfnis, eine  Tänzerin  nackt  auf  der  Bühne  sich  pro- 
duzieren zu  sehen,  aus  rein  künstlerischen  und  ethi- 
schen Momenten  nicht  nachzuweisen,  sondern  kann, 
obwohl  ich  doch  gewiß  in  Kunstsachen  sehr  liberal 
denke  und  ein  erbitterter  Feind  jeder  Prüderie  bin,  mich 
nicht  von  der  Ansicht  bekehren,  daß  es  für  die  meisten 


—     109    — 

Menschen  ebenso  wie  für  mich  ein  mehr  als  peinliches 
Empfinden  sein  würde,  in  einem  Theater  zu  sitzen, 
auf  dessen  Bühne  nackte  Tänzer  und  Tänzerinnen 
sich  produzierten;  ja  ich  mache  kein  Hehl  daraus, 
daß  für  mich  der  Anblick  absolut  schamverletzend 
sein  würde,  wenn  ich  ihn  etwa  gemeinschaftlich  mit 
einer  fremden  Dame,  in  Gegenwart  von  Eltern,  Kindern, 
Braut  oder  Frau  über  mich  ergehen  lassen  sollte. 
Doch  nun  zurück  ins  orientalische  Altertum. 

Schon  die  Geschichte  Davids  mit  Bath-Seba, 
dem  Weibe  des  Hethiters  Urias,  belegt  das  Gesagte. 
„Und  es  begab  sich,  daß  David  um  den  Abend  auf- 
stand von  seinem  Lager,  und  ging  auf  dem  Dach 
des  Königshauses,  und  sah  vom  Dach  ein  Weib  sich 
waschen;  und  das  Weib  war  sehr  schöner  Gestalt." 
So  heißt  es  im  2.  Samuelis,  Kap.  11,  V.  2.  Diese 
wenigen  Worte  schildern  schon  in  klassischer  Form 
die  Wirkung  des  nackten  Körpers.  David  denkt  an 
Liebesabenteuer  überhaupt  nicht;  er  erhebt  sich  von 
seinem  Ruhelager  und  begibt  sich  auf  das  Dach  seines 
Hauses,  um  dort  in  freier  Luft  ein  wenig  zu  wandeln. 
Da  sieht  er  die  schöne  Bath-Seba,  die,  wie  der  Text 
sagt,  von  sehr  schöner  Gestalt  war.  Sofort  wird  er 
von  wilder  Begierde  ergriffen.  Er  sendet  Boden  aus, 
die  sich  erkundigen  müssen,  wer  das  Weib  sei,  und 
als  er  es  erfuhr,  ließ  er  die  Schöne  selbst  kommen 
und  schlief  bei  ihr,  wie  die  Bibel  kurz  sagt.  Das 
war  also  die  Verführung  des  verführten  Verführers, 
denn  ein  solcher  war  David  durch  den  berauschenden 
Anblick  des  herrlichen  Frauenkörpers.  Es  ist  bekannt, 
wie  David  die  Folgen  dieses  kurzen  Liebesrausches 
dadurch  zu  verbergen  suchte,  daß  er  den  Mann   des 


—     110     — 

Weibes  veranlassen  wollte,  sich  zu  Bath-Seba  zu 
begeben,  um  so  den  Anschein  zu  erwecken  als  sei 
Uria  der  wirkliche  Vater  des  Kindes  seiner  Frau. 
Der  königstreue  Hethiter  folgte  dem  Winke  aber  nicht, 
da  er  treu  bei  dem  Könige  mit  den  anderen  Kriegs- 
leuten wachen  will.  Nun  ist  David  teuflisch  genug, 
den  Mann  mit  einem  Briefe  an  seinen  Feldherrn 
Joab  zu  senden.  In  diesem  Briefe  aber  war  der  Be- 
fehl enthalten,  daß  Uria  in  der  Feldschlacht  so  ver- 
wendet werden  solle,  daß  er  erschlagen  werde  und 
sterbe.  Ehebruch  und  Mord;  das  waren  die  Erfolge 
des  Anblicks  eines  schönen  Frauenkörpers. 

Es  wäre  aber  völlig  verfehlt,  etwa  behaupten  zu 
wollen,  daß  gerade  David  besonders  prädestiniert  ge- 
wesen sei,  einer  solchen  Versuchung  zu  unterliegen; 
es  ist  im  Gegenteil  viel  eher  anzunehmen,  daß  auf 
die  Durchschnittsmenschen  der  Anblick  ebenso  ge- 
wirkt haben  würde  wie  auf  den  weit  über  die  Durch- 
schnittsmenschen hinausragenden  David.  David  hätte 
sogar  durch  seine  zahlreichen  Weiber  viel  eher  Ge- 
legenheit finden  können,  seine  sexuelle  Erregtheit  zu 
befriedigen;  aber  der  Anblick  der  schönen  jBath-Seba 
hatte  seine  Begierde  so  erweckt,  daß  er  gerade  diese 
Frau  für  sich  haben  mußte.  Daß  er  die  Macht  besaß, 
den  historisch  gewordenen  und  sprichwörtlich  ver- 
wendeten Uriasbrief  zu  schreiben,  das  ist  ein  Um- 
stand, den  zwar  nicht  viele  Menschen  bei  solch 
einem  Abenteuer  zu  verzeichnen  haben  würden;  die 
Moral  der  Geschichte  ist  aber  nicht  die  weitere  ab- 
scheuliche Entwickelung  des  Dramas,  sondern  die 
Wirkung  des  nackten  Frauenkörpers. 


—    111    — 

So  wird  dem  Tiraquell  folgende  Historie  nacherzählt, 
die  ich  in  der  Schreibweise  eines  älteren  Schriftstellers 
wiedergeben  will:  „Aristoclea,  ein  ausbündig  schön  Mäd- 
gen,  opfferte  einsmahl  dem  Gott  Jovi  nackend,  da  ein 
vornehmer  Jüngling,  Nahmens  Strato,  sie  ungefehr  ersähe, 
und  darüber  in  Liebe  gegen  sie  heftig  entzündet  ward. 
Es  hatte  sie  aber  auch  ein  ander,  mit  Nahmen  Callisthenes, 
lieb,  drum  als  sie  Hochzeit  hielt,  haben  sich  diese  beyde 
so  grausam  um  sie  gezerret,  und  einer  den  andern 
dieselbe  wieder  nehmen  wollen,  daß  endlich  im  Grimm 
das  gute  Mensch  drüber  in  stücken  zerrissen  worden, 
auf  deren  toten  Cörper  sich  Strato  erstochen." 

Hier  ist  das  Drama  recht  wesentlich  von  dem 
des  Königs  David  verschieden,  aber  der  Grundton 
ist  doch  genau  derselbe.  Das  „ausbündig  schöne 
Mädgen"  wird  von  einem  für  Frauenschönheit  sehr 
empfänglichen  Manne  belauscht,  als  es  nackt  im  Zeus- 
tempel opfert.  Strato  war  ein  gesitteter  Mann,  sonst 
würde  er  sich  auf  die  Schönheit,  die  ihn  bis  zum 
Wahnsinn  begeistert  hatte,  wohl  energisch  gestürzt 
und  ihr  Anträge  gestellt  haben  wie  der  König  David 
der  Gattin  des  Hethiters.  Das  tat  er  nicht;  er  war 
aber  in  die  schöne  Aristoclea  so  verliebt,  daß  ihn 
deren  sinnberückendes  Bild  nicht  mehr  verließ.  Er 
mag  errötend  ihren  Spuren  gefolgt  sein;  aber  damit 
hat  er  nicht  erreicht,  daß  Aristoclea  ihm  eine  be- 
sondere Aufmerksamkeit  schenkte.  Strato  hat  auch 
das  ertragen;  als  er  aber  erfuhr,  daß^sie  ein  anderer 
auch  lieb  habe,  und  daß  sie  diesen  Anderen  heiraten 
wollte,  da  stand  das  Bild  ihrer  nackten  Schönheit  ihm 
wieder  vor  Augen,  und  diese  Schönheit  einem  Andern 
überlassen,  den  Gedanken  mit  sich  herumtragen,  daß 


—     112     — 

ein  Anderer  diesen  herrlichen  Körper  besitzen  und 
des  namenlosen  Glückes  teilhaftig  werden  sollte,  nach 
dem  er  selbst  vergeblich  schmachtete,  das  konnte  Strato 
nicht  ertragen.  Er  kämpfte  mit  dem  glücklichen  Neben- 
buhler Callisthenes,  und  der  Chronist  drückt  sich 
wohl  allzu  bildlich  aus,  wenn  er  sagt,  daß  beyde  sich 
um  die  Braut  gezerret  hätten,  bis  das  gute  Mensch 
in  Stücke  gerissen  worden  sei;  jedenfalls  ist  aber  der 
Aristoclea  ihre  ungewöhnliche  Schönheit  verhängnis- 
voll geworden;  sie  wurde  in  dem  Kampfe  getötet, 
und  Strato  erstach  sich  über  der  Leiche.  Er  hat  sie 
also  geliebet  „bis  in  den  Tod."  Das  alles  war  aber 
nur  die  Folge  davon,  daß  er  sie  nackt  belauscht  hatte. 
Was  aus  Callisthenes  geworden  ist,  verschweigt  die 
Geschichte.  Wie  es  scheint,  hat  er  den  Fall  über- 
lebt; vielleicht  hat  er  die  schöne  Aristoclea  nicht  gar 
so  glühend  geliebt  wie  Strato;  vielleicht  hatte  er  sie 
nicht  nackt  gesehen. 

Das  sind  Geschichten,  die  man  trotz  ihres  tragi- 
schen Ausganges  und  trotz  ihres  ganzen  Verlaufes 
fast  noch  naive  Liebesäffären  nennen  könnte,  wenig- 
stens dann,  wenn  man  sie  mit  dem  vergleicht,  was 
sonst  im  Morgenlande  an  „nackten  Geschichten"  vor- 
gekommen ist.  Ich  möchte  jedoch,  ehe  ich  zu  der 
allgemeinen  Schwärmerei  für  Nuditäten  übergehe,  noch 
eine  Geschichte  erzählen,  die  wieder  etwas  anderes 
bringt,  schließlich  aber  gerade  deshalb  in  der  Kette 
ein  wichtiges  Glied  bildet.  Der  König  Gandaules  III. 
von  Lydien  besaß  eine  schöne  Gemahlin,  die  er 
närrisch  liebte,  und  auf  deren  Schönheit  er  nicht 
wenig  stolz  war.  Eines  schönen  Tages,  als  sich  die 
Königin  nackt  in  ihrem  Gemache  befand,  rief  Gandaules 


—     113     — 

seinen  Freund  Gyges  und  zeigte  ihm  die  Gattin  mit 
allen  ihren  geheimsten  Reizen  durch  eine  kleine  Öff- 
nung in  der  Tür.  Das  war  also  eine  Geschichte,  die 
der  des  österreichischen  Prinzen  nicht  unähnlich  war, 
die  seinerzeit  so  viel  unliebsames  Aufsehen  erregt  hatte. 
Gyges  war  Kenner  und  fühlte  sich  durch  den  Anblick 
der  schönen  Königin  derartig  erregt,  daß  er  nicht 
mehr  Herr  seiner  selbst  war.  Wie  die  Geschichte 
endete,  erzählt  ein  alter  Chronist  mit  lakonischer  Kürze 
folgendermaßen:  „drüber  der  König  das  Leben  ver- 
lohr,  und  Gyges  an  seine  stat  die  Gemahlin  und  das 
Königreich   bekahm." 

Hier  hatte  also  der  König  selbst  seinen  Unter- 
gang heraufbeschworen.  Nach  Herodot  hat  sich  die 
Geschichte  so  abgespielt,  daß  Gandaules  in  der  Tat 
seinem  Günstling  Gyges  die  Reize  seiner  schönen 
Gattin  zeigen  wollte  und  ihn  deshalb  in  deren  Zimmer 
verbarg.  Nun  soll  die  schöne  Tudo  den  Eindring- 
ling aber  entdeckt  haben  und  über  die  Frivolität  ihres 
Gatten  so  entrüstet  gewesen  sein,  daß  sie  dem  Gyges 
erklärte,  sie  wolle  ihm  selbst  die  Wahl  zwischen  zwei 
Möglichkeiten,  ihre  Ehre  wieder  herzustellen,  über- 
lassen. Sie  könne  und  dürfe  sich  nackt  nur  vor  ihrem 
Gatten  zeigen  und  werde  es  nicht  dulden,  daß  ein 
fremder  Mann,  der  sie  so  gesehen  habe,  unter  den 
Lebenden  weile.  Entweder  müsse  also  Gyges  sterben, 
oder  er  müsse  ihr  Gatte  werden  und,  um  dies 
möglich  zu  machen,  ihren  jetzigen  Gatten  Gandaules 
ermorden.  Gyges  war  durch  den  Anblick  der  schönen 
Tudo  so  in  Liebe  entbrannt,  daß  er  durchaus  nicht 
abgeneigt  war,  sie  zu  seiner  Gattin  zu  machen.  Das 
Leben  erschien  ihm  namentlich  mit  der  Aussicht  auf 

8 


—     114     — 

den  alleinigen  Besitz  der  Tudo  doppelt  schön  und 
wertvoll,  so  daß  er  überhaupt  keine  Lust  verspürte, 
es  gerade  jetzt  zu  verlieren.  Dazu  kam  noch  die  Er- 
wägung, (daß  doch  selbst  Gandaules  die  Katastrophe 
heraufbeschworen  hatte,  daß  also  nur  er  die  gerechte 
Strafe  verdiente,  falls  das  Anschauen  seiner  nackten 
Gemahlin  wirklich  ein  todeswürdiges  Verbrechen  war. 
So  entschloß  sich  Gyges  ziemlich  leicht,  wie  er  die 
Ehre  der  Tudo  retten  könne;  er  ermordete  den  König 
wirklich.  Durch  diese  Tat  erhielt  er  nicht  allein 
eine  äußerst  begehrenswerte  Gattin,  sondern  er  wurde 
als  Gatte  der  Königin  selbst  Herrscher  über  das 
lydische  Reich. 

Das  Volk,  das  au  und  für  sich  nichts  zu  sagen 
hatte,  war  aber  doch  über  den  Königsmord  sehr 
entrüstet  und  wollte  den  Gyges  strafen,  statt  ihn  zum 
König  haben.  Nun  kam  diesem  aber  eine  Hilfe,  die 
zwar  etwas  unerwartet  kommen  mochte,  aber  desto 
sicherer  und  widerspruchsloser  wirkte.  Man  fragte 
nämlich  das  berühmte  Delphische  Orakel,  was  man 
in  dieser  sehr  schwierigen  Lage  zu  tun  habe,  und 
das  Orakel  war  dem  Königsmörder  sehr  günstig  ge- 
sinnt und  antwortete,  man  solle  ihn  zum  König  an- 
nehmen und  werde  sich  gut  dabei  stehen.  Gandaules 
war  ja  ohnehin  nicht  wieder  ins  Leben  zurückzurufen, 
also  befolgte  man  den  Orakelspruch,  und  es  war  richtig, 
man  stand  sich  gut  dabei.  Gyges  regierte  38  Jahre 
und  machte  auch  Eroberungen,  die  dem  Reiche  zum 
Vorteil  gereichten.  Gegen  das  Delphische  Orakel 
erwies  er  sich  übrigens  sehr  dankbar,  denn  er  machte 
für  den  ihm  günstigen  Wahrspruch  ein  wirklich  fürst- 
liches  Geschenk. 


—     115     — 

Gyges  ist  eine  wirklich  historische  Person,  und 
es  ist  historisch  erwiesen,  daß  er  sich  tatsächlich  die 
Herrschaft  über  Lydien  angeeignet  hat.  Freilich  wollen 
einige  Historiker  wie  z.  B.  Plutarch,  die  romanhafte 
Geschichte  mit  der  Tudo  nicht  gelten  lassen,  sondern 
erzählen  nüchtern,  daß  Gyges  die  Herrschaft  durch 
einen  Aufstand  mit  Heeresmacht  errungen  habe.  Aber 
nach  anderen  Quellen,  die  auch  Hebbel  benutzt  hat, 
ist  die  Geschichte  noch  viel  mystischer  gewesen.  Da- 
nach soll  Gyges  als  Hirt  in  einer  unterirdischen  Höhle 
einen  Zauberring  entdeckt  und  an  sich  genommen 
haben.  Dieser  Ring  habe  die  außerordentliche  Kraft 
besessen,  seinen  Besitzer  unsichtbar  zu  machen,  so- 
bald dieser  den  Ring  so  drehte,  daß  dessen  Stein 
nach  einwärts  gerichtet  war.  Gyges  habe  sich  in 
die  schöne  Tudo  verliebt,  sich  ihr  mit  Hilfe  seines 
Ringes  genaht,  ohne  von  jemandem  gesehen  zu  werden 
und  mit  ihr  die  Freuden  der  Liebe  genossen,  dann 
den  König  Gandaules  ermordet,  da  er  sich  in  den 
Besitz  der  Tudo  mit  niemandem,  am  wenigsten  mit 
deren  rechtmäßigem  Gatten,  teilen  wollte.  Auch  nach 
dieser  Erzählung  ist  also  die  Verliebtheit  des  Gyges 
an  dem  Königsdrama  schuld,  und  diese  Verliebtheit 
ist  durch  den  Anblick  der  nackten  Tudo  hervorge- 
rufen worden,  denn  gerade  diesen  Anblick  verschaffte 
sich  Gyges  mit  Hilfe  seines  Zauberrings.  Wer  aber 
an  dieses  ebenso  seltene  wie  begehrenswerte  Kleinod 
nicht  recht  glauben  will,  der  wird  wohl  der  Herodot- 
schen  Erzählung  die  größere  Wahrscheinlichkeit  bei- 
messen müssen. 

Das  ist  ja  auch  schon  deshalb  empfehlenswerter, 
weil  sie  einen  Einblick  in  die  alten  lydischen  Sitten- 


—     116     — 

anschauungen  gestattet.  Es  darf  wohl  als  etwas  auf- 
fallend betrachtet  werden,  daß  Tudo  die  Belauschung 
durch  Gyges  gar  so  tragisch  auffaßte,  obwohl  doch 
ihr  eigener  Gatte  seine  heiligsten  Rechte  auf  die  ihm 
allein  geweihten  körperlichen  Geheimnisse  seiner 
Gattin  nicht  so  überaus  streng  zu  wahren  suchte.  Wer 
die  Gattin  eines  Mannes  unverhüllt  erblickt  hatte,  der 
mußte  sterben.  Davon  wollte  Tudo  auf  keinen  Fall 
absehen.  Das  war  in  der  Tat  orientalisches  Recht, 
das  hier  allerdings  etwas  schärfer  ausgelegt  wurde, 
als  dies  sonst  zu  geschehen  pflegte.  Das  Recht  hat 
doch  den  Grundgedanken  als  Basis,'  daß  die  Rechte 
des  Mannes  von  der  Unverletzlichkeit  seiner  Frau 
oder  Frauen  in  der  denkbar  schärfsten  Weise  ge- 
wahrt werden  sollten.  Wie  ja  auch  jetzt  noch  bei 
einzelnen  orientalischen  Völkerschaften  der  Mann  den 
mit  dem  Tode  straft,  der  es  wagt,  seine  Frauen  un- 
verschleiert  anzusehen.  Gandaules  hatte  zwar  auf 
dieses  Recht  selbst  verzichtet;  aber  seine  Gattin  hielt 
dies  doch  nicht  für  ausreichend,  eine  Tat,  die  todes- 
würdig war,-  ungesühnt  zu  lassen.  Sie  ist  deshalb 
nach  der  Sitte  ihres  Landes  eine  unbegrenzt  tugend- 
hafte Person  gewesen.  Daß  sie  dies  veranlaßt  hat, 
die  Ermordung  ihres  Gatten  zu  verlangen  und  die 
Heirat  des  Moralverletzers,  das  ist  eben  das  Inter- 
essante bei  der  Sache,  denn  es  lehrt  oder  bestätigt 
vielmehr  den  alten  Erfahrungssatz,  daß  eine  strenge 
Befolgung  moralischer  und  religiöser  Glaubenssätze  in 
der  Regel  zu  Konsequenzen  führt,  die  geradezu  wie 
Wahnsinn  erscheinen. 

Übrigens  hat  das  Altertum  —  Gyges  regierte  von 
716—678  v.  Chr.  —  in  der  Tat  scharfe  Bestimmungen 


—     117     — 

über  die  Nuditäten  gekannt,  tausendmal  schärfer  als 
sie  unsere  so  oft  als  Zeitalter  des  Muckertums  ver- 
schrieene Zeit  für  möglich  hält.  Nach  Plutarch  hat 
auch  Romulus  ein  Gesetz  gegeben,  nach  dem  der 
des  Todes  sein  sollte,  der  sich  nackt  von  einem  Weibes- 
bilde beschauen  ließ.  Ich  bin  allerdings  nicht  in  der 
Lage,  nachzuweisen,  ob  jemals  auf  Grund  dieses  Ge- 
setzes hingerichtet  worden  ist,  oder,  falls  dies  wirk- 
lich niemals  geschehen  sein  sollte,  ob  die  Männer 
selbst  so  sittlich  dachten  und  empfanden,  daß  tat- 
sächlich keiner  dieses  Gesetz  verletzte,  was  allerdings 
eigentlich  den  Gedanken  wachrufen  müßte,  daß  dann 
das  Gesetz  höchst  wahrscheinlich  überhaupt  nicht 
hätte  gegeben  zu  werden  brauchen,  weil  erfahrungs- 
mäßig solche  Gesetze  doch  nur  dann  gegeben  zu 
werden  pflegen,  wenn  das,  was  sie  verbieten,  eben 
schon  so  oft  'geschehen  ist,  daß  man,  um  Wieder- 
holungen zu  verhüten,  zu  scharfen  Strafandrohungen 
greift.  Ich  kenne  dagegen  einen  von  Cassius  und 
Zeiler  berichteten  Fall,  in  dem  das  Gesetz  nicht  An- 
wendung fand.  Als  nämlich  die  Gattin  des  Kaisera 
Augustus,  Livia,  einst  lustwandelte,  begegneten  ihr 
einige  nackte  Männer.  Da  das  Gesetz  noch  bestand, 
sollten  diese  in  der  Tat  hingerichtet  werden,  obwohl 
doch  die  Moral  ans  chauungen  seit  den  Tagen  des  braven 
Romulus  sich  recht  erheblich  gemildert  hatten.  Die 
Kaiserin  erklärte,  daß  für  ein  sittenreines  Weib  der 
Anblick  eines  nackten  Mannes  in  keiner  Weise  ver- 
letzend sei,  da  er  nicht  anders  wirke  als  der  Anblick 
einer  leblosen  Statue;  die  ja  auch  die  Sittlichkeit  in 
keiner  Weise  gefährden  könne,  wenn  der  Erblicker 
überhaupt  Sittlichkeit  besitze.     Dieser  Ausspruch  der 


—     118     — 

Kaiserin  rettete  in  der  Tat  den  nackten  Männern  das 
Leben.  Es  läßt  sich  wohl  auch  schwerlich  verkennen, 
daß  dieser  Ausspruch  völlig  unanfechtbar  ist,  denn 
der  bloße  Anblick  eines  Körpers  ist  in  Wirklichkeit 
für  einen  Menschen,  der  sittlich  denkt  und  empfindet, 
dasselbe  wie  der  Anblick  einer  Statue;  es  wird  nur 
immer  das  in  uns  erregt  und  zum  Mitklingen  ange- 
regt, was  auf  den  gleichen  Ton  gestimmt  ist,  wie 
nur  die  Saite  eines  Instruments  mit  schwingt  und  in- 
folgedessen mitklingt,  die  auf  den  gleichen  Ton,  der 
laut  wird,  gestimmt  ist  Wird  also  ein  unsittlicher 
Wunsch  in  uns  lebhaft,  weil  wir  etwas  sehen,  was! 
an  sich  natürlich  ist,  so  muß  dieser  Wunsch  schon 
vorher  in  uns  gelebt  haben;  er  wird  angeregt,  nicht 
erst  erzeugt  und  wir  könnten  diese  wichtige  und 
interessante  Frage  ohne  weiteres  mit  mathematischer 
Sicherheit  in  jedem  Einzelfalle  beantworten,  wenn  wir 
so  klar  wie  die  Kaiserin  definiren  könnten,  was  sitt- 
lich und  was  unsittlich  sei.  Ich  vermag  in  den  sexuellen 
Trieben  nichts  unsittliches  zu  finden  und  meine,  daß 
die  gute  Livia  Pflichtgefühl  und  Sittlichkeit  doch  nicht 
völlig  einwandfrei  getrennt  hat.  Vielleicht  ist  es  ihr 
überhaupt  nur  darum  zu  tun  gewesen,  den  Männern, 
von  denen  sie  wußte,  daß  sie  nichts  Böses  beabsichtigt 
hatten,  das  Leben  zu  retten.  Vieleicht  hat  sie  auch 
den  übereifrigen  Sittlichkeitshütern  eine  Lektion  er- 
teilen wollen. 

Das  Gesetz  des  Romulus  unterscheidet  sich  von 
dem  lydischen  Gesetze,  das  dem  armen  und  leicht- 
fertigen König  Gandaules  das  Leben  kostete,  dadurch, 
daß  nach  diesen  das  Anblicken  nackter  Weiber,  nach 
jenem  der  Anblick  nackter  Männer  als  todeswürdiges 


—     119     — 

Verbrechen  galt.  Der  Unterschied  ist  also  doch  sehr 
wesentlich,  obwohl  bei  ganz  oberflächlicher  Betrach- 
tung überhaupt  kein  Unterschied  vorhanden  zu  sein 
scheint  Für  die  Lyder  und  überhaupt  die  Orientalen 
ist  das  Weib  für  jeden  Mann,  der  nicht  ihr  Gatte  ist, 
ein  absolutes  Noli  me  tangere.  Es  ist  das  ungefähr 
dasselbe,  was  ich  im  „Liebesleben  im  alten  Deutsch- 
land" über  die  Keuschheit  der  Frauen  gesagt  habe, 
d.  h.  das  Weib  war  als  Eigentulm  des  Mannes  un- 
antastbar. Auch  im  Orient  ist  das  Recht  des  Mannes 
der  Grundgedanke  der  strengen  Vorschriften.  Anders 
im  Gesetz  des  Romulus.  Da  war  eben  die  stolze 
Würde  des  Mannes  entscheidend  dafür,  daß  diese  nicht 
vor  den  Weibern  herabgewürdigt  wurde.  Die  Weiber 
selbst  waren  nicht  so  vor  dem  Betrachtetwerden  be- 
wahrt. Es  kam  vielmehr  im  alten  Rom  garnicht  darauf 
an,  ob  der  entblößte  Körper  eines  Weibes  vor  den 
Blicken  der  Männer  geschützt  wurde  oder  nicht; 
jedenfalls  wurde  das  Weib,  das  sich  nackt  den  Blicken 
eines  Mannes  aussetzte,  nicht  getötet  noch  mit  Strafen 
bedroht,  sofern  es  nicht  gerade  zu  den  vestalischenl 
Jungfrauen  gehörte,  die  ja  aus  wesentlich  anderen 
Gründen  zu  einer  mimosenhaften  Empfindsamkeit  ge- 
zwungen waren.  Man  liebte  es  sogar,  bei  festlichen 
Aufzügen  nackte  Weiber  auftreten  zu  lassen,  und  es 
ist  sicher,  daß  dieser  Anblick  auf  die  Römer  doch 
erheblich  anders  wirkte  als  das  Beschauen  einer 
schönen  Statue;  das  lag  aber  an  den  Römern. 

Denselben  Geschmack  an  Nuditäten  fanden  auch 
die  Griechen,  die  sogar  Ringkämpfe  von  nackten 
Weibern  aufführen  ließen,  also  doch  noch  einen  Schritt 
weiter  gingen  als  wir,  die  wir  unsere  Ringkämpferinnen 


—     120     — 

wenigstens  in  Trikots  schlüpfen  lassen,  obwohl  ja  auch 
bei  uns  das  wesentlichste  Interesse  an  solchen  Ring- 
kämpfen viel  weniger  auf  die  gebotene  Gewandtheit 
und  Kraftentfaltung  als  auf  die  Präsentation  des  weib- 
lichen Körpers  in  allerlei  reizvollen  Situationen  und 
auf  das  Muskelspiel  zurückzuführen  ist,  wenigstens 
zieht  dieses  Interesse  die  meisten  Besucher  zu  den 
Damenringkämpfen  hin.  Die  weiblichen  Ringkämpfe 
im  alten  Griechenland  erfreuten  sich  großer  Beliebt- 
heit, und  es  mag  dabei  in  der  Tat  auch  so  zuge- 
gangen sein,  daß  die  Zuschauer  wirklich  auf  ihre 
Rechnung  kamen.  Das  war  weder  verboten,  noch  er- 
schien es  Anstoß  erregend;  im  Gegenteil  hatte  schon 
Lykurg  diese  Materie  gesetzlich  geregelt,  und  Plato 
soll  dieses  Gesetz  ausdrücklich  gutgeheißen  und  be- 
stätigt haben.  Der  fromme  Eusebius  und  auch  andere 
Kirchenväter  waren  über  diese  Ungeniertheit  äußerst 
aufgebracht  und  schimpften  über  die  sündhafte  Un- 
sittlichkeit  wie  die  Rohrspatzen.  Sie  sind  besonders 
deshalb  so  aufgebracht  gewesen,  weil  die  Nacktheit 
keineswegs  auf  das  weibliche  Geschlecht  beschränkt 
blieb.  Es  sollen  vielmehr  nackte  Jungfrauen  mit 
nackten  Jünglingen  solche  Ringkämpfe  ausgefochten 
haben,  ja  selbst  ältere  Männer  mit  älteren  Frauen 
sollen  als  Ringkämpfer  in  die  Schranken  getreten  sein. 
Ebenso  sollen  bei  den  öffentlichen  Spielen  und  Auf- 
zügen Männer  und  Weiber  in  bunter  Reihe  völlig 
nackt  sich  beteiligt  haben.  Diese  Unsitte  wird  be- 
sonders aus  dem  alten  Athen  berichtet. 

Anders  soll  bei  den  Spartanern  der  Nuditätskult 
betrieben  worden  sein.  Es  war  dort  wohl  Brauch, 
daß    die    Jünglinge    völlig    nackt    miteinander   Ring- 


—     121     — 

kämpfe  veranstalteten,  aber  es  war  den  Weibern  streng 
verboten  gewesen,  sich  dort  sehen  zu  lassen  oder 
gar  den  Kampfesspielen  zuzusehen.  Nun  stimmt  das 
allerdings  historisch  keineswegs  mit  dem,  was  über 
die  Unsitte  der  Athenienser  berichtet  wird,  denn 
Lykurgos  war  nicht  Gesetzgeber  in  Athen,  sondern 
spartanischer  Legislator.  Hat  er  also  die  Kämpfe  der 
nackten  Jünglinge  und  Jungfrauen  gesetzlich  vorge- 
schrieben, dann  kann  er  sie  doch  nur  den  Spartanern 
angeraten  haben,  nicht  den  Atheniensern,  die  sich  jeden- 
falls von  den  spartanischen  Gesetzgebern  keine  Vor- 
schriften hätten  machen  lassen.  Es  ist  schon  aus 
diesem  Schnitzer  zu  entnehmen,  daß  auch  in  den  an- 
scheinend ein wandsfreiesten  Berichten  über  das  öffent- 
liche Leben  des  Altertums  nicht  alles  Gold  ist,  was 
glänzt.  Man  wird  wohl  deshalb  zu  der  Annahme  be- 
rechtigt sein,  daß  in  Spartan  dieselben  Unsitten 
herrschten  wie  in  Athen.  Freilich  wird  man  dabei 
nicht  allzu  äußerlich  urteilen  dürfen.  Daß  die  Ring- 
kämpfe nackter  Frauen  und  Männer  nach  unseren 
Begriffen  etwas  überaus  Skandalöses  darstellen,  kann 
nicht  bestritten  werden,  aber  daß  sie  gesetzlich  ge- 
regelt waren,  das  läßt  doch  schon  erkennen,  daß  sie 
mindestens  nicht  als  eine  Unsittlichkeit  empfunden 
wurden.  Man  muß  dabei  immer  davon  ausgehen,  daß 
auch  die  griechischen  Gesetze  zur  Zeit  keineswegs 
das  duldeten,  was  als  unsittlich  erschien,  und  weder 
Lykurgos  noch  Plato  dürfen  als  Männer  gedacht 
werden,  die  etwa  darauf  ausgegangen  wären,  der  Un- 
sittlichkeit in  ihrem  Vaterlande  Tür  und  Tor  zu 
öffnen.  Im  Gegenteil;  sie  waren  Männer,  die  das 
Beste  erstrebten,  und  wenn  sie  die  Frauen  an  Leibes- 


—     122     — 

Übungen  teilnehmen  ließen,  so  glaubten  sie,  gerade  da- 
durch das  Wohl  des  Vaterlandes  zu  fördern,  denn 
starke,  gesunde  Weiber  waren  nach  ihrer  Ansicht 
allein  befähigt,  starke  und  gesunde  Nachkommen  zu 
liefern,  ein  Gedanke,  der  an  sich  so  absolut  richtig" 
und  zutreffend  ist,  daß  es  sich  wohl  erübrigt,  ihn  noch 
besonders  auf  seine  Berechtigung  zu  prüfen.  Eine 
andere  Frage  ist  es  allerdings,  ob  es  eben  nur  den 
einen  Weg  gegeben  habe,  die  Gesundheit  und  Körper- 
kraft der  Weiber  zu  fördern.  Aber  auch  dabei  darf 
man  nicht  übersehen,  daß  der  Geist  jener  Zeiten,  wie 
dies  auch  schon  in  den  olympischen  Spielen  in  die 
Erscheinung  tritt,  nicht  die  im  Verborgenen  blühenden 
Veilchen  als  höchstes  Ideal  betrachtete,  sondern  daß 
Jeder,  der  über  ungewöhnliche  Kraft  und  Gewandtheit 
verfügte,  in  erster  Linie  danach  trachtete,  diese 
schätzenswerten  Eigenschaften  auch  in  der  Öffent- 
lichkeit anerkannt  zu  sehen.  Es  gibt  eben  keinen  leb- 
hafteren Ansporn  als  den,  öffentlich  um  die  Palme 
zu   ringen. 

Dieser  Ansporn,  den  das  Ringen  nach  öffentlicher 
Anerkennung  naturgemäß  bietet,  ist  das  Gesunde  und 
doch  auch  zugleich  das  Bedenkliche  bei  der  ganzen 
Sache,  Gesund,  weil  eben  der  Zweck  der  aufge- 
wendete Mühe  und  Anstrengung  darauf  gerichtet  ist, 
das  Höchste  und  Vollkommenste  zu  erreichen.  Die 
Mühe  ist  der  Preis  des  Erfolges;  aber  diese  Mühe 
ist  ja  gerade  das,  was  einziges  Erfordernis  ist,  die 
Kräfte  zu  stählen,  die  Muskeln  zu  üben  und  den 
Körper  geschmeidig  und  gewandt  zu  machen.  Wo 
alle  im  lebhaftesten  Wettbewerb  stehen,  wird  natür- 
lich  die   aufgewendete   Arbeit   für   alle   den    schönen 


—     123     — 

Erfolg  haben;  alle  werden  kräftig  und  gesund  ihre 
Glieder  bilden  und  erhalten.  Ließ  man  das  weib- 
liche Geschlecht  an  diesem  Wettkampfe  teilnehmen, 
dann  wurde  ohne  weiteres  erreicht,  daß  es  nicht  an 
der  Hauptbedingung,  unter  der  ein  starkes  und  festes 
Geschlecht  sich  fortpflanzen  konnte,  fehlte,  nämlich  an 
starken  und  gesunden  Müttern.  Das  war  also  eine 
durchaus  solide  Idee.  Daß  man  die  Kampfspiele  nackt 
übte,  das  ergibt  sich  zwanglos  aus  der  Natur  der  Sache, 
denn  die  Kleidung,  die  jede  freie  Bewegung  hindert, 
dem  Gegner  außerdem  gerade  beim  Ringkampfe  außer- 
ordentliche Vorteile  bietet,  hätte  einem  wirklichen  und 
uneingeschränkten  Entfalten  von  Kraft  und  Gewandt- 
heit unüberwindliche  Hindernisse  in  den  Weg  gestellt. 
Trikots,  durch  die  man  in  unserer  Zeit  Gymnastikern 
und  ähnlichen  Artisten  die  „Arbeit"  erleichtert  oder 
überhaupt  erst  ermöglicht,  gab  es  nicht;  man  hätte 
sie  überhaupt  nicht  herzustellen  vermocht,  selbst  wenn 
man  der  Ansicht  gewesen  wäre,  daß  eine  künstliche 
Verhüllung  des  Nackten  dringend  notwendig  sei.  Diese 
Ansicht  hegte  man  aber  auch  keineswegs,  weil  man 
glaubte,  daß  ein  Mensch,  der  über  einen  schön  ge- 
wachsenen und  kräftig  gebauten  Körper  verfüge,  sich 
dessen  unter  keinen  Umständen  zu  schämen  brauche. 
Vor  allen  Dingen  würde  man  es  nicht  begriffen  haben, 
daß  ein  nackter  Körper  etwas  empörend  Unanständiges 
sei,  daß  aber  derselbe  Körper  sofort  absolut  einwands- 
frei  bleibe,  sobald  er  in  einem  fleischfarbigen  Trikot 
erscheine,  das  man  zwar  als  eine  Kleidung  nicht 
einmal  erkenne,  das  aber  schon,  weil  man  es  bloß 
vermute,  alle  moralischen  Bedenken  sofort  vernichte. 
Ich   weiß   sehr   wohl,   daß   ja  das   Trikot  allein   nach 


—     124     — 

unseren  heutigen  Begriffen  noch  nicht  ausreichen 
würde,  seinen  Träger  oder  seine  Trägerin  als  wohl- 
anständig erscheinen  zu  lassen,  daß  vielmehr  zu  dem 
Trikot  noch  ein  Übergewand  zu  treten  hat,  das  den 
Oberkörper  schamhaft  verhüllt;  aber  wenn  das  Ge- 
sagte wirklich  hierdurch  völlig  widerlegt  werden  könnte, 
nun  dann  dürfte  man  sich  doch  einfach  auf  das  Über- 
gewand  beschränken.  Das  würde  aber  nach  heutigen 
Begriffen  doch  absolut  nicht  ausreichen ;  der  Gedanke, 
völlig  nackte  Beine  zu  sehen,  würde  vielmehr  auch 
denen  ein  Horror  sein,  die  daran  gewöhnt  sind,  unsere 
Damenwelt  bei  Bällen  und  sonstigen  feierlichen  Ge- 
legenheiten mit  so  weit  entblößtem  Oberkörper  zu 
betrachten,  daß  hieran  eine  ganz  unbefangen  urteilende, 
empfindsame  Seele  erst  recht  ein  sogenanntes  morali- 
sches Ärgernis  nehmen  würde. 

Ich  möchte  das  Gesunde  des  Gedankens  aber 
auch  darin  erblicken,  daß  man  gerade  an  der  Nacktheit 
keinen  Anstoß  nahm,  weil  man  eben  mit  regstem 
Eifer  den  Verlauf  des  Kampfes  verfolgte,  an  den  kräf- 
tigen und  gewandten  Bewegungen  der  Kämpfenden 
Gefallen  fand  und  durch  dieses  Interesse  so  weit  in 
Anspruch  genommen  wurde,  daß  man  auf  den  Ge- 
danken, die  .Nacktheit  könnte  anstößig  sein,  garnicht 
verfiel.  Das  ist  jedenfalls  ein  viel  gesunderer  Zustand 
als  der,  bei  dem  es  den  Zuschauer  wenig  oder  gar- 
nicht fesselt,  was  sich  vor  seinen  Augen  an  Handlungen 
abspielt,  sondern  bei  dem  es  ihm  in  der  Hauptsache 
bloß  darum  zu  tun  ist,  etwas  zu  entdecken,  das  nach 
seiner  Ansicht  nicht  wohlanständig,  sondern  scham- 
verletzend und  moralisch  empörend  ist.  Es  gibt  in  der 
Tat  solche  Käuze  viel  mehr,  als  man  gewöhnlich  glaubt. 


—     125     — 

Wie  kann  nun  aber  der  Ansporn  der  öffentlichen 
Anerkennung  gesund  und  doch  zugleich  bedenklich 
sein  ?  Die  Beantwortung  dieser  Frage  ist  immer  etwas 
rein  Subjektives,  d.  h.  es  kommt  immer  ganz  auf  die 
Persönlichkeit  an,  die  die  öffentliche  Anerkennung  auf 
sich  einwirken  läßt,  und  zweitens  auch  auf  die  Per- 
sonen, die  öffentliche  Anerkennungen  zollen.  Es  ist 
ein  alter  Ausspruch:  „Wenn  die  Weiber  den  Rock 
oder  das  Hembd  ausziehen,  werfen  sie  auch  zugleich 
alle  Schamhaftigkeit  mit  hinweg."  Auch  das  Alter- 
tum war  dieser  Ansicht  im  allgemeinen.  Es  ist  des- 
halb immer  die  an  Wahrscheinlichkeit  grenzende  Mög- 
lichkeit gegeben,  daß  ein  Weib,  das  nackt  in  die  Arena 
tritt,  doch  den  Gedanken  hieran  auch  nicht  durch  die 
faktisch  etwa  entstehende  Notwendigkeit,  in  diesem 
Aufzug  erscheinen  zu  müssen,  zu  bannen  vermag.  Es 
wird  deshalb  die  gezollte  Anerkennung  nicht  bloß  auf 
Rechnung  der  geleisteten  Arbeit,  sondern  zum  großen 
Teile  auch  auf  Rechnung  der  bloßen  Erscheinung 
setzen.  Das  ist  eben  die  Klippe,  an  der  die  Harm- 
losigkeit des  Auftretens  so  oft  schon  gescheitert  ist 
und  noch  so  oft  scheitern  wird.  So  lange  die  Zu- 
schauer noch  die  harmlose  naive  Freude  an  den  Dar- 
bietungen eines  Kampfes  nackter  Weiber  so  voll  auf 
sich  wirken  ließen,  daß  persönliche  Begierden  dagegen 
nicht  aufzukommen  vermochten,  hatte  in  der  Tat  die 
für  uns  viel  mehr  als  bedenkliche  Sitte  eigentlich  nur  ihre 
gesunde  Seite.  Wie  lange  hat  sie  sich  gehalten?  Das 
ist  eine  Frage,  die  sehr  schwer  zu  beantworten  ist; 
jedenfalls  hat  aber  selbst  in  Zeiten,  in  denen  das 
griechische  Heldentum  noch  im  Zenith  seines  Ruhmes 
sich   sonnen   konnte,   die   naive   Harmlosigkeit   schon 


—     126     — 

nicht  mehr  bestanden,  und  der  sittliche  Verfall  ließ 
den  politischen  nicht  allzulange  auf  sich  warten.  Ge- 
rade durch  die  große  Verschiedenheit  der  Moralauf- 
fassungen erklären  sich  aber  auch  die  außerordentlich 
verschiedenen  Ansichten  über  denselben  Brauch,  der 
ja,  so  absurd  das  klingen  mag,  trotz  äußerlicher  Gleich- 
heit in  den  verschiedenen  Perioden  ein  völlig  ver- 
schiedener war.  Ich  komme  auf  den  Dionysiusdienst 
und   die   Bacchanalien   zurück. 

Im  orientalischen  Altertum  liebte  man  die  Nudi- 
täten  im  allgemeinen.  So  wird  unter  Berufung  auf 
Curtius  geschrieben :  „Die  Babylonischen  Weiber,  wenn 
sie  bey  einem  Gastmahl  waren,  stelleten  sich  An- 
fangs gantz  ehrbar  und  züchtig,  bald  aber  drauf  zogen 
sie  die  Ober-Kleider  aus  und  letztlich  warffen  sie  den 
Rock  mit  samt  dem  Hembd  hinweg."  Die  Kunst 
der  alten  Schriftsteller,  mit  einigen  Worten  ein  ganzes 
Stück  Kulturgeschichte  zu  erzählen,  zeigt  sich  auch 
an  diesem  kurzen  Beispiel  im  schönsten  Lichte.  Aber 
mit  so  wenigen  Worten  ist  um  die  Geschichte  des 
alten,  mystischen  Babylon  nicht  herumzukommen. 
Babylon  ist  wohl  die  älteste,  prächtigste  und  be- 
rühmteste Stadt  des  orientalischen  Altertums,  die  schon 
unter  Nabuchodonosor  (Nebukadnezar)  2  Millionen 
Einwohner  gehabt  haben  soll,  und  deren  hohe  Kultur 
und  Wissenschaft  unsere  Bewunderung  hervorrufen 
muß.  Soll  doch  schon  damals  ein  Problem  der  Tech- 
nik gelöst  worden  sein,  das  wie  eine  Errungenschaft 
neuester  Zeit  anmutet,  nämlich  ein  Tunnel  unter  dem 
Euphrat,  der  die  alte  Stadt  in  zwei  Hälften  teilte, 
hindurch.  Da  über  den  Euphrat  hinweg  auch  eine 
breite    prächtige    Brücke  den   Verkehr   zwischen   den 


—     127     — 

beiden  Stadtteilen  vermittelte,  wird  man  aus  der  Tunnel- 
anlage einen  Schluß  auf  den  ungeheuren  Verkehr 
ziehen  dürfen,  denn  man  hat  den  Tunnel  wohl  bloß 
deshalb  angelegt,  um  eine  Gefährdung  des  Fußgänger- 
verkehrs durch  den  Wagenverkehr  zu  vermindern. 
Wenn  man  diese  alte  Stadtkultur  studiert,  mutet  sie  an, 
als  müsse  man  auf  die  Schilderung  elektrischer  Straßen- 
bahnen stoßen.  Es  hat  allerdings  das  Studium  dieser 
untergegangenen  Kulturwelt  etwas  ungemein  Weh- 
mütiges ;  es  wirkt  wie  ein  M  e  m  e  n  t  o  m  o  r  i ,  das 
uns  daran  erinnern  könnte,  daß  die  Bäume  nicht  in 
den  Himmel  wachsen,  und  daß  vielleicht  nach  Jahr- 
tausenden auch  von  unserer  Pracht  und  unserer  Kultur 
nur  ein  totes  Trümmerfeld  der  forschenden  Nach- 
welt noch   Kunde  gibt. 

Die  Gründung  Babylons  wird  in  der  Bibel  den 
Nachkommen  Noahs  zugeschrieben;  aber  historisch 
läßt  sich  wenig  nachweisen,  und  daß  die  Bibel  ge- 
rade Babylons  mit  besonderer  Aufmerksamkeit  ge- 
denkt, ist  kein  Wunder;  ist  doch  mit  dieser  Stadt 
die  Geschichte  des  Judentums  innig  verknüpft.  Schon 
die  biblische  Erzählung  des  Turmbaus  zu  Babel  ist  in 
ein  mythisches  Gewand  gekleidet,  soll  doch  erst  als 
Strafe  für  das  zu  kühne  Unternehmen  die  Verschieden- 
heit der  einzelnen  Sprachen  entstanden  sein,  die  ja  in 
der  Tat  schon  im  Altertum  als  ein  Übelstand  em- 
pfunden wurde,  sicherlich  sich  aber  sehr  leicht  anders 
erklären  läßt  als  durch  die  Turmbaugeschichte.  Es 
wäre  aber  gleichwohl  völlig  verfehlt,  den  babylonir 
sehen  Turm  ins  Fabelreich  verweisen  zu  wollen.  Der 
Turm  hat  vielmehr  wirklich  bestanden  und  war  sicher- 
lich der  merkwürdigste  Tempelbau,  der  je  existierte, 


—     128     — 

ein  Tempel  des  Belu,  der  obersten  Gottheit  der  Baby- 
lonier. Mag  der  Qedanke,  in  dem  Turm  aus  reli- 
giösem Fanatismus  etwas  Unerhörtes  zu  scharfen,  die 
Grundidee  des  Baues  gewesen  sein;  mag  es  sich 
darum  gehandelt  haben,  ein  Werk  zu  errichten,  das 
auch  der  größten  Flut  widerstehen  könne,  jedenfalls 
ist  der  Turm  eines  der  vielen  Weltwunder  gewesen. 

Daß  in  dem  alten  Babylon  mit  seiner  hochent- 
wickelten Kultur  die  Bewohner  bemüht  waren,  des 
Lebens  Unverstand  mit  vollen  Zügen  zu  genießen,  das 
würde  man  ohne  weiteres  annehmen  dürfen;  hier  ist 
aber  auch  historisch  erwiesen,  daß  in  der  Tat  die 
alten  Babylonier  eine  äußerst  heitere  Lebensauffassung 
besaßen,  daß  sie  den  wilden  Sinnentaumel  über  alles 
liebten  und  daß  sie  es  verstanden,  sich  die  Zeit  zu 
vertreiben.  Nicht  allein  die  schon  oben  zitierte  Stelle 
nach  Curtius  zeigt,  wie  es  bei  den  frohen  Gelagen, 
der  Babylonier  zuzugehen  pflegte,  sondern  es  lassen 
sich  hierfür  auch  noch  andere  Belege  erbringen.  Die 
Curtius-Worte  faber  sind  gerade  ihrer  Kürze  wegen 
trefflich.  Es  ist  da  gesagt,  daß  zunächst  bei  den  Gast- 
mählern der  Anstand  durchaus  gewahrt  blieb,  daß 
erst  im  Verlaufe  des  Gastmahls  die  wilde  Lust  in  ihr 
Recht  trat,  und  daß  die  Damen  dann  ihre  kostbaren 
Gewänder  ablegten  und  sich  den  Gästen  unverhüllt 
zeigten. 

Es  ist  natürlich  über  die  älteste  Wunderstadt  des 
Orients  viel  gefabelt  worden,  aber  sie  hat  sicherlich 
bestanden  und  eine  große  Bedeutung  gehabt.  Die 
älteste  Kultur  ist  von  dort  verbreitet  worden,  und  es 
ist  nicht  alles  lautres  Gold,  was  in  den  alten  Erzäh- 
lungen   über   die   Wunderstadt   mit   ihren   hängenden 


—     129     — 

Gärten  glänzt.  Schon  an  diese  hängenden  Gärten 
knüpft  die  Sage  an,  denn  die  Gärten  selbst  werden 
als  eine  Anlage  der  Königin  Semiramis  gepriesen,  und 
diese  Königin  ist  in  einen  solchen  Dunst  von  Mythen, 
Sagen  und  Legenden  gehüllt,  daß  sie  selbst  zum  Schemen 
geworden  ist.  Man  kann  es  nicht  einmal  übersehen, 
was  an  dieser  Semiramis  Fleisch  und  Blut,  was  Gott- 
heit an  ihr  jst,  denn  es  wird  ja  in  der  Tat  ver- 
mutet, daß  sie  überhaupt  keine  Königin  gewesen  sei, 
sondern  eine  von  den  Assyrern  verehrte  Gottheit,  die 
also  den  umgekehrten  Weg  in  der  Sage  genommen 
hätte,  den  sonst  große  Sterbliche  nahmen.  Diese 
werden  nach  einem  Leben  großer  Taten  im  Glauben 
des  Volkes  nicht  selten  zu  Göttern;  j,ene  dagegen 
wäre  aus  einer  Gottheit  in  die  menschliche  Gesellschaft 
aufgenommen  worden,  ich  weiß  nicht,  welcher  Weg 
der  des  größeren  Ruhmes  ist.  Jedenfalls  soll  die  Se- 
miramis 2000  Jahre  v.  Chr.  gelebt  haben,  also  in  einer 
Spanne  Zeit,  in  der  eine  historische  Persönlichkeit  schon 
in  ihren  scharfen  Umrissen  leicht  verwischt  werden 
kann.  Nach  Herodot  ist  eine  Babylonische  Königin 
Semiramis  eine  durchaus  historische  Persönlichkeit; 
über  das  Jahr  ihres  Lebens  und  Regierens  drückt  dieser 
klassische  Zeuge  sich  allerdings  weniger  klassisch  aus ; 
er  sagt,  sie  habe  fünf  Generationen  vor  Nitokris  re- 
giert. Da  Gottheiten  nun  aber  höchst  selten  auf  die 
Welt  niedersteigen,  selbst  nicht  um  den  Preis,  hier  als 
Königinnen  einen  Thron  zieren  zu  dürfen,  da  die 
Semiramis  bei  allen  ihren  Vorzügen  nicht  gerade  gött- 
lich, sondern  sehr,  sehr  menschlich  gelebt  haben  soll, 
so  wird  man  sie  wohl  richtiger  zu  den  Menschen 
als  zu  den   Göttinnen  zu  rechnen  haben,   wenn   man 

9 


—     130     — 

sie  nicht  völlig  als  ein  Fabelwesen  betrachten  will, 
wozu  doch  wieder  nicht  der  mindeste  Grund  vor- 
liegen kann,  da  jn  der  Tat  die  Semiramis  wirklich 
als  Königin  auf  Erden  gewandelt  sein  und  große 
Taten  verrichtet  haben  muß.  Sie  soll  zunächst  die 
Gattin  des  Onnes  gewesen  sein,  den  einige  Quellen 
als  Feldherrn  des  Königs  Ninus,  andere  als  Statthalter 
von  Syrien  bezeichnen.  An  der  Seite  ihres  Gatten 
soll  sie  den  Krieg  gegen  Oxyartes  von  Baktra  mit- 
gemacht und  dabei  sich  ein  ganz  besonderes  Verdienst 
erworben  haben.  Es  wird  nämlich  erzählt,  sie  habe 
die  Stadt  und  besonders  die  hauptsächlichsten  Schwä- 
chen der  Verteidigung  genau  gekannt  und  selbst  die 
Mauer  der  Stadt  erstiegen,  um  so  den  Ihrigen  den 
Weg  zu  zeigen,  der  mit  Erfolg  im  Sturme  eingeschlagen 
werden  könne.  Nun  tritt  wieder  ein  besonderes  Mo- 
ment in  die  Sage.  Wenn  es  sicherlich  auf  eine  un- 
gewöhnliche Gattenliebe  schließen  läßt,,  daß  Semiramis 
die  Strapazen  des  Feldzug  auf  sich  nahm,  um  dem 
Gatten  nahe  zu  bleiben,  so  tritt  dies  besondere  Mo- 
ment, das  ich  als  ein  echt  orientalisches  bezeichnen! 
will,  doppelt  auffällig  in  die  Erscheinung.  Semiramis 
wurde  die  Gattin  des  Königs  Ninus,  dem  sie  sehr 
gut  gefallen  hatte,  und  der  besonders  ihren  Helden- 
sinn beim  Besteigen  der  Mauer  bewundert  hatte.  Wie 
das  möglich  war?  Im  Liebesleben  des  orientalischen 
Altertums  war  eben  alles  möglich.  Onnes  soll  ein- 
gewilligt haben,  daß  er  auf  seine  Frau  verzichtete, 
und  daß  diese  den  König  heiratete.  Ein  sonderbarer 
Mann,  wenn  diese  Einwilligung  aus  freiem  Herzen 
ohne  Zwang  gekommen  ist.  Das  ist  allerdings  schwer- 
lich  anzunehmen,  denn  die  großen  Vorzüge  der  Se- 


—     131     — 

miramis,  die  den  König  bis  zur  Tollheit  entflammten, 
sind  doch  wohl  auch  dem  guten  Onnes  nicht  ver- 
borgen geblieben ;  er  hat  sie  wahrscheinlich  noch  besser 
gekannt  als  der  König.  Es  wird  ja  auch  berichtet, 
daß  Onnes  Selbstmord  begangen  habe.  Das  läßt 
schwerlich  darauf  schließen,  daß  er  sich  gar  so  leichten 
Herzens  von  der  Gattin,  die  ihm  bis  ins  wilde  Kriegs- 
getümmel gefolgt  war,  trennte,  um  sie  dem  König  zu 
überlassen.  Gestorben  ist  Onnes  jedenfalls,  vielleicht 
hat  auch  da  der  König  dem  Entschlüsse  des  abge- 
tanen Gatten  etwas  nachgeholfen,  wie  der  König  Da- 
vid dem  Uria  beim  Abschied  vom  Leben  behilflich 
gewesen  ist,  als  er  sich  überzeugt  hatte,  daß  der 
Bathseba  der  Gatte  durchaus  entbehrlich  war.  So 
etwas  nahm  man  nicht  so  genau;  man  dachte  viel- 
mehr, selbst  lieben  macht  glücklich,  wie  unser  mate- 
riellerer Spruch  lautet,  selber  essen  macht  fett.  Ich 
habe  diese  Geschichte  wiedergegeben,  weil  sie,  gleich- 
viel ob  sie  wahr  ist  oder  nicht,  doch  einen  recht 
interessanten  Einblick  in  die  Auffassung  alt  orientali- 
schen Liebeslebens  gestattet.  Ich  will  auch  die  anderen 
wesentlichsten  Angaben  über  das  Königtum  der  Se- 
miramis  wiedergeben. 

Dies  vielumstrittene  Weib  soll  die  Mutter,  nach 
anderen  Quellen  die  Tochter  des  Königs  Ninus  ge- 
wesen sein.  Diese  nahe  Verwandtschaft  habe  aber  den 
König  nicht  gehindert,  die  Semiramis  zu  seiner  Gattin 
zu  machen.  Der  feste  Pol  in  aller  dieser  Erzählungen 
Flucht  ist  der,  daß  Semiramis  dem  König  einen  Sohn 
geboren  habe,  der  Ninyas  genannt  wurde.  Eine 
v/eitere  Übereinstimmung  in  allen  Erzählungen  ist  die, 
daß  Ninus  nicht  lange  das  Glück  seiner  Ehe  mit  Se- 


—     132     — 

miramis  genossen  habe;  er  sei  sehr  bald  gestorben, 
und  nach  seinem  Tode  habe  Semiramis  die  Regierung 
allein  geführt.  Dieses  Faktum  wird  übereinstimmend 
gemeldet;  aber  über  die  Todesart  des  Königs  Ninus 
gehen  die  Berichte  wieder  sehr  weit  auseinander. 
Nach  der  einen  Ansicht  soll  Ninus  friedlich  eines 
natürlichen  Todes  gestorben  sein.  Nach  anderen  Er- 
zählungen soll  Semiramis  ihn  ermordet  haben.  Das 
würde  ja  zu  der  oben  zitierten  Ansicht,  daß  Ninus 
das  treue  Band  der  Liebe  und  Ehe  zwischen  Onnes 
und  Semiramis  gewaltsam  zerrissen,  die  Frau  für  sich 
genommen  und  den  Gatten  in  den  Tod  getrieben  habe, 
nicht  übel  passen.  Es  wäre  die  Rache  für  die  ab- 
scheuliche Tat  des  Ninus.  Hier  will  ich  noch  einer 
anderen  Variante  gedenken.  Ninus  soll  die  Semiramis 
als  Sklavin  an  seinen  Hof  geführt  haben,  um  sie  sich 
zu  eigen  zu  machen.  Ich  weiß  nicht,  ob  auch  nach 
dieser  Variante  die  schöne  Semiramis  die  Gattin  des 
Onnes  gewesen  sein  soll;  möglich  oder  sogar  wahr- 
scheinlich ist  es  sicher.  Semiramis  war  nicht  nur 
schön,  sondern  auch  klug;  sie  wußte  es,  die  Leiden- 
schaft des  Königs  bis  zum  Wahnsinn  zu  entflammen, 
so  daß  Ninus  sich  soweit  beherrschen  ließ,  um  der] 
schönen  und  stolzen  Semiramis  auf  5  Tage  die  Re- 
gierung zu  überlassen.  Das  war  im  orientalischen 
Altertum  durchaus  möglich,  und  nicht  einmal  etwas 
so  gar  Absurdes.  Semiramis  aber  soll  diese  Herrscher- 
gewalt benutzt  haben,  um  den  König  zu  ermorden 
und  die  Regierung  für  alle  Zeit  zu  behalten.  Sie  hat, 
wenn  auch  aus  anderen  Motiven,  vielleicht  aber  auch 
aus  ganz  ähnlichen,  demnach  gehandelt  wie  die  jü- 
dische Judith,  auf  die  ich  noch  zurückkommen  werde. 


—     133     — 

Ninus  ist  auch  nach  dieser  Variante  als  ein  Opfer 
seines  Liebeswahns  und  seiner  Leidenschaft  gefallen. 
Und  das  Volk? 

Ich    habe   schon   an   anderer  Stelle  gezeigt,   daß 
das  Volk  in  hündischem  Gehorsam  vor  dem  Herrscher- 
thron kroch  und  gegen  Königsmorde  vielleicht  heim- 
lich  murrte,   nicht  aber  sie   zu   rächen   wagte,   wenn 
der  Mörder  selbst  den  Thron  bestieg,  denn  in  diesem 
Augenblicke   war   er  ja   Herr   über  Tod   und   Leben 
seiner   Untertanen   geworden.     Nach   der  alten   Sage 
ist  Semiramis  sogar  die   Erbauerin   von   Babylon  ge- 
wesen; nach  anderer  Meinung,  die  viel  mehr  Wahr- 
scheinlichkeit für  sich  hat,  soll  sie  nur  im  bereits  be- 
stehenden    Babylonischen     Reiche    Städte    gegründet 
haben.     Daß  ihre  Regierung  über  Babylon  aber  eine 
für    das    Volk    günstige  und  vorteilhafte   war,   darin 
stimmen   die    Berichte  überein.     Sie   soll    Kriege   ge- 
führt,   mit    Genie    und    Energie    gekämpft    und    im 
Lande     viel     Gutes      geschaffen     haben.      So     wird 
von  ihren  Zügen  nach  Persien,  nach  Ägypten,  Libyen 
und  Aethiopien  erzählt.    Ob  sie  Großes  auf  dem  Kriegs- 
pfad   erreicht    hat,    wird    nicht   gesagt;   es   ist   aber 
wohl  anzunehmen,  daß  der  Kriegsgott  ihr  nicht  alle 
Erfolge  versagt  hat;  denn  sonst  würde  ihr  wohl  der 
Mut  zu  neuen  Unternehmungen  vergangen  sein.    Das 
war  aber  keineswegs  der  Fall ;  im  Gegenteil.    Sie  wagte 
sich  sogar  an   ein  gewaltiges   Unternehmen  und  zog 
gen   Indien.     Dabei  hatte  sie  aber  nicht  nur  keinen 
Erfolg,    sondern    sie    schnitt  noch   schlimmer  ab   als 
Napoleon    I.   bei  seinem    Zuge  gegen   Rußland.     Ihr 
Heer    wurde    völlig    vernichtet,  und  sie  entkam    mit 
großer  Not  mit  etwa  20  Mann.    Damit  war  aber  auch 


—     134    — 

ihr  Schicksal  besiegelt.  Nachdem  sie  24  Jahre  regiert 
hatte,  verschwand  sie  im  Alter  von  62  Jahren  von 
der   Bildfläche. 

Hier  tritt  nun  wieder  die  Sage  in  ihr  Recht, 
denn  es  wird  erzählt,  daß  die  einst  gefeierte  Semira- 
mis  die  Gestalt  einer  Taube  angenommen  habe  und 
davongeflattert  sei.  Für  .diesen  Abschluß  ihrer  Re- 
gentenherrlichkeit lassen  sich  freilich  keine  einwands- 
freien  historischen  Beläge  erbringen,  und  wenn  die 
Taube  so  oft  als  Symbol  der  keuschen  Unschuld  gilt, 
so  würde  Semiramis  zu  diesem  sanften  Bilde  eigent- 
lich auch  wohl  sehr  wenig  gepaßt  haben.  Sie  soll 
vielmehr  ein  sehr  wenig  taubenhaftes  Leben  geführt 
haben,  und  man  hat  später  die  über  alle  Begriffe 
„galante"  Kaiserin  Katharina  II.  wohl  die  Semiramis 
des  Nordens  genannt.  Wenn  das  in  Rücksicht  auf  das 
Liebesleben  der  Katharina  II.  auch  nur  einen  Schein 
des  Rechtes  gehabt  hat,  dann  hat  es  um  die  Moral 
der  Semiramis  sehr  übel  ausgesehen.  Jedenfalls  hat 
die  alte  Sage,  daß  Semiramis  als  Taube  den  Nach- 
stellungen ihres  Sohnes  entgangen  sei,  viel  dazu  bei- 
getragen, die  ganze  Geschichte  von  der  Semiramis  als 
eine  Mythenbildung  erscheinen  zu  lassen.  Soll  doch 
auch  Iphigenia  in  einer  Wolke  vom  Opferaltar  ent- 
führt und  gerettet  worden  sein;  Wolke  und  Taube 
—  an  sich  freilich  recht  verschiedene  Dinge,  für  die 
Sage  aber  sind  sie  völlig  gleichwertig.  Der  Sage 
bedarf  es  aber  in  diesem  Falle  wirklich  nicht,  denn 
daß  Ninyas  seiner  Mutter  nachgestellt  hat,  um  sie 
zu  ermorden,  daß  sie  schließlich  wirklich  von  der 
Bildfläche  verschwunden  ist,  darin  berichten  die  ver- 
schiedenen   Quellen    völlig    übereinstimmend;    es   ist 


—     135     — 

deshalb  doch  ziemlich  naheliegend,  der  Quelle  zu 
folgen,  die  angibt,  daß  Ninyas  seinen  Plan  wirklich 
durchgeführt,  d.  h.  die  Semiramis  tatsächlich  ermordet 
habe.  Die  Quelle,  die  dies  berichtet,  erzählt,  daß 
Semiramis  45  Jahre  lang  für  ihren  Sohn  die  Regierung 
geführt  habe.  Das  wäre  an  sich  schon  ein  Qrund  ge- 
wesen, in  dem  prädestinierten  Herrscher  den  Wunsch, 
nun  endlich  selbst  die  Zügel  der  Regierung  in  die 
Hand  zu  nehmen  und  sich  nicht  weiter  am  Gängel- 
bande führen  zu  lassen,  wachzurufen.  Es  ist  für  einen 
Orientalen  ohnehin  keine  Kleinigkeit,  sich  von  einem 
Weibe  bis  zur  vollen  Bedeutungslosigkeit  zurück- 
drängen zu  lassen.  Besonders  als  Semiramis  so  ge- 
waltiges Unglück  im  Kriege  gegen  Indien  gehabt 
hatte,  mochte  der  Wunsch  eines  kräftigen,  tatenlustigen 
Mannes,  die  alte,  verbrauchte  Frau  zurücktreten  zu 
sehen,  sogar  etwas  Staats  erhaltendes  für  sich  haben. 
Es  wäre  ja  nun  damit  freilich  noch  nicht  gesagt  ge- 
wesen, daß  dieser  Wunsch  nur  durch  einen  Mord  zu 
verwirklichen  sein  konnte;  aber  die  herrschsüchtige 
und,  wie  viele  Quellen  behaupten,  ausschweifende 
Semiramis  wird  wohl  nicht  freiwillig  zurückgetreten 
sein,  und  dann  gibt  es  auch  noch  ein  psychologisches 
Moment,  das   nicht  übersehen  werden  darf. 

Semiramis  hatte  den  Ninus  ermordet,  um  die 
Herrschaft  zu  erlangen.  Bei  ihrer  Charakteranlage  und 
dem  Hange  zu  Ausschweifungen,  der  ihr  wenigstens 
später  nachgewiesen  oder  doch  mindestens  nachgesagt 
wurde,  mochte  auch  die  Annahme,  daß  sie  den  Ninus 
an  sich  gelockt  und  ihren  Mann,  den  Onnes,  zum 
Selbstmord  getrieben  habe,  den  Ninyas  beherrschen. 
Er  konnte  durch  den  Mord  der  Mutter  den  Mord  des 


—     136     — 

Vaters  rächen.  Daß  er  sich  gerade  45  Jahre  Zeit 
gelassen  haben  sollte,  um  die  im  Orient  wohl  schon 
im  hohen  Altertum  bestehende  Pflicht  der  Blutrache 
zu  üben,  das  würde  freilich  nicht  gerade  auf  einen 
schnellentschlossenen,  impulsiven  Charakter  schließen 
lassen;  es  steht  ja  aber  auch  nicht  fest,  daß  Ninyas 
ein  solcher  gewesen  sei.  Er  soll  allerdings  der  Er- 
bauer des  alten  Ninive  gewesen  sein,  eine  historische 
Tat,  die  andere  Berichte  wieder  seinem  Vater,  dem 
Ninus,  andichten,  während  die  Bibel  als  Gründer  von 
Ninive  den  gewaltigen  Jäger  Nimrod  nennt,  der  ja 
allerdings  der  historische  Ninus  zu  sein  scheint,  denn 
von  Nimrod  ist  eine  einwandsfreie  Überlieferung  nicht 
auf  uns  gekommen.  Wenn  Josephus,  der  als  Ge- 
schichtsschreiber uns  so  manchen  Aufschluß  gegeben 
hat,  den  Nimrod  als  den  Erbauer  des  babylonischen 
Turms  und  als  einen  niederträchtigen  Bösewicht,  der 
zuerst  das  Feuer  angebetet  habe,  bezeichnet,  so  ist 
leicht  zu  erkennen,  daß  die  Quellen,  aus  denen  Jo- 
sephus diese  Weisheit  schöpft,  nicht  zuverlässiger  sein 
können  als  der  biblische  Bericht,  und  daß  Jesephus  viel- 
mehr zweifellos  aus  jüdischen  Legenden  geschöpft  hat. 
Darauf  mögen  auch  die  arabischen  Überlieferungen 
fußen,  nach  denen  Nimrod  jeder  Schandtat  für  fähig 
gehalten  wurde,  ja  geradezu  als  eine  Art  bösen  Prinzips 
galt,  der  aber  auch  da  als  Gründer  und  Erbauer  der 
großen,  längst  verfallenen  Städte  Mesopotaniens  gilt. 
Er  gilt  gleichzeitig  als  Begründer  der  Astronomie, 
die  ja  im  alten  Babylon  sich  zu  einer  bestgepflegten 
Wissenschaft  entwickelte.  Man  wirft  ihm  also  bei 
hochverdienstlichen  Werken  auch  die  größten  Schänd- 
lichkeiten vor.    Warum?    Ich  glaube  aus  einem  ahn- 


—     137     — 

liehen    Grunde,    aus    dem    unter    christlicher    Kultur 
Leuten,  die  Großes  leisteten,  nicht  selten  vorgeworfen 
wurde,   sie   ständen   mit  dem   Teufel   im    Bunde   und 
wären  deshalb  schlechte,  boshafte  Menschen,  die  jeder 
gemeinen  Handlungsweise  fähig  seien.  Es  muß  das  wohl 
auf  die  Sucht  des   menschlichen   Herzens,  sich  selbst 
dadurch    zu    erhöhen,   daß    man   Größere   verkleinert 
und  deren   Verdienste  durch   allerlei  üble  Nachreden 
zu  verringern  trachtet,  zurückzuführen  sein.    Die  Bibel 
selbst  sagt  von   Nimrod  nur:    „Der  fing  an,   ein  ge- 
waltiger  Herr   zu   sein    auf   Erden   und   war   ein   ge- 
waltiger Jäger  vor  dem  Herrn."    Das  sind  doch  sicher- 
lich   keine   so   besonders    üble   Dinge,   und   wenn    es 
heißt,  ein  gewaltiger  Jäger  „vor  dem  Herrn",  so  ist 
auch  dieser  letztere  Zusatz  höchstens  eine  Andeutung, 
daß    Nimrod  auch   „vor   dem    Herrn"   bestand.     Wie 
man  darauf  gekommen   ist,   ihn   als   Feueranbeter  zu 
nennen,   ist  schwer  zu  sagen.     Es  ist  auch  nicht  zu 
sagen,   ob   Nimrod   und   Ninus   dieselbe   Person   dar- 
stellten, für  die  nur  der  Name  abweichend  angegeben 
ist;  daß  aber  Nimrod  mit  Ninyas  identisch  sein  könne, 
das   erscheint  völlig  ausgeschlossen,   und  es  ist  dem- 
nach  auch   nicht   einleuchtend,   warum   man   letzteren» 
für  den   Erbauer  von  Ninive  gehalten  hat.     Ich  habe 
aber  die  weite  Abschweifung  nur  deshalb  unternommen, 
weil  es  mir  immerhin  wichtig  erschien,  zu  zeigen,  wie 
widerspruchsvoll  und  in  undurchdringliche  Mythen  ge- 
hüllt   die   dürftigen    Berichte   über  das   älteste  orien- 
talische  Altertum    sind.     Man   nimmt   an,    daß    es   in 
der  Tat  einen  assyrischen  König  Ninus  gegeben  habe, 
und  setzt  dessen  Regierungszeit  auf  mindestens  2100 
Jahre   vor   Christus.     Das   ist   gewiß    auch   nicht    zu 


—     138     — 

hoch  gegriffen;  aber  schon  aus  der  Geschichte  der 
Semiramis  erkennen  wir,  daß  es  zu  jener  Zeit  auch 
schon  eine  indische  Kultur  gegeben  hat,  die  wohl 
ebenfalls  mindestens  annähernd  der  assyrisch-baby- 
lonischen äquivalent  war.  In  der  Kriegskunst  hat  sie 
vielleicht  die  assyrische  übertroffen.  Sicher  ist  dies 
allerdings  auch  nicht,  denn  die  Tatsache,  daß  das 
Heer  der  Semiramis  in  Indien  völlig  vernichtet  wurde, 
läßt  sich  schließlich  auch  durch  andere  Umstände  er- 
klären; es  erscheint  sogar  nicht  einmal  wahrscheinlich, 
daß  ein  großes  Heer  durch  einen  so  gewaltigen  Marsch 
durch  unbekannte  und  wohl  auch  unwirtliche  Gegen- 
den, in  denen  es  das  Gelände  nicht  einmal  kannte, 
schwer  zu  leiden  gehabt  hat,  und  daß  es  den  Indern, 
selbst  bei  nicht  übertriebenen  großen  taktischen  Fähig- 
keiten leicht  gelingen  konnte,  dem  fremden,  mit  den 
örtlichen  Verhältnissen  nicht  vertrauten  Heere  Hinter- 
halte zu  legen. 

Wenn  man  die  Unzulänglichkeit  der  einwandsfreien 
historischen  Quellen  über  das  älteste  Babylon  berück- 
sichtigt, wird  man  wohl  schwerlich  mit  Sicherheit  be- 
haupten dürfen,  daß  gerade  das,  was  über  die  Vorliebe 
für  Nuditäten  und  Sittenlosigkeit  des  Volkes  und  der 
Semiramis  behauptet  wird,  als  über  jeden  Zweifel 
festgestellt  gelten  dürfte.  Viel  eher  läßt  sich  über 
das  spätere  Babylon  unter  Nabukudurrusur  oder  Nebu- 
chadrezar,  den  Nebukadnezar  der  Bibel,  der  604 — 562 
v.  Chr.  lebte,  mit  einiger  Sicherheit  berichten.  Hier 
fließen  die  Quellen  reichlicher,  und  das  Mythische  tritt 
nicht  mehr  so  stark  in  den  Vordergrund.  Von  Nebu- 
kadnezar steht  fest,  daß  er  eine  historische  Person  war; 
er  wird   als  der  Sohn  des  Nabopolassar  bezeichnet, 


—     139     — 

und  in  alten  Keilschriften  finden  wir  sichere  Kunde 
von  ihm,  so  daß  es  als  erwiesen  behauptet  werden 
darf,  daß  er  der  mächtigste  König  von  Babylon  war. 
Weniger  zuverlässig  sind  die  weltlichen  Quellen  über 
die  Kriegszüge;  aber  die  biblischen  Berichte,  die  ja 
im  großen  Ganzen  mit  dem,  was  als  historisch  gelten 
muß,  übereinstimmen,  enthalten  in  den  Apokryphen 
sehr  eingehende  und  interessante  Schilderungen.  Nach 
dem  Buche  Judith  wird  Nebukadnezar  als  der  König 
von  Assyrien  bezeichnet,  der  in  der  großen  Stadt 
Ninive  regierte  und  zunächst  den  medischen  König 
Arphaxad,  dessen  feste  Stadt  Ekbatana  als  das  Wunder- 
werk einer  festen  Stadt  damaliger  Zeit  gepriesen  wird, 
besiegte.  Nebukadnezars  Macht  war  so  groß,  daß 
sich  ihm  in  Furcht  und  Schrecken  rings  die  Lande 
ergaben,  ohne  daß  sein  gewaltiger  Feldherr  Holo- 
fernes  auch  nur  eine  Schlacht  zu  schlagen  brauchte. 
Der  stolze  Assyrerkönig  wurde  von  Übermut  arg  ge- 
peinigt; nach  der  Bibel  verlangte  er,  daß  alle  Völker 
ihre  Götter  absetzen  und  ihn  selbst  als  Gott  anbeten 
sollten.  Das  mag  ja  historisch  wohl  nicht  als  ein- 
wandsfrei  gelten  dürfen;  es  zeichnet  aber  gleichwohl 
trefflich  den  Hochmut  des  gewaltigen  Königs,  der 
nichts  über  sich  dulden  wollte,  wie  ihm  nach  seiner 
Ansicht  nichts  auf  Erden  widerstehen  konnte.  Man 
nimmt  an,  daß  die  biblische  Erzählung  der  Judith 
nicht  historisch,  sondern  erfunden  sei,  um  das  jüdische 
Volk  in  schwierigen  Lagen  zu  ermutigen  und  zu  zeigen, 
daß  Gott  seinem  Volke,  wenn  es  ihm  treu  bleibe  und 
fest  auf  ihn  vertraue,  auch  in  den  schwersten  Stunden 
helfe,  in  denen  eine  Hilfe  absolut  unmöglich  erscheine. 
Es  mag  sein,  daß  dies  in  der  Tat  der  Zweck  der  Er- 


—     140     — 

Zählung  gewesen  ist;  aber  das  würde  doch  nichts 
für  die  Unwahrheit  der  Erzählung  beweisen.  Hat 
doch  selbst  in  unserer  Zeit  noch  der  gläubige  Sinn 
des  ersten  deutschen  Kaisers  das  Wort  gesprochen: 
„Welche  Wendung  durch  Gottes  Fügung !"  Wird  doch 
auch  in  unserer  Zeit  noch  in  den  Kirchen  in  schwerer 
Zeit  Gottes  Beistand  herbeigefleht.  So  wenig  man 
aber  den  deutsch-französischen  Krieg  für  unwahr  be- 
zeichnen darf,  weil  ein  Kaiser  gesagt  hat:  „Gott  war 
mit  uns!"  oder  „Dem  Volke  muß  die  Religion  er- 
halten bleiben!",  so  wenig  ist  man  berechtigt,  zu  be- 
haupten: „Die  Geschichte  der  Judith  ist  deshalb  un- 
wahr, weil  sie  benutzt  wurde,  das  Volk  zum  treuen 
Glauben  und  zum  Ausharren  im  Vertrauen  zu  Gott 
zu    erhalten." 

Sehen  wir  uns  die  Geschichte  der  Judith  einmal 
etwas  näher  an,  so  werden  wir  doch  unmöglich  ver- 
kennen dürfen,  daß  sie,  auch  völlig  von  dem  doktrinären 
Gottesvertrauen  entkleidet,  reine  Tatsachen  lehrt,  die 
allermindestens  doch  die  Vermutung  hervorrufen 
müssen,  daß  sie  nicht  in  allen  Einzelheiten  frei  er- 
funden sein  können.  Denkt  man  an  die  Flucht  der 
Kinder  Israels  aus  Ägypten,  die  ja  übrigens  in  der 
Judith-Erzählung  ausführlich  mitgeteilt  wird,  so  fällt 
der  Unterschied  im  ganzen  Aufbau  und  im  speziellen 
Effekt  so  handgreiflich  auf,  daß  die  Wage  sich  un- 
bedingt zur  Judith  neigen  muß.  Dort  teilt  sich  das 
Meer,  um  die  Kinder  Israels  trocknen  Fußes  hindurch- 
zulassen. Sofort  aber,  als  die  Verfolger  denselben 
Weg  einschlagen,  vollzieht  sich  die  Vernichtung  der 
Feinde.  Das  ist  also  ein  Wunder,  von  denen  man 
wohl  sagen  mag,  es  wird  berichtet,  um  die  wunder- 


—     141     — 

bare  Hilfe  zu  zeigen,  die  Gott  seinem  auserwählten 
Volke  geleistet  habe.  Dem  kritischen  Verstand  drängt 
sich  dabei  ohne  weiteres  der  Zweifel  oder,  wo  ohne 
Rücksicht  auf  die  Quelle  geurteilt  wird,  die  Gewiß- 
heit auf,  daß  die  Geschichte  vom  Roten  Meere  nicht 
wahr  sein  könne,  da  Wasser  den  natürlichen  Gesetzen 
der  Schwerkraft  folgen  müsse  und  sich  nicht  zu  beiden 
Seiten  auseinandertürmen  könne. 

Wo  in  aller  Welt  ist  aber  in  der  Judith-Geschichte 
des  Glaubens  liebstes  Kind,  das  Wunder?  Auch  nicht 
die  allerleiseste  Andeutung  eines  Wunders  ist  da  ge- 
geben, denn  die  ganze  umfangreiche  Doktrin,  daß  Gott 
in  der  höchsten  Not  helfe,  kann  getrost  gestrichen 
werden,  ohne  daß  der  Erzählung  auch  nur  ein  Körn- 
chen von  Wahrscheinlichkeit  verloren  ginge.  Im 
Gegenteil,  das  Ganze  ist  so  unwiderstehlich  wahrschein- 
lich, so  bis  ins  Detail  psychologisch  wahr,  daß  man 
bei  ganz  objektiver  Prüfung  sich  nur  sagen  muß;  es 
kann  sich  überhaupt  garnicht  anders  abgespielt  haben. 

Zunächst  sprechen  schon  Tatsachen,  die  ja  in  der 
Erzählung  nicht  einmal  angedeutet  sind,  für  die  Wahr- 
scheinlichkeit; dann  aber  sind  soviele  kulturhistorische 
Finessen  in  die  Erzählung  verflochten,  unabsichtlich, 
daß  sie  als  Lehrstoff  dienen  könnten.  Wo  aber  ist 
auch  nur  der  allermindeste  Nachweis  dafür,  daß  die 
Judith episode  sich  nicht  abgespielt  habe?  Ich  würde 
auf  diese  Geschichte  überhaupt  nicht  näher  eingehen, 
wenn  sie  mir  nicht  gerade  für  dieses  Kapitel,  das 
von  der  Vorliebe  für  Nuditäten  im  orientalischen  Alter- 
tum handelt,  so  überaus  wertvoll  erschiene.  Ich  möchte 
annehmen,  daß  auch  Hebbel  dieser  Gedanke  mitbe- 
wogen   hat,   seine  Judithtragödie  zu  schreiben,    denn 


—     142     — 

er  ist  ihm  viel  mehr  noch  gefolgt,  als  nach  dem  bib- 
lischen  Original  gerechtfertigt  erscheinen   kann. 

Nebukadnezar  führte,  nachdem  er  586  v.  Chr. 
Jerusalem  erobert  und  den  Tempel  zerstört  hatte,  die 
Juden  in  die  babylonische  Gefangenschaft.  Das  er- 
zählt die  Bibel  selbst;  warum  hätte  sie  nun  gerade 
die  Judithgeschichte  als  eine  theosophische  Lehr- 
episode erfinden  sollen,  um  etwas  zu  bestreiten,  was 
sie  dann  selbst  zugibt?  Ich  meine,  hätte  es  sich  darum 
gehandelt,  einfach  beweisen  zu  wollen,  daß  den  Juden, 
die  zu  Gott  hielten,  nichts  geschehen  könne,  so  würde 
man  doch  nicht  gerade  den  Sieg  über  das  Heer  des- 
selben Nebukadnezar  gefeiert  haben,  der  die  Juden 
in  die  babylonische  Gefangenschaft  abführen  ließ.  Ge- 
rade daß  sich  die  Judithgeschichte  in  den  apokryphi- 
schen  Büchern  findet,  macht  sie  nicht  unwahrschein- 
licher, wenn  auch  die  chronologische  Reihenfolge  der 
historischen  Ereignisse  nicht  dadurch,  daß  das 
Buch  Judith  gewissermaßen  losgelöst  ist  aus  der 
Reihe  der  geschichtlichen  Daten,  übersichtlicher  ge- 
macht wird. 

Nun  zurück  zu  der  inneren  Wahrscheinlichkeit  der 
im  Buche  Judith  mitgeteilten  Tatsachen!  Ich  habe 
schon  darauf  hingewiesen,  daß  der  mythische  Wunder- 
zauber, der  so  reichlich  über  andere  Erzählungen  aus- 
gebreitet ist,  hier  völlig  fehlt.  Statt  dessen  finden 
wir  eine  Schilderung  echten  altorientalischen  Lebens, 
wie  es  echter  überhaupt  nicht  gegeben  werden  kann. 
Wir  finden  den  wulstigen  Übermut  des  von  seiner 
Übermacht  überzeugten  Königs  Nebukadnezar,  der 
sich  als  Gott  anbeten  lassen  wollte.  Die  Völker 
zitterten  vor  ihm  und  unterwarfen  sich.     Anders  das 


—     143     — 

strenggläubige  Volk  der  Juden,  das  daran  festhielt, 
daß  sein  Gott  größer  und  mächtiger  sei  als  alle 
Götter  und  Götzen  anderer  Völker,  und  daß  er  sie 
deshalb  wohl  bewahren  und  beschützen  könne.  Das 
ist  wieder  etwas  durchaus  Natürliches,  und  der 
Glaube  an  den  Schutz  und  die  Hilfe  der  Gottheiten 
war  ja  nicht  einmal  etwas  spezifisch  Jüdisches.  Wir 
finden  dieses  Vertrauen  auch  bei  den  heidnischen! 
Völkern  des  Altertums,  die  ihren  Göttern  opferten, 
damit  sie  ihnen  den  Sieg  verleihen  sollten.  Der  Heer- 
führer des  Nebukadnezar  war  der  Feldherr  Holofernes, 
und  was  konnte  wohl  näher  liegen,  als  der  Gedanke, 
daß  die  schlimmste  Gefahr  abgewendet  sein  mußte, 
wenn  Holofernes  getötet  wurde,  wodurch  natürlich 
sein  Heer  in  Schrecken  und  Bestürzung  geraten  mußte. 
Da  es  aber  in  jedem  Kampfe  außerordentlich  wich- 
tig ist;  welcher  der  Gegner  mutig  und  siegessicher 
angreift,  und  welcher  bestürzt  und  verzagt  sich  an- 
greifen läßt,  so  ist  auch  der  Sieg  der  fanatisch  sieges- 
gewiß über  die  bestürzten  Gegner  herfallenden  Juden 
kein  Wunder,  sondern  so  absolut  wahrscheinlich  und 
sicher,  daß  es  vielmehr  ein  Wunder  gewesen  wäre, 
wenn  die  assyrischen  Truppen  sich  trotz  der  bei  ihnen 
herrschenden  Verwirrung  und  Bestürzung  doch  gegen 
den  machtvollen  Anprall  der  Feinde  hätte  halten; 
können. 

Wie  aber  konnte  das  assyrische  Kriegsvolk  in 
Verwirrung  gebracht  werden,  d.  h.  wie  konnte  der 
mächtige,  stolze  Holofernes,  der  so  gut  in  seinem 
Lager  bewacht  wurde,  plötzlich  getötet  werden,  ohne 
daß  seine  Umgebung  von  dieser  Tat  eher  etwas  be- 
merkte,  als  bis   eben  die  Stunde  der  Gefahr  nahte, 


—     144     — 

in  dei  die  unerwartete  Entdeckung1  die  Gemüter  tief 
erschütterte?  Das  gerade  zeigt  uns  die  Geschichte 
der  Judith  so  klar,  daß  man  wohl  zugeben  muß, 
eine  andere  Möglichkeit  war  überhaupt  nicht  vor- 
handen. 

Als  das  jüdische  Volk  in  der  Stadt  Bethulia,  wie 
die  Bibel  schreibt,  Betylua,  wie  sie  historisch  benannt 
wird,  belagert  wurde,  stieg  die  Not  aufs  Äußerste, 
da  die  Assyrer  den  Wasserzufluß  abgeschnitten  hatten, 
um  die  Stadt,  die  wie  alle  Städte  des  Altertums  stark 
befestigt  war,  zur  Übergabe  zu  zwingen.  In  diesen 
Not  kam  Judith  ein  rettender  Gedanke.  Judith  war 
die  Witwe  des  Manasse,  ihre  Abstammung  ist  mit 
großer  Ausführlichkeit  geschildert,  die  ebenfalls  nicht 
die  Vermutung  rechtfertigt,  daß  Judith  nichts  gewesen 
sei,  als  eine  erdichtete  Figur,  die  gerade  gebraucht 
wurde,  um  eine  Doktrin  dichten  zu  können.  Judith 
wird  als  eine  besonders  fromme  und  gottesfürchtige 
Person  geschildert,  die  während  der  31/2  Jahre  ihrer 
Witwenschaft  im  Sacke  um  den  auf  dem  Felde  plötz- 
lich verstorbenen  Mann  trauerte.  Diese  Judith  be- 
schloß nun,  mit  Gottes  Hilfe  ihr  Volk  von  den  Feinden 
zu  erretten.  Sie  begab  sich,  festlich  gekleidet  und 
im  Glänze  ihrer  ungewöhnlichen  Schönheit  mit  einer 
Magd  ins  feindliche  Lager  und  verlangte,  vor  Holo- 
fernes  geführt  zu  werden. 

Was  sich  dort  abspielte,  ist  altorientalisches  Leben 
mit  einer  psychologischen  Feinheit  beobachtet,  daß 
diese  Geschichte,  wäre  sie  nicht  die  Geschichte  einer 
wahren  Begebenheit,  sondern  freie  Erfindung,  ein 
Meisterstück  poetischer  Schilderung  wäre.  Holofernes 
sieh!  die  schöne  Jüdin,  die  ihm  helfen  will,  die  feind- 


—     145     — 

liehe  Stadt  in  seine  Hände  zu  bekommen.  Er  ist 
ihr  schon  aus  diesem  Orunde  gewogen;  aber  seine 
Sinnlichkeit  wird  durch  den  Anblick  des  verführerisch- 
schönen Weibes  mehr  und  mehr  entflammt.  Wie  diese 
steigende  Leidenschaftlichkeit  geschildert  wird,  wie 
Judith  es  versteht,  das  sichtliche  Wohlgefallen  des 
nichtigen  Fürsten  listig  auszunutzen,  um  sich  von 
vornherein  eine  Bewegungsfreiheit  zu  sichern,  ohne 
die  sie  ihr  Vorhaben  überhaupt  nicht  hätte  ausführen 
kennen,  das  ist  geradezu  bewunderungswürdig,  und 
nur  verständlich,  wenn  man  annimmt,  daß  die  Er- 
zählung wahr  ist.  Judith  gibt  sich  in  einem  Punkte 
wahr;  sie  ist  die  fromme  Jüdin,  die  ihr  Heil  im 
ständigen  Gebete  sucht  und  offen  erklärt,  daß  sie  auch 
dem  Holofernes  nur  helfen  könne,  wenn  dieser  ihr 
erlaube,  sich  täglich  aus  dem  Lager  zu  entfernen,  um 
in  der  Nähe  ihrer  Stadt  ihr  Gebet  zu  verrichten.  Nur 
dadurch  hatte  sie  die  Sicherheit,  daß  sie  zu  jeder 
Zeit  mit  ihrer  Dienerin  das  Lager  verlassen  durfte. 
Ja,  sie  hatte  ihren  Plan  noch  besser  durchdacht;  sie 
hatte  in  einem  Sacke  Lebensmittel  mitgenommen  und 
durfte  auch  beim  Verlassen  des  Lagers  diesen  Sack 
mit  sich  nehmen. 

Holofernes  empfindet  immer  mehr  Begierde  nach 
Judith:  es  liegt  ihm  schließlich  viel  mehr  daran,  die 
Judith  zu  erobern  als  die  feste  Stadt  Bethulia,  die 
ihm  ja  ohnehin  nach  seiner  Ansicht  nicht  entgehen 
konnte.  Er  war  schließlich  nur  noch  darauf  bedacht, 
Judith  für  sich  zu  gewinnen  und  machte  daraus  auch 
vor  seiner  Umgebung  kein  Hehl.  Es  heißt  wörtlich: 
„Am  vierten  Tage  machte  Holofernes  ein  Abendmahl 
seinen  nächsten  Dienern  allein,  und  sprach  zu  Bagoas, 

10 


—     146     — 

seinem  Kämmerer:  Gehe  hin,  und  berede  das  ebräische 
Weib,  daß  sie  sich  nicht  weigere,  zu  mir  zu  kommen. 
Denn  es  ist  eine  Schande  bei  den  Assyrern,  daß  ein 
solch  Weib  unberühret  von  uns  komme,  und  einen 
Mann  genarret  habe/' 

Diese  kurze  Rede  allein  ist  ein  ganzes  Stück 
Kulturgeschichte.  Daß  Holofernes  Absichten  auf  Ju- 
dith hatte,  die  schön  und  verführerisch  war,  das 
würde  ja  keineswegs  als  etwas  besonders  Erwähnens- 
wertes gelten  können,  denn  das  ist  so  natürlich,  daß 
es  unter  gleichen  Verhältnissen  wohl  auch  heute  noch 
bei  allen  Völkern  dasselbe  sein  würde.  Aber  Holo- 
fernes geht  weiter;  er  sagt  das  große  Wort,  daß  es 
eine  Schande  bei  den  Assyrern  sein  würde,  wenn  ein 
solches  Weib  unberührt  davon  kommen  sollte.  Es 
war  also  danach  geradezu  Ehensache,  die  Verführung 
vorzunehmen  und  sie  mit  Hilfe  der  Untergebenen  so- 
fort einzuleiten.  Wenn  man  das  berücksichtigt,  dann 
wird  man  wohl  schwerlich  den  Vorwurf  zu  fürchten 
haben,  daß  man  etwa  leichtfertige  Schlüsse  auf  die 
damalige  Moral  der  Assyrer  ziehe,  wenn  man  daraus 
entnimmt,  daß  das  Liebesleben  jenes  alten  Volkes  von 
einer  Sinnlichkeit  erfüllt  war,  die  kaum  übertroffen 
werden  kann. 

Wie  verhielt  sich  nun  Judith  zu  dem  Ansinnen? 
Sie  wird  als  eine  sehr  fromme  und  tugendhafte,  sitten- 
reine  Witwe  geschildert,  idie  einsam  und  verlassen 
31/2  Jahre  um  den  verstorbenen  Mann  trauerte  und  nie 
daran  dachte,  nach  einem  neuen  Gatten  zu  schauen,  oder 
auch  nur  nach  einem  noch  so  harmlosen  Verkehr  mit 
Männern  trachtete.  Wendete  sie  sich  mit  sittlicher  Ent- 
rüstung ab,  als  ihr  ein  so  echt  —  assyrisches  Aner- 


—     147     — 

bieten  gestellt  wurde?     O  nein!     Im  Gegenteil.     Sie 
hatte   längst   erkannt,   daß   sie  das   Wohlgefallen   des 
Holofernes    in    hohem    Maße   erregt  hatte,   und   daß 
Holofernes  ihr  ein  derartiges  Anerbieten  machen  werde. 
Sie  ist  offenbar  nur  deshalb  in  das  feindliche  Lagen 
gegangen,  weil  sie  die  Männer  ihrer  Zeit  kannte  und 
sich    wohl   bewußt  war,   daß   sie   immer   noch    einen 
tiefen  Eindruck  auf  Männerherzen  machen  konnte.    Sie 
mochte   vielleicht   auch   von   der   assyrischen   Lebens- 
auffassung gehört  haben,  (die  ja  nicht  einmal  so   er- 
heblich verschieden  von  der  jüdischen  war,  und  mochte 
recht  gut  wissen,  daß  die  Stunde  kommen  mußte,  wo 
die    Begierde    den    Sinn    des    gewaltigen    Feldherrn 
berücken    würde.     Das   ist   eben   die   psychologische 
Feinheit  in  der  ganzen  Geschichte.    Es  heißt  im  Text 
weiter:    „Da  sprach  Judith:    Wie  darf  ich's  meinem 
Herrn   versagen?     Alles,   was   ihm   lieb  ist,   das   will 
ich    von    Herzen    gerne    tun   all   mein   Leben   lang." 
Und    sie    stand   auf,   und   schmückte   sich,   und   ging 
hinein  vor  ihm.    Da  wallte  dem  Holofernes  sein  Herz; 
denn  er   war   entzündet  von   Begierde  zu   ihr.      Und 
sprach   zu   ihr:    Sitz   nieder,   trink,   und   sei   fröhlich; 
denn  du  hast  Gnade  gefunden  bei  mir.     Und  Judith 
antwortete:    Ja,  Herr,  ich  will  fröhlich  sein,  denn  ich 
bin  mein  Leben  lang  so  hoch  nicht  geehret  worden." 
Auch    diese    Rede    zeigt   einen   lehrreichen   Ein- 
blick  in  das   Leben   jener  alten   Zeit.     Es   war  doch 
weder  für  Judith  noch  für  die  ganze  Gesellschaft  auch 
nur  der  leiseste  Zweifel  darüber  vorhanden,    welche 
Rolle  Judith  bei  Holofernes  spielen  sollte.     Dennoch 
sagt    Judith,   sie  sei   ihr   Leben   lang   noch   nicht   so 
geehrt   worden,    wie   dadurch,    daß    sie   die    Buhlerini 

10* 


—     148     — 

des  Holofernes  werden  sollte.  Daß  auch  dies  nach 
der  altjüdischen  Auffassung  des  Liebeslebens  durch- 
aus keine  Phrase  war,  ist  unstreitig.  Es  war  eben 
für  das  Weib  eine  ehrende  Auszeichnung,  wenn  es 
bei  einem  Manne  heftige  Begierden  erregte,  die 
eben  doch  nur  das  Weib  zu  erregen  vermochte,  das 
in  ausreichendem  Maße  begehrenswert  war.  Ist  es 
doch  auch  bei  uns  noch  eine  Auszeichnung  für  ein 
weibliches  Wesen,  wenn  es  viel  umworben  ist,  d.  h. 
doch  aber  auch  nichts  weiter,  als  daß  es  die  Eigen- 
schaften besitzt,  die  jn  Männeraugen  ein  Weib  be- 
gehrenswert erscheinen  lassen.  Daß  dabei  das 
sexuelle  Moment  nicht  ausgeschaltet  werden  kann,  das 
ist  doch  auch  in  unserer  Zeit  noch  Binsenweisheit, 
wenn  wir  es  freilich  auch  nicht  nach  heutiger  Moral- 
ansicht zugeben  dürfen,  daß  eine  Begehrlichkeit,  die 
nicht  durch  die  Ehe  sanktioniert  wird,  als  eine 
Auszeichnung  gelten  sollte.  Wir  würden  das  Erregen 
der  Begierde  für  eine  Auszeichnung,  den  Wunsch,  daß 
diese  Begierde  anders  als  durch  die  Ehe  befriedigt 
werden  soll,  als  eine  beleidigende  Herabsetzung  zu 
bezeichnen  haben.  Das  Altertum,  namentlich  das  des 
sinnlichen  Orients,  kannte  aber  das  Dogma  von  der 
Metamorphose  der  Auszeichnung  nicht,  sondern  fol- 
gerte logischer,  weil  natürlicher,  daß  wenn  die  Er- 
regung der  Begierde  ehrend  sei,  auch  die  Konsequenz 
ehrenvoll  bleiben  müsse.  Also  Judith  fühlte  sich  so 
hoch  geehrt,  wie  noch  niemals  all  ihr  Leben  lang. 
Kleine  Züge  soll  man  bei  der  Prüfung  derartiger 
Vorgänge  so  wenig  unbeachtet  lassen,  wie  große  Taten, 
die  ja  nur  deshalb  größer  erscheinen,  weil  der  erheb- 
liche Erfolg  drastischer  in  die  Augen  fällt.    Ein  kleiner 


—     149     — 

Zug  war  es,  daß  sich  Judith  noch  besonders  schmückte, 
ehe  sie  zu  Holofernes  ging.  Sie  wollte  ihn  eben 
völlig  berauschen  und  ihm  den  klaren  Verstand 
nehmen.  Es  ist  wohl  anzunehmen,  daß  sie  damit 
erreichen  wollte,  was  der  Bibeltext  ganz  nebenbei 
sagt:  „Und  Holofernes  war  fröhlich  mit  ihr,  und 
trank  so  viel,  als  er  nie  getrunken  hatte  sein  Leben 
lang." 

Auch  dabei  findet  sich  noch  eine  psychologische 
Feinheit  Judith  verzehrte  nur  das,  was  ihre  Magd 
ihr  bereitet  hatte.  Es  war  dies  sicherlich  Speise  und 
Trank,  die  ihr  den  Verstand  nicht  trüben  konnten. 
Sie  wollte  bei  dem  Abenteuer  ihrer  Sinne  völlig 
Herrin  bleiben,  und  sah  gewiß  mit  großer  Freude, 
daß  der  gute  Holofernes,  der  das  Ziel  seiner  heißen 
Wünsche  sicher  erreicht  zu  haben  glaubte,  diese  weise 
Vorsicht  vollständig  außer  Acht  ließ.  Daß  dabei  Holo- 
fernes sich  bis  zur  Sinnlosigkeit  betrinken  würde,  das 
konnte  Judith  allerdings  nicht  voraussehen;  aber  sie 
hatte  jedenfalls  ihre  Pläne  so  gemacht,  daß  sich  auch 
ohne  diesen  glücklichen  Zufall  einen  Erfolg  ihres 
Abenteuers  gehabt  haben  würde.  Es  kann  auch  nicht 
gerade  Wunder  .nehmen,  wenn  Judith  und  die,  die 
die  Geschichte  erzählt  haben,  in  der  völligen  Trunken- 
heit des  Holofernes  nicht  einen  blinden  Zufall  er- 
blickten, sondern  eine  Fügung  des  großen  Gottes,  den 
Judith  ja  um  Hilfe  angefleht,  und  von  dem  sie 
zuversichtlich  eine  Hilfe  erwartet  hatte,  da  ja  Gott 
durch  diese  Hilfe  zeigen  sollte,  daß  er  der  große, 
mächtige  Gott  sei,  der  die  Seinen  auch  in  der  höchsten 
Not  nicht  verläßt,  und  der  sich  nicht  durch  hoffärtige, 
übermütige  Menschen  verspotten  läßt. 


—     150     — 

Es  muß  bei  der  Tafel  sehr  lustig  hergegangen 
sein,  denn  es  wird  erzählt,  daß  die  Diener  sich  ent- 
fernten, und  daß  sie  alle  betrunken  waren.  Es  ist 
das  wohl  auch  die  beste  Erklärung  dafür,  daß  sich 
niemand  weiter  um  den  sinnlos  berauschten  Holofernes 
kümmerte,  sondern  daß  man  ihn  in  diesem  Zustande 
mit  der  Judith  allein  ließ.  Es  ist  ja  ohnehin  nichti 
zu  vergessen,  daß  Holofernes  schon  vorher  allen  ge- 
sagt hatte,  er  wolle  die  Schande  bei  den  Assyrern 
nicht  aufkommen  lassen,  daß  ein  solches  Weib  un- 
berührt von  ihnen  kommen  sollte;  sie  wußten  also, 
daß  er  sie  für  sich  allein  haben  wollte,  und  trauten 
es  dem  Manne  wohl  zu,  daß  er  selbst  einen  starken 
Rausch  bald  überwinden  und  sich  auf  Judith  besinnen 
würde,  die  ja  bereitwilligst  diese  Ehre  genießen  wollte. 
„Und    Judith   war   allein   bei   ihm   in   der   Kammer." 

Das  Weib  allein  mit  dem  gewaltigen  Manne,  der 
ihrer  so  heiß  begehrte.  Es  wäre  ja  wohl  doch  die 
Sinnlichkeit  des  Weibes  auf  eine  harte  Probe  gestellt 
worden,  wenn  Judith  nicht  so  fest  von  dem  Vorsatz, 
ihr  Volk  zu  retten,  durchdrungen  gewesen  wäre.  So 
allerdings,  wo  sie  den  Mann  sinnlos  vor  sich  auf  dem 
Bette  liegen  sah,  machtlos  und  willenlos  in  ihre  Hand 
gegeben,  den  Mann,  den  sie  als  den  gefährlichsten! 
Feind  ihres  Volkes  glühend  hassen,  den  sie  wegen 
seiner  wüsten  Trinkerei  verachten  mußte,  da  war 
wohl  die  Versuchung  nicht  allzugroß.  Hochklopfenden 
Herzens  beobachtete  sie  den  Feind,  dessen  mächtige 
Glieder  ihr  auch  trotz  seiner  Besinnungslosigkeit  noch 
Furcht  und  Schrecken  einflößten.  Würde  ihr  das 
Werk,  das  sie  verrichten  wollte,  auch  glücken,  würde 
ihre   des    Kampfes   und   der   Waffen   völlig   ungeübte 


—     151     — 

Hand,  diesen  Riesen  erschlagen  können?  Und  was 
sollte  geschehen,  wenn  sie  ihn  nicht  mit  mächtigem 
Streiche  zu  fällen  vermochte?  Wenn  sie  ihn  bloß 
verwundete  und  ihn  dadurch  ins  Bewußtsein  zurück- 
rief, ehe  sie  ihn  wirklich  kampfunfähig  gemacht 
hatte?  Und  wenn  ihr  Überfall  Lärm  verursachte,  durch 
den  seine  Wachen  herbeigelockt  würden  ?  Die  Rettung 
ihres  Volkes  war  auch  dann  mißlungen,  wenn  selbst 
Holofernes  sterben  mußte;  denn  die  Assyrer  würden 
dann  in  maßlose  Wut  geraten,  statt  in  Bestürzung 
und  den  Tod  des  Feldherrn  am  jüdischen  Volke  furcht- 
bar rächen. 

Es  war  also  trotz  aller  günstigen  Umstände  doch 
noch  eine  verzweifelte  Lage,  in  der  sich  Judith  be- 
fand. „Und  Judith  trat  vor  das  Bette,  und  betete 
heimlich  mit  Tränen."  Sie  betete,  daß  Gott  ihr  bei 
dem  Meuchelmord  helfen  sollte.  An  sich  ein  absurder 
Gedanke,  und  doch  kein  unlogischer,  denn  Gott  sollte 
ja  zum  Siege  helfen,  und  der  Sieg  über  einen  grimmen 
Feind  ist  nicht  möglich,  wenn  der  Feind  geschützt 
werden  soll.  Judith  ergriff  das  Schwert  des  Holofernes, 
das  an  der  Säule  oben  am  Bette  hing,  und  führte 
die  eigene  Waffe  ihres  Opfers  gegen  dieses.  Zwei- 
mal hieb  sie  mit  aller  Kraft  zu;  der  Kopf  war  damit 
noch  nicht  vom  Rumpfe  getrennt,  sondern  die  Mörderin 
mußte  ihn  erst  noch  mit  des  Schwertes  Schärfe  völlig, 
abschneiden.  Holofernes  erwachte  aber  nicht  zum 
Bewußtsein;  schon  der  erste  Hieb  muß  also  sofort 
tötlich  gewesen  sein.  Der  Plan  war  gelungen.  Der 
stolze,  siegesgewisse  Feldherr  war  nicht  mehr,  von 
den  Freuden  einer  üppigen  Tafel  träumte  er  hinüber 
in  das  geheimnisvolle  Jenseits,  von  dem  es  kein  Zurück 


—     152     — 

mehr  gibt.  Und  Judith  warf  den  entseelten  Körper 
von  dem  Lager,  auf  dem  er  mit  ihr  die  höchste  Wollust 
hatte  genießen  wollen,  auf  den  Boden.  Den  Kopf 
aber  hüllte  sie  in  den  Sack,  den  sie  zum  Aufbewahren 
ihrer  Lebensmittel  stets  bei  sich  führte  und  nahm  ihn 
mit  hinaus.  Dann  ging  sie  mit  ihrer  Magd  hinaus 
aus  dem  Lager,  wie  sie  dies  jeden  Abend  getan  hatte, 
um  zu  beten.  Die  Diener  des  Holofernes,  die  wußten, 
daß  ihr  Herr  mit  Judith  die  Wonnen  der  Liebe  ge- 
nießen wollte,  waren  ja  ebenfalls  betrunken ;  sie 
schliefen  und  merkten  den  vorzeitigen  Abschied  der 
Jüdin  nicht,  und  die  Wachen,  die  ein  für  allemal  den 
Befehl  hatten,  das  ebräische  Weib  ungehindert  pas- 
sieren zu  lassen,  konnten  natürlich  keinen  Verdacht 
hegen,  als  die  fremden  Frauen  also,  wie  sie  dies 
sonst  taten,  das  Lager  verließen.  Sie  achteten  auch 
nicht  darauf,  wie  lange  diese  fortblieben,  und  ob  sie 
überhaupt  zurückkehrten.  An  eine  Rückkehr  dachte 
Judith  selbstverständlich  nicht;  sie  entfloh  vielmehr 
eiligst  nach  Bethulia.  Dort  fand  sie  natürlich  die  Tore 
fest  verwahrt;  aber  es  gelang  ihr  leicht,  sich  den 
Wächtern  zu  erkennen  zu  geben  und  Einlaß  zu  finden. 
Den  Kopf  des  Holofernes  führte  sie  als  unwiderleg- 
baren Beweis  dafür,  daß  das  unmöglich  Scheinende 
gelungen,  daß  Holofernes  kein  gefährlicher  Feind 
mehr  war,  mit  sich. 

Damit  war  freilich  die  Rettung  erst  zur  Hälfte 
geschehen;  aber  schon  (der  Anblick  des  Hauptes  er- 
füllte die  Männer  Judas  mit  wilder  Siegesfreude.  Ju- 
dith riet  nun,  man  solle  am  nächsten  Morgen  in  aller 
Frühe  das  blutige  Haupt  des  Feindes  über  die  Mauer 
hinaus  hängen.     Das  war  ein  sehr  kluger  Rat,  denn 


—     153     — 

der  Anblick  dieser  Trophäe  mußte  die  Juden  sieges- 
gewiß  machen,  weil  er  ihnen  zeigte,  daß  Gott  dem 
gefährlichsten  Gegner  in  ihre  Hand  gegeben  hatte, 
und  von  der  Stimmung,  mit  der  die  Juden  den  An- 
griff auf  das  feindliche  Lager  unternahmen,  hing 
eben   der   Erfolg  ab. 

Der  Rat  wurde  befolgt,  und  am  andern  Morgen 
berauschte  sich  das  ganze  Volk  an  dem  Anblick  des 
Hauptes.  Die  Männer  ergriffen  die  Waffen  und  stürm- 
ten mit  großem  Geschrei  nach  dem  assyrischen  Lager. 
Dort  hatte  noch  niemand  von  der  grausigen  Bluttat 
der  Judith  etwas  bemerkt.  Man  lachte  deshalb  über 
die  Juden  und  die  Feldhauptleute  wendeten  sich  an 
Bagoas  und  forderten  ihn  auf,  den  Holofernes  zu 
wecken,  denn  „die  Mäuse  seien  herausgelaufen  aus 
ihren  Löchern  und  kühn  geworden";  sie  wagten  es, 
das  Lager  anzugreifen.  „Da  ging  Bagoas  hinein,  und 
trat  vor  den  Vorhang,  und  klatschte  mit  den  Händen; 
denn  er  meinte,  er  schliefe  bei  Judith.  Und  horchte, 
ob  er  sich  regen  wollte.  Da  er  aber  nichts  vernahm, 
hob  er  den  Vorhang  auf:  da  sah  er  den  Leichnafm 
ohne  Kopf  in  seinem  Blute  auf  der  Erde  liegen.  Da 
schrie  und  heulte  (er  laut,  und  zerriß  seine  Kleider, 
und  sähe  in  der  Judith  Kammer;  und  da  er  sie  nicht 
fand,  lief  er  heraus  zu  den  Kriegern  und  sprach:  Ein 
einziges  ebräisches  Weib  hat  das  ganze  Haus  Nebu- 
kadnezars  zu  Spott  und  Hohn  gemacht  vor  aller  Welt; 
denn  Holofernes  liegt  da  tot  auf  der  Erde,  und  ist 
ihm  der  Kopf  abgehauen.  Da  das  die  Hauptleute 
von  Assyrien  hörten,  zerrissen  sie  ihre  Kleider,  und 
erschraken  über  die  Maßen  sehr.  Und  ward  ein  groß 
Zetergeschrei  unter  ihnen." 


—     154     — 

Das  war  also  genau  die  Wirkung,  die  Judith  er- 
wartet hatte,  und  die  zum  Gelingen  des  kühnen  Über- 
falls unbedingt  erforderlich  war,  denn  da  die  Assyrer 
erheblich  in  der  Übermacht  waren,  da  sie  kampf- 
gewohnte und  für  unüberwindlich  gehaltene  Krieger 
waren,  hätte  ein  Überfall  des  Lagers  durch  die  Juden 
als  heller  Wahnsinn  erscheinen  müssen,  wenn  nicht 
ein  so  außerordentliches  Ereignis  eingetreten  wäre, 
das  unter  allen  Umständen  das  moralische  Gleich- 
gewicht so  wesentlich  zu  gunsten  der  stürmenden 
Juden  verschieben  mußte,  daß  eben  das,  was  sonst 
Wahnsinn  schien,  zum  Erfolge  führte.  Wir  haben  ja 
gesehen,  daß  die  Assyrer  zunächst  über  den  Ausfall 
der  Juden  spotteten,  die  Mäuse  hätten  ihre  Löcher 
verlassen  und  seien  kühn  geworden,  so  hieß  es,  ehe 
der  plötzliche  Tod  des  Holofernes  bekannt  war.  Und 
nachdem  die  Schreckenskunde  das  assyrische  Lager 
durcheilte?  Der  Text  schildert  es  sehr  einfach:  „Da 
nun  das  Kriegsvolk  hörte,  daß  Holofernes  der  Kopf 
ab  war,  erschraken  sie,  und  wurden  irr,  und  konnten 
nicht  Rat  halten,  was  sie  tun  sollten,  so  war  ihnen] 
der  Mut  entfallen ;  und  flohen  auf  allen  Wegen  in  der 
Ebene  und  im  Gebirge,  daß  sie  den  Ebräern  ent- 
rinnen möchten;  denn  sie  hörten,  daß  sie  gegen  sie 
daherzögen.  Und  da  die  Kinder  Israel  sahen,  daß 
die  Feinde  flohen,  eileten  sie  ihnen  nach  mit  großem 
Geschrei  und  Trommeln/'  Keine  Spur  eines  Wunders! 
Alles  ist  so  durchaus  natürlich  und  einfach,  daß  man 
sagen  könnte,  selbst  das  Faktum,  daß  zwei  und  zwei 
immer  nur  vier  ergeben  müsse,  sei  nicht  selbstverständ- 
licher als  dieser  Sieg  der  Kinder  Israel  über  die  viel 
stärkere  Macht  der  Assyrer.     Der  Oberste  der  Stadt, 


—     155     — 

Orius,  schickte  eiligst  Boten  an  alle  Städte  des  Landes, 
ließ  ihnen  die  Kunde  von  dem  Siege  bringen  und  sie 
auffordern,  den  Sieg  ausnutzen  zu  helfen.  Dadurch 
erhielt  er  große  Verstärkungen,  die  den  Fliehenden 
in  den  Weg  fielen  und  ihnen  große  Verluste  bei- 
brachten. Man  erreichte  damit  auch,  daß  die  Assyrer 
nirgends  Ruhe  noch  Rast  fanden,  bis  sie  aus  dem 
Lande  getrieben   waren. 

Wer  sich  von  den  Einwohnern  Bethulias  nicht 
an  dem  Angriffe  beteiligt  hatte,  der  wanderte  nun 
hinaus  in  das  assyrische  Lager,  das  verödet  und  un- 
bewacht geblieben  war,  da  die  Assyrer  nur  darauf 
bedacht  gewesen  waren,  sich  zu  retten.  Nichts  hatten 
sie  mitgenommen,  und  nun  zeigte  sich  erst  der  Reich- 
tum und  der  Luxus,  den  die  verwöhnten  Assyrer 
auch  im  Kriegslager  nicht  vermissen  wollten.  Die 
Beute  war  enorm,  und  die  Israeliten  erwarben  auf 
leichte  Weise  gewaltige  Reichtümer.  Sie  waren  aber 
nicht  undankbar  und  vergaßen  nicht,  der  Retterin  in 
ihrer  Not,  der  kühnen  Judith,  reiche  Geschenke  zu 
machen.  Alle  die  massenhaften  Prunkstücke  aus  edlen 
Metallen,  die  Holofernes  mit  sich  geführt  hatte,  er- 
hielt Judith  als  Geschenk,  und  aus  dem  ganzen  Lande 
strömten  helle  Scharen  nach  Bethulia,  um  Judith  zu 
sehen  und  zu  preisen.  Judith  war  und  blieb  die 
Heldin  des  Volkes;  aber  sie  vergaß  ihren  Mann  nicht 
und  blieb  Witwe.  Im  Alter  von  105  Jahren  soll  sie 
gestorben  sein. 

Doch  nun  genug  von  dieser  biblischen  Judith- 
episode. Daß  sie  die  höchste  Wahrscheinlichkeit  für 
sich  hat,  keine  freie  Erfindung  zu  sein,  habe  ich  ge- 
nügend  dargetan.     Sie   würde   aber   auch,   wenn   sie 


—     156     — 

eine  bloße  Dichtung  wäre,  vollen  Anspruch  auf  recht 
eingehende  Beachtung  erleben  dürfen.  Sicher  sind 
doch  mindestens  die  Sitten  und  Gebräuche  jener  Zeiten 
durchaus  richtig  wiedergegeben,  und  diese  zeigen  die 
alte  assyrische  Moral  in  so  klarem  Lichte,  daß  für 
den  Kulturhistoriker  diese  Geschichte  immer  noch  eine 
Fundgrube  bleibt.  Von  einiger  Wichtigkeit  ist  nun 
freilich  die  Frage,  ob  Holofernes,  der  den  Ausspruch 
getan  haben  soll,  daß  es  eine  Schmach  und  Schande 
bei  den  Assyrern  sei,  wenn  ein  Weib  wie  Judith  sich  von 
ihnen  trennen  sollte,  unberührt  und  unverführt,  wirk- 
lich gelebt  hat.  Daß  die  biblische  Geschichte  die 
Namen  nicht  ganz  genau  wiedergibt,  beweisen  schon 
die  Benennungen  Bethulia  und  Nebukadnezar,  die,  wie 
wir  gesehen  haben,  in  Wirklichkeit  anders  lauteten. 
Auch  Holofernes  ist  nicht  korrekt  genannt,  und  höchst 
wahrscheinlich  ist  Holofernes  in  Wirklichkeit  der  per- 
siche  Name  Orofernes.  Ein  solches  Fürstengeschlecht 
ist  aber  historisch  nachgewiesen;  es  tritt  sogar  ver- 
schiedentlich in  der  Geschichte  auf.  Ein  Mitglied  der 
kappadocischen  Familie  Orofernes  wird  als  Feldherr 
des  Darius  Ochus  etwa  345  v.  Chr.  genannt,  der  andere 
bemächtigte  sich  159  v.  Chr.  sogar  des  Thrones,  er 
war  ein  dem  König  Ariarathes  IV.  von  seiner  Gattin 
Antiochis  untergeschobener  Sohn.  Es  ist  also  auch 
nach  dieser  Richtung  hin  mindestens  doch  so  viel 
bewiesen,  daß  die  Namen,  die  in  der  Judithgeschichte 
die   Hauptrollen   spielen,   echt  sind. 

Auffallen  mag  es  ja,  daß  bei  der  lüsternen  Leiden- 
schaft der  Assyrer  nicht  Weiber  im  Kriegslager  desj 
Holofernes  erwähnt  sind.  Man  würde  doch  fast  mit 
Sicherheit   erwarten   dürfen,   daß   Holofernes   mehrere 


—     157     — 

Gattinnen  oder  Buhlerinnen  mit  sich  geführt  habe. 
Das  ist  aber  auch  wieder  ein  Punkt,  der  nicht  vor- 
eilig abgetan  werden  darf.  Zunächst  kommt  es  ja 
bei  der  Erzählung  nicht  im  mindestens  darauf  an,  eine 
kulturhistorisch  wertvolle  Schilderung  des  Lebens  in 
einem  assyrischen  Kriegslager  zu  liefern,  sondern  es 
soll  die  Geschichte  der  durch  die  Ermordung  des  Holo- 
fernes  ermöglichten  Rettung  Israels  geschildert  werden. 
Dabei  war  es  selbstverständlich  nicht  von  Interesse, 
ob  die  Assyrer  Weiber  bei  sich  führten,  ja,  es  mußte 
ohnehin  das,  was  damals  allgemeiner  Brauch  war,  als 
bekannt  und  deshalb  nicht  der  Erwähnung  wert  be- 
trachtet werden,  wie  ja  auch  sonst  keine  einzige  An- 
deutung über  das  Leben  im  Lager  der  Assyrer  g&- 
macht  wird.  Es  war  selbstverständlich,  daß  sich  Weiber 
im  Kriegszuge  befanden,  wie  ja  auch  die  Kinder  Israel 
selbst  ihre  Kriege  bei  der  Eroberung  des  gelobten 
Landes  geführt  hatten,  während  Weiber  und  Kinder 
mit  im  Zuge  weilten.  Die  Stellung  des  Weibes  im 
Orient  war  auch  keine  solche,  daß  sie  etwa  bei  einem 
Liebesabenteuer  des  Holofernes  irgendwie  eine  Stö- 
rung hätte  veranlassen  können.  Judith  bewegte  sich 
ziemlich  frei  im  assyrischen  Lager;  schon  dies  deutet 
darauf  hin,  daß  die  Anwesenheit  von  Weibern  durch- 
aus nicht  auffiel;  es  würde  vielmehr  Aufmerksamkeit 
bei  den  assyrischen  Kriegern  erregt  haben,  was  Ju- 
dith trieb,  wohin  sie  sich  wendete,  sobald  sie,  um 
zu  beten,  das  Lager  verließ,  und  es  wäre  ihr  gewiß 
nicht  so  leicht  geworden,  nach  der  Mordtat  sich  zu 
entfernen  und  den  Kopf  des  Holofernes  mit  sich  zu 
nehmen,  wenn  es  nicht  ein  ziemlich  gewohnter  Anblick 
gewesen    wäre,    Weiber   sich   im    Lager   bewegen    zu 


-     158     — 

sehen.  Daß  die  Krieger  alle  der  Ansicht  waren,  es 
sei  eine  Schande,  wenn  ein  solches  Weib  unberührt 
von  ihnen  komme,  wird  man  wohl  annehmen  dürfen; 
wenn  aber  der  gewöhnliche  Soldat  nichts  tat,  diese 
Schande  abzuwenden,  d.  h.  wenn  nicht  alle  sich  an 
die  verlockend  schöne  Jüdin  heranwagten,  so  liegt  dies 
daran,  daß  sie  wohl  wußten,  Judith  gehöre  dem  Holo- 
fernes, und  dieser  würde  ja  wohl  in  diesem  Punkte 
keinen  Spaß  verstanden  und  durchaus  keine  Neigung 
gehabt  haben,  ein  Weib,  das  ihn  selbst  „entzündet" 
hatte,  mit  seinen  Soldaten  zu  teilen.  Auch  Judith 
würde  wohl  nicht  auf  den  kühnen  Plan  gekommen, 
sein,  ins  feindliche  Lager  zu  gehen  und  den  gefürch- 
teten Feldherrn,  vor  dessen  Stirnrunzeln  ganze  Völker 
zitterten,  zu  ermorden,  wenn  sie  nicht  gewußt  hätte, 
daß  Besuche  von  Weibern  im  Kriegslager  weder  et- 
was Ungewöhnliches  noch  etwas  Unerwünschtes 
waren;  sie  muß  doch  ganz  genau  damit  gerechnet 
haben,  daß  der  gestrenge  Herr  Holofernes,  glühenden 
Weiberaugen  gegenüber  weiches  Wachs  war,  eine  Be- 
rechnung, die  sich  ja  auch  als  durchaus  richtig  erwies. 
Es  ist  nun  im  letzten  Kapitel  der  Judith-Geschichte 
auch  gesagt,  daß  Judith  während  ihres  langen  Lebens 
in  Israel  hochgeehrt  gewesen  sei,  und  daß,  so  lange 
sie  lebte,  niemand  gewagt  habe,  Israel  anzugreifen. 
Das  ist  freilich  wohl  eine  ziemlich  kühne  Phantasie, 
denn  mit  ihren  100  Jahren  wird  wohl  auch  Judith 
nicht  mehr  so  verführerisch  schön  gewesen  sein,  daß 
es  ihr  etwa  hätte  gelingen  können,  die  Künste,  denen 
Holofernes  zum  Opfer  gefallen  war,  zu  wiederholen, 
mag  auch  ihr  Name  bei  den  Feinden  eine  Art  Alp- 
drücken hervorgerufen  haben,  „denn  kein  Mann,  noch 


—     159     — 

kein  Krieger  hat  ihn  (Holofernes)  umgebracht,  und 
kein  Riese  hat  ihn  angegriffen,  sondern  Judith,  die 
Tochter  Aleroris,  hat  ihn  niedergelegt  mit  ihrer  Schön- 
heit. Denn  sie  legte  ihre  Witwenkleider  ab,  und  zog 
ihre  schönen  Kleider  an  zur  Freude  den  Kindern 
Israel;  sie  bestrich  sich  mit  köstlichem  Wasser,  und 
flocht  ihre  Haare  ein,  ihn  zu  betrügen;  ihre  schönen 
Schuhe  verblendeten  ihn;  ihre  Schönheit  fing  sein  Herz; 
abei  sie  hieb  ihm  den  Kopf  ab,  daß  sich  die  Perser 
und   Meder   entsetzten   vor  solcher  Tat." 

Es  ist  da  nochmals  das  Resume  gegeben,  die 
intimere  Schilderung  der  Umstände,  durch  die  Holo- 
fernes zu  Fall  gebracht  wurde.  Es  ist  das  eine  fast 
schwülstige  Liebesepisode,  die  zwar  in  der  Forrn 
eines  Gebetes  gedacht  ist,  aber  doch  die  sinnliche 
Siedehitze  des  Holofernes'schen  Liebesrausches  an- 
schaulich genug  schildert.  Wer  das  so  verständnisvoll 
zu  schreiben  vermochte,  der  mußte  einen  tiefen  Ein- 
blick getan  haben  in  das  Liebesleben  des  Volkes,  in 
dem  Holofernes  einen  so  hohen  Rang  eingenommen 
hatte. 

Das  Schlußkapitel  enthält  aber  noch  einen  Satz, 
der  für  mein  Thema  von  großem  Interesse  ist;  es 
heißt  da:  „Er  dräute,  mein  Land  zu  verbrennen,  und 
meine  Mannschaft  zu  erwürgen,  Kinder  und  Jungfrauen 
wegzuführen."  Das  ist  eine  Klage,  die  so  einfach 
klingt,  daß  sie  kaum  der  Erörterung  zu  bedürfen  scheint, 
und  doch  ist  sie  eine  höchst  beachtenswerte  Andeutung 
einei  furchtbaren  Kriegssitte,  die  ebenfalls  beweist, 
daß  furchtbare  Grausamkeit  mit  Wollust  gepaart,  das 
Fühlen  und  Denken  jener  Völker  erfüllte.  Man  be- 
gnügte sich  nicht  damit,  den  Feind  besiegt  zu  haben, 


—     160     — 

sondern  ruhte  nicht,  ehe  die  Männer  vernichtet  waren, 
die  Weiber  aber  eine  besonders  begehrte  Beute  bil- 
deten. Ich  werde  auf  diese  Kriegsbräuche  noch 
zurückkommen. 

Die  Vorliebe  für  Nuditäten,  die  uns  im  Orient 
so  vielfach  entgegentritt,  hat  auch  zur  Gründung  einer 
besonderen  Sekte  geführt,  die  viel  umstritten  ist,  und 
auch  wohl  deshalb  viel  umstritten  bleiben  wird,  weil 
ihr  Programm  in  sich  die  schärfsten  Gegensätze  zu 
vereinen  scheint.  Die  Sekte  predigte  die  unglaub- 
lichste Enthaltsamkeit.  Während  nun  aber  die  As- 
keten, die  ebenfalls  die  völlige  fleischliche  Enthalt- 
samkeit als  das  höchste  sittliche  und  religiöse  Gebot 
betrachteten  und  selbst  die  von  Christus  selbst  em- 
pfohlene Ehe  als  eine  entsetzliche  sündige  Unzucht  be- 
trachteten, dieses  Gebot  dadurch  am  besten  zu  be- 
folgen glaubten,  daß  sie  der  Versuchung  entflohen 
und  sich  fern  von  dem  sündigen  Treiben  dieser  Welt 
in  irgend  einem  stillen  Winkel  verbargen,  was  ja 
jedenfalls  das  beste  und  sicherste  Mittel  war,  sündiger 
Betätigung,  wenn  auch  nicht  sündiger  Lust,  zu  ent- 
gehen, suchte  die  sonderbare  Sekte  durch  das  Gegen- 
teil zu  noch  größerem  Ruhme  zu  gelangen.  Sie 
forderte  völlige  Nacktheit  in  den  religiösen  Versamm- 
lungen und  ließ  beide  Geschlechter  in  dieser  absoluten 
Kostümlosigkeit  sich  gemeinsam  versammeln.  Hier 
war  die  Versuchung  also  in  der  allerstärksten  Form 
geboten.  Daß  es  ein  größeres  Verdienst  ist,  einer 
starken  Versuchung  mit  Festigkeit  zu  widerstehen  als 
der  Versuchung  zu  fliehen  und  etwas  nicht  zu  tun, 
was  man  eben  nicht  tun  kann,  weil  es  an  jeder  Ge- 
legenheit dazu  fehlt,  das  ist  so  zweifellos  richtig,  daß 


—     161     — 

man  sich  ohne  weiteres  zu  dieser  Sekte  wenden  und 
ihr  die  Siegespalme  reichen  müßte.  Die  Sache  ist 
nur  deshalb  so  viel  umstritten,  weil  die  böse  Welt, 
die  es  nun  einmal  liebt,  das  Strahlende  zu  schwärzen, 
und  das  Erhabene  in  den  Schmutz  zu  ziehen,  zwar 
den  guten  Willen  der  Sektengründer  nicht  bestreitet, 
aber  doch  nicht  an  den  Sieg  der  selbstlosen  Tugend 
glauben  will,  sondern  annimmt,  daß  viele  Menschen 
nur  deshalb  Mitglieder  der  Sekte  geworden  seien, 
weil  sie  weniger  die  Erlangung  des  Seelenheils  als 
vielmehr  die  große  Versuchung  gereizt  habe,  ohne 
auch  nur  die  Absicht  zu  haben,  sich  dieser  Versuchung 
widersetzen  zu  wollen.  Es  hätte  eben  für  die  Leute 
nichts  Anziehenderes  gegeben,  als  nichts  anzuziehen, 
besonders  da,  wo  Mann  und  Weib,  durch  das  enge 
Band  der  gleichen  Sekte  aneinandergekettet,  in  fried- 
licher Gemeinschaft  hausten. 

Diese  Sekte  nannte  sich  Adamiten.  Sie  entstand 
im  zweiten  Jahrhundert  christlicher  Zeitrechnung,  und 
man  darf  wohl  annehmen,  daß  der  Gründer  dieser 
Sekte,  Prodicus,  der  ein  Schüler  des  Carprocretes  ge- 
wesen sein  soll,  wirklich  einer  der  überspanntesten 
Menschen  gewesen  ist.  Er  war  Gnostiker  und  ein 
Schwärmgeist,  wie  es  vielleicht  keinen  zweiten  ge- 
geben hat.  Daß  er  fest  von  der  Güte  seines  Systems 
überzeugt  war,  daß  dieses  System  theoretisch  sich 
sehr  glänzend  verfechten  läßt,  ist  wohl  nicht  zu  be- 
streiten ;  aber  wie  die  Theorie  sich  zur  Praxis  ver- 
halten hat,  dasi  ist  der  wunde  Punkt.  Es  steht  nur 
fest,  daß  die  Sekte  wirklich  ihre  Versammlungen  ab- 
hielt. Daß  in  jener  Zeit  keine  Sittenpolizei  bestand, 
die  sich  etwas  energischer  über  diese  Sekte  hätte  in- 

11 


—     162    — 

formieren  können,  daß  das  Heidentum,  das  ja  damals 
noch  die  Macht  in  der  Hand  hatte,  die  Nacktheit 
sicherlich  garnicht  beanstandet  Jiat,  da  es  selbst  sitt- 
lich einen  Tiefstand  erreicht  hatte,  der  nicht  gut  über- 
troffen werden  konnte,  das  steht  auch  fest.  Es  müssen 
also  doch  wesentlich  andere  Gründe  gewesen  sein,  die 
den  Adamiten  das  Leben  sauer  machten  und  den  langen 
Bestand  der  Sekte  ausschlössen.  Ich  denke  mir  die 
Sache  so,  daß  die  Gründer  der  Sekte  wirklich  fromme 
und  eifrige  Fanatiker  waren,  daß  aber  die  Mitglieder 
der  schweren  Versuchung  nicht  widerstanden,  so  daß 
man  schließlich  statt  der  erhofften  äußersten  Reinheit 
die  äußerste  Entsittlichung,  statt  der  religiösen  An- 
dachten Orgien  abhielt,  so  daß  sich  die  Sittenfanatiker 
arg  enttäuscht  sehen  und  erkennen  mußten,  daß  ihr 
schönes  System  ein  verwünscht  schlechtes  System 
war,  weil  man  eben  etwas  gefordert  hatte,  was  viel- 
leicht Engel  zu  erfüllen  vermögen,  während  man  den 
Fehler  begangen  hatte,  den  Versuch  mit  Menschen 
anzustellen.  Es  ist  das  übrigens  für  unsere  modernen 
Nuditäts-  und  Schönheitsapostel  ein  äußerst  lehrreiches 
Kapitel.  Die  Sekte  der  Adamiten  ist  jedenfalls  an 
der  Unzulänglichkeit  des  menschlichen  Charakters  ge- 
scheitert. 

Die  Sekte  ging  unter;  aber  sie  wurde  nicht  ver- 
gessen, sondern  sie  erwachte  nach  mehr  als  tausend 
Jahren  zu  neuem  Leben,  noch  dazu  unter  dem  alten 
Namen.  Der  neue  Stifter  war  ein  Franzose  namens 
Picard.  Daß  diese  neue  Sekte  vielleicht  dieselben 
Prinzipien  als  ihren  Grundgedanken  angab,  nämlich 
die  Bekämpfung  der  Fleischeslust  durch  die  stärkste 
Versuchung,  daß  audh  bei  der  neuen  Sekte  die  völlige 


—     163     — 

Nacktheit  von  Mann  und  Weib  bei  den  gemeinschaft- 
lichen Versammlungen  kultiviert  wurde,  steht  fest, 
ebenso  allerdings  auch,  daß  diese  Zusammenkünfte 
die  wüstesten  Orgien  waren,  die  sich  denken  lassen. 
Sie  interessieren  uns  aber  bei  der  Geschichte  desl 
orientalischen   Lebens   wenig  oder  garnicht. 

Es  gab  noch  andere  Sekten  als  die  Sekte  der  Ada- 
miten,  die  den  großen  Hang  zu  Nuditäten  im  alten 
orientalischen  Liebesleben  kennzeichnen.  Ich  will  hier 
nur  an  die  altgriechischen  Feste  des  Dionyos  erinnern, 
die  sich  weithin  verbreiteten  und  auch  im  alten  Rom 
als  Bacchanalien  im  schlimmsten  Rufe  standen.  Es 
ist,  als  werde  eine  Szene  aus  den  Hexentänzen  auf 
dem  Blocksberge  geschildert.  Freilich,  die  Hexen- 
tänze bestanden  in  der  Hauptsache  nur  in  der  Phan- 
tasie abergläubiger  Menschen  im  Mittelalter,  sind  aber 
doch  wohl  eigentlich  Erinnerungen  an  Wirkliches  aus 
altheidnischer  Vorzeit.  Die  Dionysien  aber  und  Bac- 
chanalien waren  Wirklichkeit.  Sie  waren  ein  reli- 
giöser Brauch,  der  freilich  menschlich,  allzu  mensch- 
lich entartete  und  gerade  deshalb  so  recht  ins  orien- 
talische Liebesleben  hineinpaßte. 

Die  Menschheit  hat  sich  von  jeher  die  Götter 
geschaffen,  deren  sie  bedurfte.  Das  soll  keine  Satire 
sein.  Das  instinktive  Empfinden,  daß  es  höhere,  unsicht- 
bare Gewalten  geben  müsse,  die  den  Lauf  der  Welt 
regeln  und  in  die  Geschicke  der  Menschen  eingreifen, 
ist  der  Menschheit  angeboren,  ein  sogenannter  reli- 
giöser Sinn,  der  nicht  erkünstelt  und  nicht  die  Frucht 
philosophischer  Meditationen,  sondern  durchaus  na- 
türlich ist.  Der  Mensch,  der  als  denkendes  Wesen 
in  die  Welt  gestellt  ist,  die  rings  um  ihn  grünt  und 

11* 


—     164     — 

blüht,  die  angefüllt  ist  von  geheimnisvollen  Rätseln, 
deren  größtes,  unergründliches  der  Mensch  selbst  ist, 
die  überall  ein  geheimnisvolles  Walten,  verborgen 
schaffende  Kräfte  zeigt,  mußte  sich  doch  sagen,  daß 
das  alles  nicht  aus  sich  selbst  entstanden  sein  könne, 
daß  doch  nicht  blinder  Zufall  das  ewige  Werden  und 
Vergehen  zeitigen  könne,  und  die  geheimnisvolle  Kraft 
in  uns,  die  wir  das  Leben  nennen,  die  kommt  und! 
geht,  ohne  daß  sich  dafür  eine  plausible  Erklärung 
finden  ließe,  die  hätte  auch  dem  denkenden  Geiste 
schon  sagen  müssen,  daß  eine  höhere  Gewalt  exi- 
stieren müsse,  die  schöpferisch  wirke,  wieviel  eher 
mußte  sie  auf  den  im  Menschenherzen  schlummernden 
religiösen  Sinn  wirken.  Es  ist  kein  Wunder,  sondern 
etwas  fast  mit  logischer  Notwendigkeit  sich  Ergeben- 
des, daß  die  Menschen  sich  die  Welt  mit  unsichtbaren 
Geistern  bevölkert  dachten,  von  denen  jeder  eine  be- 
stimmte Verrichtung  zu  erfüllen  habe.  Es  konnte  ja 
garnidht  anders  sein,  als  daß  der  naive  Glaube,  deri 
dann  allerdings  schon  die  Frucht  eingehenden  Denkens 
war,  sich  gute  und  böse  Geister  vorstellen  mußte, 
weil  eben  der  naive  Geist  der  Menschheit  nicht  zu 
begreifen  vermochte,  daß  esi  nur  ein  einziger  Geist  sein 
könnte,  der  das  Gute  und  zugleich  das  Böse  tun  sollte. 
Die  Gottheit  konnte  sich  nicht  selbst  bekämpfen,  sie 
konnte  nicht  das  Gute  wollen  und  zugleich  das  Böse. 
Gutes  aber  allein  gibt  es  nicht;  es  steht  ihm  eine 
gleiche  Summe  des  Bösen  gegenüber,  je  nach  der 
Auffassung  vielleicht  auch  eine  größere.  So  schuf  der 
grübelnde  Geist  sich  gute  Gottheiten  und  böse  Dä- 
monen, ein  Grundgedanke,  von  dem  ja  auch  unsere 
christliche  Religion  nicht  frei  geblieben  ist.     Daß  mit 


—     165     — 

der  fortschreitenden  Kultur  sich  auch  die  Götterlehre 
mehr  und  mehr  entwickelte,  daß  man  nicht  bei  den 
primitivsten  Begriffen  stehen  bleiben  konnte,  sondern 
mehr  und  mehr  die  einfachen  Verstellungen  auszu- 
bauen und  zu  vervollkommnen  suchte,  das  versteht 
sich  von  selbst.  Selbst  die  Vorgänge  des  mensch- 
lichen Lebens,  auch  die  des  Liebeslebens,  stellte  man 
unter  die  Wirkung  der  Gottheiten.  Gerade  die  Götter 
der  Liebe  fehlen  nirgends  bei  den  kultivierten  Heiden, 
und  daß  man  sich  auch  eine  Gottheit  der  ehelichen 
Fruchtbarkeit  vorstellte,  ist  durchaus  natürlich,  ebenso 
daß  man  solche  Gottheiten  besonders  verehrte  und 
ihnen  Feste  feierte.  Tat  man  dies  aber,  dann  war 
es  eben  nur  natürlich,  daß  man  Anspielungen  auf  das 
Wirken  dieser  Gottheiten  nicht  vermeiden  konnte  oder 
wollte.  Es  läßt  sich  schon  daraus  ermessen,  wie  diese 
Feste  ausarten  mußten  bei  Völkern,  deren  Sinnlichkeit 
ohnehin  so  hochgradig  entwickelt  war,  daß  der  Sinnen- 
genuß als  das  höchste  Glück,  die  wesentlichste  Frage 
des  Menschenlebens  galt.  Bei  den  Medem,  Lydern 
und  Phrygiern  galt  die  Cybele  als  Gottheit  der  Frucht- 
barkeit; ihr  war  ein  lebhafter  Dienst  gewidmet,  und 
man  darf  wohl  annehmen,  daß  die  Dionysien,  die  wohl 
in  Mazedonien  und  Thracien  zuerst  gefeiert  wurden 
und  sich  dann  über  einen  großen  Teil  des  Orients 
verbreiteten,  weil  diese  Feste  den  Orientalen  ganz  be- 
sonders zusagteen,  mit  dem  Cybeledienst  verschmolzen 
wurden  oder  ganz  in  ihm  aufgingen  resp.  ihnen  ihren 
besonderen   Charakter  aufprägten. 

Das  erscheint  ja  freilich  auf  den  ersten  Blick  wider- 
spruchsvoll und  ungereimt,  da  natürlich  die  Cybele- 
gottheit   etwas   völlig   anderes   ist  als   Dionysos  oder 


—     166     — 

Bacchus;  aber  man  darf  eben  solche  Dinge  nicht 
äußerlich  nach  dem  bloßen  Namen,  sondern  stets  nur 
nach  ihrem  inneren  Kern  beurteilen.  Im  Grunde  ge- 
nommen kommt  es  immer  darauf  an,  was  gefeiert 
wird,  oder  mit  anderen  Worten,  an  was  man  in 
Wirklichkeit  dachte,  wenn  man  eine  bestimmte  Gott- 
heit feierte.  Da  ist  es  dann  nicht  zu  viel  gesagt,  wenn 
man  behauptet,  daß  das  intensive  orientalische  Liebes- 
leben nichts  so  wichtig  erscheinen  ließ  als  den  Zeu- 
gungsakt, daß  man  eben  nur  an  diesen  dachte,  wenn 
man  die  entsprechenden  Gottheiten  verehrte,  und  daß 
das  äußere  Zeichen  des  Kults  der  Phallus  war,  d.  h. 
die  riesige  Nachbildung  des  männlichen  Sexualorgans. 
M>t  diesem  Symbol  wurde  ein  gewaltiger  Kult  ge- 
trieben und  zwar  im  ganzen  Orient  —  ich  will  da- 
mit nicht  etwa  die  übrige  Welt  ausschließen.  —  Von 
Indien  bis  Ägypten  bestand  dieser  Kult,  wenn  er  auch 
natürlich  der  Mythologie  der  betreffenden  Länder  an- 
gepaßt wurde.  So  wurde  dieses  vergötterte  Symbol 
auch  bei  den  Dionysien  stets  dem  Festzug  vorange- 
tragen; es  fehlte  niemals  bei  den  heiteren  Festen. 
Es  fehlte  aber  auch  in  den  übrigen  Ländern  nicht,  so- 
weit die  orientalische  Sinnlichkeit  reichte.  Dies  Sym- 
bol erfreute  sich  eben  in  Wirklichkeit  der  wahn- 
sinnigsten Verehrung,  gleichviel  ob  das  Fest  eine 
Feier  der  Cybele,  des  Dionysos,  Bacchus  oder  sonst 
einer  Gottheit  sein  sollte.  Es  läßt  sich  ja  nun  wohl 
so  ziemlich  erraten,  wie  die  Feste,  die  einem  solchen 
Symbol  galten,  in  Wirklichkeit  ausfielen,  besonders 
bei  Völkern,  die  ja  ohnehin  von  einer  glühenden  Sinn- 
lichkeit beseelt  waren.  Es  wurden  stets  Orgien  ge- 
feiert,  die  wohl   noch   erheblich  schlimmer  verliefen, 


—     167     — 

als  selbst  die  kühnste  Phantasie  es  sich  auszumalen 
vermag.  Die  Festteilnehmer  gerieten  in  einen  Zu- 
stand jener  sexuellen  Ekstase,  die  keine  Grenzen 
kennt  und  fast  nur  noch  in  Ungewöhnlichem  eine  Art 
Befriedigung  finden  kann,  und  in  der  Regel  sind  die 
Weiber  bei  solchen  Exzessen  noch  weit  maßloser  als 
die   Männer. 

Die  Hauptstätten  im  alten  Griechenland,  an  denen 
die  wüstesten  Dionysien  gefeiert  wurden,  waren  der 
Citbäron  und  der  Parnaß,  auf  deren  Gipfeln  sich  ein 
abscheuliches  Treiben  abspielte.  Frauen  und  Mäd- 
chen mit  aufgelösten  Haaren,  ihre  Körper  mit  Fellen 
nur  mangelhaft  bedeckt,  rasten  dort  ihre  wilden  Liebes- 
tänze. Die  Gottheit  war  gewöhnlich  „persönlich" 
vertreten,  d.  h.  ein  Stier  oder  ein  Bock  war  an  Stelle 
des  Gottes  mitgeschleppt.  (Auf  dem  Blocksberg  war 
ja  der  zottige  Bock,  dem  die  Hexen  den  Hintern 
küssen  mußten,  als  Satanas  gedacht.)  Das  in  sexueller 
Gier  geradezu  wahnsinnige  Volk  erwies  der  Gott- 
heit oder  seiner  Vertretung  allerdings  eine  recht  zweifel- 
hafte Verehrung;  der  Stier  oder  der  Bock  wurde  bei 
lebendigem  Leibe  angebissen  und  in  Stücke  gerissen, 
und  die  Festgenossinnen  verzehrten  das  noch  warme 
und  zuckende  Fleisch  in  ihrer  rasenden  Wollust,  als 
könne  es  dem  bis  über  den  siedenden  Wahnsinn  ge- 
steigerten sexuellen  Triebe  eine  Befriedigung  ge- 
währen, sich  in  dem  noch  heißen  Blute  zu  berauschen, 
das  rohe  Fleisch  hinunterzuwürgen.  Das  war  das 
Kulturvolk  der  Griechen;  ein  klassischer  Beweis  da- 
für, wie  wahnsinnige  sexuelle  Wollust  und  Grausam- 
keit in  Wechselwirkung  stehen.  Daß  als  Opfer  auch 
Menschen    dienen    mußten,    mindestens    in  frühesten 


—     168     — 

Zeiten  —  die  Bacchusfeste  waren  mindestens  schon 
496  v.  Chr.  nach  Rom  eingebürgert  worden,  —  daß 
diese  Menschenopfer  in  dem  wollüstig-grausamen  Pa- 
roxismus  ebenso  zerrissen  und  gewissermaßen  noch 
lebend  verschlungen  wurden,  könnte  die  entsetzliche 
Exaltation  der  griechischen  Damen  fast  noch  entsetz- 
licher erscheinen  lassen,  wenn  der  Umstand,  daß 
Mensch  statt  Vieh  verzehrt  wurde,  überhaupt  als  eine 
Steigerung  gelten  dürfte. 

Nimmt  man  diese  Orgien  der  wollüstigen  Grau- 
samkeit, die  im  Blute  wühlen  mußte,  um  der  rasenden 
sexuellen  Gier  etwas  zu  bieten,  was  wenigstens  an 
eine  Art  sinnlicher  Befriedigung  erinnern  konnte,  frei- 
lich wohl  nach  dem  Rezept,  daß  der  Appetit  mit  dem 
Essen  kommt,  weil  auch  diese  scheinbare  Befriedigung 
die  geile  Wut  eigentlich  noch  mehr  steigerte,  unten 
die  kritische  Lupe,  dann  erscheint  auch  die  Erzählung 
der  Judith  in  einem  etwas  anderen  Lichte,  worauf 
ich  erst  jetzt  kurz  eingehen  will,  da  mir  diese  Er- 
klärung nach  dem  inzwischen  Gesagten  plausibler 
erscheint  als  in  Anknüpfung  an  die  Judith-Historie 
direkt.  Auch  Judith  war  eine  heißblütige  Orientalin. 
Es  wird  ja  so  breit  hervorgehoben,  sie  habe  nach 
dem  Tode  Manasses  keinen  Mann  mehr  erwählt,  daß 
ein  Anhalt  über  ihr  Liebesleben  aus  der  Erzählung 
nicht  gewonnen  werden  kann ;  mindestens  wäre  es 
eine  völlig  ungerechtfertigte,  weil  auf  kein  Moment 
zu  stützende  Vermutung,  daß  Judith  die  heiße  sexuelle 
Leidenschaft  ihres  Volkes  in  irgend  einer  Weise  be- 
friedigt habe.  Das  aber  ist  gerade  ein  Moment,  das 
doch    eine    kleine    Seelenmalerei    rechtfertigen    kann. 


—     169     — 

Judith    hatte   ja   allerdings    den   Plan,    Holofernes   zu 
töten,  um  dadurch  ihr  Volk  zu  befreien. 

Nun  machte  ihr  Holofernes  an  dem  verhängnis- 
vollsten Tage  seines  Lebens  ein  Anerbieten,  von  dem 
Judith  sagte,  es  ehre  sie  so,  wiie  sie  noch  niemals, 
ihr  ganzes  Leben  lang  geehrt  worden  sei.  Gewiß, 
das  war  eine  ^arglistige  Rede,  die  nur  den  Zweck 
haben  sollte,  Holofernes  und  seine  Umgebung  sicher 
zu  machen;  aber  ob  nicht  doch  in  einem  verborgenen 
Winkel  ihrer  Seele  sich  Gefühle  regten,  die  wohl  ver- 
ständlich, bei  einem  schönen  orientalischen  Weibe 
von  heißer,  sprudelnder  Leidenschaft  sogar  selbstver- 
ständlich sein  mußten?  Holofernes  war  ein  gewal- 
tiger Mann,  stark  und  ein  Riese,  er  war  durchglüht 
von  einem  leidenschaftlichen  Verlangen  nach  dem 
ebräischen  Weibe.  Das  wußte  Judith  längst.  Sie  war 
mit  ihm  allein  in  der  Kammer,  die  der  Ort  wollüstiger 
Liebesspiele  werden  sollte.  Judith  hatte  andere  Pläne; 
aber  andere  Pläne  beseitigen  nicht  das  sexuelle  Ver- 
langen; sie  können  wohl  bewirken,  daß  es  gewaltsam 
zurückgedrängt  werde.  Aber  wie  die  Begierde  die 
griechischen  Weiber  zwang,  im  Blute  zu  wühlen,  so 
mag  auch  die  heiße  Leidenschaft  Judith  das  Schwert 
in  die  Hand  gedrängt  haben;  auch  bei  ihr  mag  die 
heiße  sexuelle  Begierde,  die  nicht  befriedigt  werden 
durfte,  wenn  nicht  der  Befreiungsplan  scheitern  sollte, 
sich  bis  zu  dem  wahnsinnigen  Drange,  im  Blute  des 
Mannes  zu  wühlen,  sich  an  seinen  Todeszuckungen  zu 
weiden,  gesteigert  haben,  so  daß  der  furchtbare  Mord, 
dessen  doch  eigentlich  ein  Weib,  das  so  gerühmt  wird 
wie  Judith,  unter  normalen  Verhältnissen  kaum  fähig 
gewesen   wäre,  durch  die  Leidenschaft  geradezu  ge- 


—     170     — 

bieterisch  gefordert  wurde.  Wir  sind  gewohnt,  so 
etwas  pervers  zu  nennen  und  von  Sadismus  usw.  zu 
sprechen,  und  doch  ist  es  psychologisch  völlig  er- 
klärlich. Nicht  der  zu  einer  trostlosen  Berühmtheit 
gelangte  Marquis  de  Sade  hat  diese  Perversität  „er- 
funden", noch  viel  weniger  ist  er  der  Erste,  der  sie 
geübt  hat;  das,  was  wir  bei  den  alten  Dionysien 
Griechenlands  und  bei  ähnlichen  „Festen"  des  ganzen 
Orients  und  auch  im  alten  Rom  finden,  ist  doch  eigent- 
lich dieselbe  Erscheinung,  die  aber  dort  nichts  Krank- 
haftes hatte,  sondern  als  das  betrachtet  wurde,  was 
sie  in  Wirklichkeit  ist,  nämlich  die  eruptive  Entladung 
einer  bis  zum  Äußersten  gesteigerten  sexuellen  Er- 
regung, einer  Erregung,  die  weit  bis  über  die  Grenzen 
gesteigert  ist,  innerhalb  deren  eine  Befriedigung  auf 
natürlichem  Wege  möglich  ist.  Wir  finden  ähnliches 
im  Tierreich  durchaus  nicht  selten,  ohne  daß  wir 
berechtigt  wären,  von  einer  Perversität  zu  sprechen 
oder  an  eine  krankhafte  Entartung  zu  denken.  Schon 
die  Kämpfe  brünstiger  Hirsche  sollten  uns  die  Augen 
öffnen,  und  der  Umstand,  daß  es  viele  Insekten  gibt, 
die  die  Befriedigung  des  sexuellen  Triebes  mit  dem 
Leben  zahlen  und  doch  lieber  auf  dieses  als  auf  die 
Befriedigung  verzichten,  bestätigt  das  Gesagte,  ohne 
daß  es  nötig  wäre,  bis  auf  zoologische  Auseinander- 
setzungen von  meinem  Thema  abzuschweifen.  Ich 
meine  nur,  die  Judithgeschichte  ist  auch  von  diesem 
Standpunkte  aus  interessant  und  ein  Meisterstück  ob- 
jektiver Erzählungskunst. 

Doch  nun  zurück  zu  den  Bacchanalien.  Im 
alten  Griechenland  fanden  die  Dionysien,  die  übrigens 
keineswegs  alle  denselben  Charakter  trugen,  sondern 


—     171     — 

zum  Teil  auch  seriös,  traurig,  wenn  auch  ebenfalls 
wild  und  leidenschaftlich  waren,  weil  man  sich  den 
Gott  teils  dämonisch,  teils  als  Sorgenbrecher  vorstellte, 
den  größten  Anklang;  es  bildeten  sich  sogar  besondere 
religiöse  Vereinigungen,  die  als  wesentlichsten  Kult  die 
Verehrung  des  vielseitigen  Gottes  übten  und  ihn  teils 
in  seiner  heitern,  teils  in  seiner  dämonischen  Bedeu- 
tung auffaßten.  Deshalb  war  auch  der  Kult,  soweit  wir 
über  ihn  ein  ungetrübtes  Urteil  uns  zu  bilden  vermögen, 
scheinbar  voll  von  inneren  Widersprüchen.  Es  wurde 
sogar  Enthaltsamkeit  verlangt,  dem  Fleischgenuß  sollte 
entsagt  werden,  vielleicht  in  Rücksicht,  daß  der  Gott 
eigentlich  ein  Gott  der  Früchte  war,  und  es  gab  ziem- 
lich scharfe  Sühnervorschriften.  Daneben  aber  wurde 
auch  dem  Gotte  als  Freudengott  gehuldigt,  und  es 
gab  trotz  der  fast  asketischen  Vorschriften  auch  die 
wüstesten  Orgien.  Geschlechtliche  Ausschweifungen 
schlimmster  Art  gehörten  eben  auch  zum  Kult,  und 
das  Symbol  war  nicht  umsonst  der  Phallus.  Ich  habe 
schon  gesagt,  daß  der  Kult  scheinbar  voller  Wider- 
sprüche war;  das  ist  in  der  Tat  durchaus  zutreffend, 
denn  die  Enthaltsamkeit,  die  auf  der  einen  Seite  ge- 
fordert wurde,  widersprach  keineswegs  den  sexuellen 
Ausschweifungen  nach  der  Auffassung  des  orientali- 
schen Altertums.  Man  hätte  eine  cölibatartige  Enthalt- 
samkeit überhaupt  nicht  verstanden ;  bei  der  Verehrung 
des  Gottes  der  Zeugungskraft  wäre  sie  ja  auch  fak- 
tisch die  blanke  Unvernunft  gewesen. 

Ich  möchte  hier  zunächst  zum  besseren  Verständ- 
nis der  damaligen  Ansichten,  die  Mythologie  des 
Priapos  einflechten,  der  nach  der  griechischen  Mythe 
der  Sohn  der  Aphrodite  und  des   Dionysos  —  nach 


—     172     — 

änderet  Lehre  auch  des  Adonis  oder  Hermes  —  war, 
man  war  sich  offenbar  auch  bei  den  Göttinnen  über 
über  die  Vaterschaft  nicht  immer  völlig  einig.  Die 
in  einem  früheren  Kapitel  besprochene  Methode,  den 
Vater  aus  der  Ähnlichkeit  mit  dem  Kinde  zu  erraten, 
würde  in  diesem  Falle  kläglich  Fiasko  gemacht  haben, 
denn  Priapos  sah  weder  seiner  Mutter  noch  auch  einem 
der  genannten  Väter  auch  nur  entfernt  ähnlich;  er  war 
vielmehr  völlig  aus  der  Art  geschlagen  und  grund- 
häßlich ;  selbst  seine  Gestalt  erinnerte  nicht  nur  nicht 
an  die  göttliche  Abstammung,  sondern  Priapos  war 
entschieden  mißgestaltet  und  einfach  das,  was  man 
ein  absolutes  Scheusal  zu  nennen  wohl  berechtigt  ge- 
wesen wäre.  Nur  in  einem  Punkte  hatte  ihn  die  Natur 
mit  verschwenderischer  Liebe  ausgestattet.  Die  alten 
Bildwerke,  die  von  ihm  in  großer  Zahl  existierten, 
meist  Hermen,  heben  diesen  Vorzug  gebührend  hervor; 
es  war  ihm  ein  über  alle  Begriffe  entwickeltes  Zeu- 
gungsorgan verliehen  worden,  so  gewaltig,  daß  seine 
Mutter  ihn  von  sich  stieß  und  ihn  als  Mißgeburt  be- 
trachtete. Nach  der  Mythe  soll  Priapos  in  Lampsakus 
eine  Zuflucht  gefunden  haben,  wo  man  ihn  liebevoll 
duldete  und  vielleicht  wegen  seiner  eigenartigen 
Körperbeschaffenheit  bewunderte.  Es  wird  nun  weiter 
erzählt,  und  das  ist  für  die  reiche  Phantasie,  mit  der 
der  Orient  alles  ausstattete,  was  auf  das  Liebesleben 
Bezug  hatte,  sehr  lehrreich  und  bezeichnend,  daß 
Priapos  verjagt  worden  sei,  als  er  zum  ganzen  Manne 
heranreifte,  weil  alle  Ehemänner  auf  ihn  eifersüchtig 
gewesen  seien.  Die  Damen  in  Lampsakus  sind  dem- 
nach etwas  anderer  Ansicht  gewesen  als  die  Göttin 
Aphrodite;  ihnen  hat  besonders  gefallen,  was  dieser 


—     173     — 

so  stark  mißfiel.     Auch  das  Orakel  soll  dem  jungen 
Priapos  günstiger  gewesen  sein  als  die  lampsakischen 
Ehemänner;   es   soll   geraten   haben,   den   Verbannten 
unverzüglich  zurückzurufen,  und  da  man  sich  damals 
den  Orakelsprüchen  noch  unbedingt  fügte,  mochten  sie 
auch  noch  so  Unerwünschtes  fordern,  so  beeilte  man 
sich,  den   jungen   Priapos   eiligst  zurückzurufen.     Ob 
dieser  nicht  besonders  „übelnehmisch"  veranlagt  war, 
ob  es  ihm  etwa  bei  den  lampsakischen  Damen  beson- 
ders gut  gefallen  hat,  oder  ob   er  bloß  dem  Orakel 
ebenso  gehorsam  war  wie  die  Ehemänner,  die  doch 
eigentlich    eine   viel   größere   Selbstüberwindung    be- 
wiesen, mag  dahingestellt  bleiben,  die  Mythe  läßt  sich 
auf    psychologische    Detailmalereien    ja    niemals   ein, 
kurz  und  gut  —  Priapos  kehrte  zurück,  und  darüber 
herrschte  allgemeiner  Jubel;  wieder  wird  nicht  erzählt, 
ob  mehr  bei  den  Weibern  oder  auch  bei  den  Männern, 
vielleicht   bei   beiden,   denn   Priapos   wurde   als   Gott 
der  Zeugungskraft  verehrt,  und   auf  Götter  war  da- 
mals auch  ein  Ehemann  niqht  eifersüchtig,  mochte  er 
sich  den  Gott  auch  noch  so  persönlich  und  in  seinen 
Begierden  und  Handlungen  noch  so  menschlich,  allzu- 
menschlich vorstellen,  das  war  gleich.     Auch  Priapos 
war   eben   Gott,   und   demgegenüber  verstummte   die 
Eifersucht,    mochte   Priapos   auch   soviel   berechtigten 
Grund    zu    dieser   geben.      Das  hat  er  aber  zweifelr 
los  getan,  denn  noch  heute  spricht  man  von  Priapis- 
mus, der  sich  bei  Neurasthenikern  öfter  findet,  aber 
auch  bei  Rückenmarksleiden  vorkommt  und  etwa  das- 
selbe  wie   Satyriasis,   also   ein   krankhaft  gesteigerter 
sexueller  Trieb  ist. 

Nach  meiner  Ansicht  ist  nichts  bezeichnender  für 


174 


das  damalige  Liebesleben  als  die  Mythe  des  Priapos 
und  die  bildlichen  und  poetischen  Schilderungen  dieses 
göttlichen  Mannes.  Bei  den  Bildwerken  kam  es  haupt- 
sächlich darauf  an,  einen  übergroßen  Phallus  darzu- 
stellen, und  wie  die  Herren  Poeten  diese  Materie 
mit  Eifer  und  Interesse  aufgegriffen  haben,  beweist 
wohl  am  besten  der  Umstand,  daß  eine  besondere 
Sammlung  von  Gedichten  und  Epigrammen  auf  Priapos 
herausgegeben  werden  konnte  (1469),  von  der  der 
Kulturforscher  sehr  viel  lernen  kann,  wenn  diese 
lateinischen  Gedichte  freilich  auch  in  wörtlicher  Über- 
setzung nicht  wiedergegeben  werden  dürfen,  min- 
destens nicht  in  unserer  Zeit,  die  so  prüde  nach  Hand- 
haben sucht,  an  der  die  Herren  Sittlichkeitsfexe  be- 
weisen können,  daß  sie  den  Schein  über  das  Sein 
stellen,  daß  ihnen  jedes  Verständnis  für  den  Wert 
kulturgeschichtlicher  Forschung,  sowie  jedes  Em- 
pfinden für  das  wirklich  Sittliche  fehlt,  weil  sie  die 
Jagd  nach  einem  etwa  zweideutig  erscheinenden  Worte 
für  Sittlichkeit  halten.  Daneben  freilich  begeistert  man 
sich  für  die  sexuelle  Aufklärung  der  Kinder  und  geht 
geht  dabei  ungestraft  so  weit,  daß  man  teilweise  ge- 
radezu bemüht  ist,  die  letzten  Restchen  eines  durch- 
aus notwendigen  Schamgefühls  mit  rauher  Hand  aus- 
zurotten wie  ekles  Unkraut  aus  dem  Blumengarten. 
Piapos  war  und  blieb  eine  verehrte  Gottheit, 
mochte  sein  Bildwerk  zeitweilig  in  Rom  auch  als  — 
Vogelscheuche  benutzt  werden.  Was  an  ihm  so 
fesselnd  war?  Nichts  als  seine  wie  eine  Meßbildung 
erscheinende  übermäßige  Entwickelung  des  Phallus; 
er  war  die  Gottheit  der  Zeugungskraft,  also  doch  der 
wichtigste    Faktor    im   Rate  der  Götter.     Oft  ist  er 


—     175     — 

freilich  mit  dem  Dionysos  oder  Bacchus  selbst  indenti- 
fiziert  worden,  und  das  ist  wohl  auch  der  Gru.:d  der 
Rolle,  die  er  bei  den  Bacchanalien  spielte;  man  hul- 
digte eben  in  erster  Linie  dem  Ressort,  das  er  in  der 
Mythologie  zu  vertreten  hatte. 

War  es  bei  den  Dionysien  des  alten  Griechen- 
lands, wie  wir  gesehen  haben,  über  alle  Begriffe  wüst 
hergegangen,  so  waren  die  römischen  Bacchanalien 
noch  wilder  und  verrufener.  Zunächst  freilich  erhitzten 
sich  nur  die  Weiber  bei  diesen  Festen,  wohl  ähnlich 
wie  die  Weiber  Griechenlands.  Später  aber  wurden 
die  Feste  dadurch,  daß  man  auch  Männer  hinzuzog, 
noch  schlimmere  Orgien  als  die  ursprünglichen  grie- 
chischen Feste,  die  sich  allerdings  auch  mit  der  Zeit 
sehr  erhebliche  menschliche  Variationen  gefallen  lassen 
mußten.  In  Rom  kam  man  sehr  bald  auf  den  Ge- 
danken, daß  die  Bacchanalien  weit  weniger  in  den 
hellen  Rahmen  des  Tageslichts  hineinpassen  wollten 
als  in  den  mitleidsvollen  Schleier  der  verschwiegenen 
Nächte.  An  den  Ufern  des  Tiber  kam  man  zusammen, 
nicht  mehr  wie  einst  dreimal  im  Jahre,  sondern  fünf- 
mal in  jedem  Monat.  So  sehr  verehrte  man  den  — 
braven  Bacchus  oder  vielmehr  den  von  ihm  repräsen- 
tierten Kult  der  Geschlechtsliebe.  Männer  und  Weiber 
tobten  geradezu  in  rasenden  Tänzen,  bei  denen  sie 
das  Kostüm  so  wenig  wie  nur  irgend  möglich  be- 
hinderte. Sie  ergingen  sich  sogar  in  Weissagungen, 
trieben  allerlei  Hokuspokus,  aber  der  Kern  der  Sache 
war  und  blieb  die  sexuelle  Ausschweifung,  der  sich 
keiner  und  keine  entziehen  konnte.  Schon  die  be- 
täubende Raserei  des  Kults  nahm  die  Sinne  so  ge- 
fangen, daß  das  sexuelle  Moment  wie  eine  Erlösung 


—     176     — 

erschien,  und  wer  etwa  doch  Bedenken  trug,  den 
letzten  Schritt  zu  tun,  den  zwang  man  mit  Gewalt. 
Es  soll  bei  solchen  Festen  die  Notzucht  etwas  Selbst- 
verständliches gewesen  sein,  wer  nicht  wollte,  der 
erlag  der  Gewalt.  Das  gehörte  zum  Kult  und  war 
bei  einer  Feier  des  Bacchus  oder  Priapos  sozusagen 
das  Amen  in  der  Kirche.  Daß  man  zu  solchen  Akten 
besonders  die  frische,  kräftige  und  noch  nicht  ver- 
lebte Jugend  heranzuziehen  bestrebt  war,  kann  nicht 
auffallen.  Man  suchte  dies  dadurch  zu  erreichen,  daß 
man  erklärte,  es  solle  niemand  mehr,  der  über  20 
Jahre  alt  sei,  in  den  Bund  aufgenommen  und  in  die 
Mysterien  des  Bacchuskults  eingeweiht  werden.  Ein- 
mal eingeweiht,  d.  h.  zu  den  Festen  erschienen,  konnte 
sich,  wie  schon  gesagt,  niemand  den  letzten  Kon- 
sequenzen entziehen,  da  die  schwerste  Notzucht  eben 
nichts  war  als  ein  erlaubter  und  sogar  notwendiger 
Akt  der  Einweihung.  Die  Bacchanalien  arteten  immer 
mehr  aus  und  wurden  auch  schließlich  von  der  Obrig- 
keit  etwas   schärfer   aufs    Korn  genommen. 

Es  war  ja  freilich  weniger  die  entsetzliche  Aus- 
artung der  Liebesexzesse,  die  den  Staat  so  lebhaft 
interessierte  als  vielmehr  die  politische  Gefährlichkeit 
der  Bacchanalien.  Die  Eingeweihten  beschränkten 
sich  nämlich  nicht  darauf,  bei  den  Festen  die  em- 
pörendsten Ausschweifungen  als  Sport  zu  betreiben, 
sondern  sie  schlössen  förmlich  Bündnisse,  durch  die 
sie  sich  auch  außerhalb  der  Feiern  Begehung  schwerer 
Verbrechen  verpflichteten.  Besonders  wurde  die  Ver- 
nichtung persönlicher  und  politischer  Feinde  betrieben. 
Die  entsetzlichste  Unsittlichkeit  mußte  eben  die  allge- 
meine   Moral    untergraben.      Im    Jahre    186    v.    Chr. 


—     177     — 

folgte  deshalb  ein  schwerer  Schlag  gegen  die  Bac- 
chantengesellschaft. Die  Priester  und  Priesterinnen 
wurden  verhaftet  und  streng  bestraft;  man  verstand 
es  bekanntilich  im  alten  Rom  sehr,  die  Strafen  auf  jede 
Weise  zu  würzen.  Die  Bacchanalien  aber  wurden  ver- 
boten, und  damit  dieses  Verbot  auch  die  genügende 
Beachtung  finden  sollte,  wurden  für  die  Abhaltung 
weiterer  Bacchanalien  die  schwersten  Strafen  an- 
gedroht. 

Das  hat  sicher  sehr  heilsam  gewirkt,  aber  doch 
keinen  dauernden  Erfolg  gezeitigt,  denn  wenn  es 
auch  zunächst  den  Anhängern  des  Kults  gewaltig  in  die 
Glieder  gefahren  war  und  die  ihnen  Lust  zu  einer  öffent- 
lichen Betätigung  benommen  hatte,  so  wurden  doch 
heimlich  Bacchanalien  gefeiert,  denn  die  Orgien  hatten 
den  Eingeweihten  doch  viel  zu  gut  gefallen,  als  daß 
sie  auf  diesen  schönsten  Teil  ihres  Liebeslebens  ver- 
zichten mochten.  Bald  wagte  man  es  in  verschiedenen 
Teilen  Italiens  auch  wieder,  sich  etwas  freier  zu  be- 
wegen, und,  wie  es  scheint,  wurde  das  Verbot  auch 
nicht  allzu  streng  gehandhabt.  Die  Feiernden  werden 
ja  auch  wohl  so  vorsichtig  gewesen  sein,  sich  we- 
nigstens außerhalb  der  eigentlichen  Feste  nichts  zu 
Schulden  kommen  zu  lassen.  Jedenfalls  hat  auch  zu 
Rom  selbst  der  alte  Brauch  sehr  bald  seine  Auf- 
erstehung gefeiert,  denn  zur  Kaiserzeit  bestand  er 
noch,  und  es  ist  dann  auch  dem  Treiben  kein  so  er- 
hebliches Hindernis  in  den  Weg  gelegt  worden. 

Es  läßt  sich  wohl  nicht  bestreiten,  daß  die  Bac- 
chanalien vielleicht  das  wichtigste  und  lehrreichste 
Stück  altertümlich  orientalischen  Liebeslebens  bilden. 
Ich  darf  getrost  sagen,  des  orientalischen  Altertums, 

12 


—     178     — 

denn  nicht  auf  Griechenland  und  Rom  blieben  diese 
Feste  schrankenloser  Ausschweifungen  beschränkt, 
sondern  sie  teilten  sich  dem  ganzen  Orient  mit,  und 
die  Mythe  berichtet  ja  auch  vom  Bacchus  die  selt- 
samsten Dinge,  auf  die  ich  aber  nur  soweit  eingehen 
will,  wie  sie  offenbar  späteren  Dichtungen  entstammen. 
Es  wird  dem  Bacchus  da  ein  gewaltiger  Siegeszug 
durch  den  Orient  angedichtet.  Durch  Ägypten,  Syrien 
und  quer  durch  den  asiatischen  Orient  bis  tief  ins 
Innere  Indiens  geht  der  Zug.  Bacchus  thront  auf  einem 
Wagen,  der  von  Löwen  oder  Panthern  gezogen  wird. 
Eine  große  Schar  wilder  Männer  und  Frauen  in  den 
fantastischesten  Kostümen,  wie  sie  bei  den  Bacchanalien 
beliebt  waren,  Halbgötter  usw.  begleiteten  den  Gott, 
der  überall  über  die  rohen  Sitten  und  die  rohen 
Naturkräfte  siegt  und  den  Segen  der  Bachuskultur 
verbreitet,  d.  h.  er  lehrt  die  Kunst  des  Weinbaues 
und  die  Kunst  des  Lebens,  also  die  Kunst,  des 
Lebens  Unverstand  mit  Würde  und  Vergnügen  zu 
genießen.  Er  soll  aber  mit  der  Kunst  des  heiteren 
Lebensgenusses  auch  den  Segen  der  griechischen 
Kultur  gebracht  haben  in  alle  jene  Länder,  in  denen 
roher  Barbarismus  herrschte.  Roher  Barbarismus  we- 
nigstens nach  der  Auffassung  der  Hellenen,  deren 
Kultur  sich  ja  auch  in  der  Tat  hoch  über  die  der 
meisten  orientalischen  Länder  erhob,  mochten  diese 
sonst  auch  ganz  gewiß  wenigstens  zum  großen  Teile 
alles  andere  eher  sein  als  kulturlos.  Auf  der  Insel 
Naxos  traf  der  Zug  die  schöne  Ariadne,  und  der 
Gott,  der  so  viel  Verliebtheit  protegiert  hatte,  dem  zu 
Ehren   so  viele  Liebesexesse  gefeiert  wurden,  der  fiel 


—     179     — 

nun  dort  selbst   der  Liebe  in  die  Hände,   er  heiratete 
die  schöne  Ariadne. 

Das  ist  Dichtung  und  doch  zugleich  Wahrheit. 
Dichtung  ist  die  persönliche  Weltreise  des  Bacchus, 
Wahrheit  ist  aber,  daß  Bacchus  die  Welt  bis  ins 
tiefste  Innere  Indiens  erobert  hat.  Die  griechische 
Kultur,  die  er  verbreitet  hat,  ist  allerdings  nicht 
gerade  geeignet  gewesen,  die  Völker  zu  veredeln, 
mehr  vielleicht,  sie  zu  beglücken,  wenn  man  das  als 
ein  Glück  bezeichnen  will,  was  doch  eigentlich  nichts 
ist  als  ein  Sinnentaumel,  der  zwar  die  Schale  des 
augenblicklichen  Vergnügens  bis  zum  Überlaufen 
erfüllt,  aber  dann  auch  umso  sicherer  die  Depression 
folgen  läßt.  Nun  ist  allerdings  für  das  orientalische 
Altertum  die  sittliche  Gefährdung  durch  die  Ein- 
führung des  Bacchuskults  ganz  gewiß  so  gering 
gewesen,  daß  sie  als  solche  überhaupt  nicht  erwähnt 
werden  darf,  denn  alles  das,  was  nach  unseren  heutigen 
Moralanschauungen,  die  allerdings  alles  andere  eher 
als  logisch  sind,  als  unsittlich  zu  gelten  hat,  war  so 
stark  kultiviert,  daß  selbst  die  griechischen  und 
römischen  Bacchanalien  höchstens  noch  als  eine 
Verfeinerung  der  Sitten  hätten  gelten  können.  Davon 
kann  kaum  ein  Volk  ausgenommen  werden,  wenn  auch 
nicht  zu  bestreiten  ist,  daß  der  sittliche  Wert  des 
Liebeslebens  doch  bei  den  verschiedenen  Völkern 
nicht  völlig  der  gleiche  war.  Aber  selbst  das  streng 
religiöse  Judentum  mit  seinem  Gllauben  an  einen  ein- 
zigen persönlichen  Gott,  der  als  der  Gesetzgeber  galt, 
weil  von  ihm  alle  die  weltlichen,  religiösen  und  mora- 
lischen Gebote  direkt  herühren  sollten,  war  sittlich 
doch  von  Ansichten   beherrscht,   die  wir  sicher  nicht 

12* 


—     180 


mehr  für  sittlich  halten  würden,  und  was  sonst  noch 
über  diese  offiziellen  Sittlichkeitslehren  hinaus  ge- 
trieben wuide,  das  ist  erst  recht  geeignet,  auch  da 
mit  dem  allgemeinen  Maße  zu  messen.  Schon  Tacitus 
nannte  die  Juden  „Gens  ad  libidinem  projectissima". 
Das  ist  doch  mindestens  ein  Beweis  dafür,  daß  in 
den  Augen  der  Römer,  die  selbst  wahrlich  nicht  den 
Vorwurf  verdienten,  allzu  sehr  die  Keuschheit  als  das 
erstrebenswerteste  Ziel  zu  betrachten,  die  Juden  als 
übertrieben  sinnlich  galten.  Tacitus  hat  bekanntlich 
in  der  Unsittlichkeit  seiner  Landsleute  eine  große 
Gefahr  gesehen,  er  hat  in  tendentiöser  Weise  die 
Germanen  in  der  lichten  Farbe  der  Unschuld,  die 
Römer  als  moralisch  schwarz  gemalt,  um  ihnen  den 
Spiegel  vor  Augen  zu  halten  und  sie  zur  Umkehr  zu 
ermahnen.  Wenn  ein  solcher  Mann  die  Juden  als 
das  sinnlichste  Volk  schilderte,  so  darf  man  wohl  an- 
nehmen, daß  deren  Sittlichkeit  nicht  allzukräftig  war. 
Und  dennoch  durften  die  Juden  mit  dem  Gefühl  des 
Zöllners  auf  die  übrigen  Völker  des  Orients  blicken 
und  Gott  danken,  daß  sie  nicht  waren  wie  jene. 

Der  Unterschied  ergibt  sich  aus  der  Verschieden- 
heit der  religiösen  Ansichten.  Wie  sehr  der  Götzen- 
dienst —  nicht  bloß  die  Verehrung  des  Bacchus  — 
die  orientalischen  Heiden  zur  Unsittlicheit  geradezu 
veranlaßte,  darauf  werde  ich  noch  gelegentlich  zurück- 
kommen. 


Furor  sexualis  im  Kriegsleben. 


Daß  das  Kriegswesen  die  Gemüter  der  Kämpfen- 
den verrohen  muß,  besonders  beim  Nahkampf  mit 
mehr  oder  weniger  primitiven  Waffen,  liegt  in  der 
Natur  der  Sache.  Der  stete  Anblick  der  furchtbarsten 
Greuelszenen  ist  nicht  geeignet,  das  Gemütsleben  zu 
veredeln.  Besonders  der  Kampf  Mann  gegen  Mann,  bei 
dem  das  Bestreben  einzig  und  allein  darauf  gerichtet 
ist,  dem  Gegner  so  furchtbare  Verletzungen  beizu- 
bringen, wie  nur  irgend  möglich  ist,  denn  nur  dadurch 
kann  der  Feind  kampfunfähig  gemacht,  der  Sieg  er- 
rungen werden,  wirkt  durch  die  Unmittelbarkeit  des 
Blutvergießens,  ich  möchte  sagen,  durch  das  direkte 
Wühlen  im  Menschenblute  noch  erheblich  demorali- 
sierender als  z.  B.  der  Kampf  mit  unseren  modernen 
Feuerwaffen,  die  auf  gewaltige  Entfernungen  wirken 
und  nicht  so  unmittelbar  dem  Schützen  die  Schrecken 
des  Kampfes  vor  Augen  führen.  Mögen  auch  links 
und  rechts  neben  ihm  die  Freunde  niedergehagelt 
werden.  Wenn  nun  auch  durch  das,  was  man  unter 
dem  Namen  Manneszucht  versteht,  das  Verrohende  des 
Krieges  erheblich  abgeschwächt  werden,  so  dürfen 
doch  die  übertriebenen  Lobeshymnen,  die  so  oft  dem 


—     182     — 

veredelnden  Heldentum  dargebracht  werden,  ins  Reich 
der  Phrase  verwiesen  werden.  Mag  auch  die  Bewun- 
derung und  Verehrung,  die  man  den  Männern,  die 
Blut  und  Leben  für  das  Vaterland  eingesetzt  und  sich 
mutig  geschlagen  haben,  nicht  aus  Utilitätsrücksichten 
entgegenbringt,  noch  so  ehrlich,  natürlich  und  wohl- 
verdient sein.  Es  kommt  hier  aber  nicht  auf  moderne 
Kriege  an,  sondern  auf  das  Kriegsleben  der  alten 
orientalischen  Völker. 

Daß  man  im  orientalischen  Altertum  den  tapferen 
Krieger  ehrte,  daß  bei  vielen  Völkern  die  kriegerische 
Tapferkeit  fast  das  einzige  war,  wodurch  ein  Mann 
sich  auszeichnen  konnte,  das  versteht  sich  von  selbst, 
denn  es  war  schon  das  ganze  Leben  darauf  zuge- 
schnitten, daß  das  Kriegshandwerk  immer  blühen  und 
gedeihen  mußte.  Daß  aber  dieses  Heldentum  die 
Menschen  hätte  veredeln  können,  das  war  schon  des- 
halb nicht  denkbar,  weil  dabei  jeder  Edelmut  ausge- 
schlossen, das  einzige  Streben  die  völlige  Vernichtung 
der  Gegner  war.  Selbst  in  der  Bibel,  die  doch  in 
den  Mosaischen  Vorschriften  so  vieles  enthält,  was  wir 
auch  heute  noch  als  nachahmenswerte  Forderungen 
wirklicher  Humanität  gelten  lassen  dürfen,  finden  wir 
doch  entsetzliche  Schilderungen  des  Krieges,  die  uns 
an  das  Dichterwort  mahnen:  „Ein  Schlachten  wars, 
nicht  eine  Schlacht  zu  nennen."  Von  der  Ehrenpflicht 
des  Siegers,  den  Besiegten  zu  schonen  und  auch  in 
ihm  den  Helden  zu  ehren,  war  garnicht  die  Rede. 
Wie  entsetzlich  mutet  uns  noch  das  furchtbare  Blut- 
gericht an,  das  der  christliche  Karl  der  Große  über 
die  besiegten  Sachsen  halten,  und  bei  dem  er  sie 
einfach   enthaupten   ließ.     Und   doch   ist   das    immer 


—     183    — 

noch  christliche  Sanftmut  im  Vergleich  mit  dem,  was 
uns  die  Bibel  als  von  Oott  selbst  befohlen  berichtet. 
In  der  Regel  werden  ganze  Völker  ausgetilgt  durch 
des  Schwertes  Schärfe.  Nicht  nur  die  Männer,  die 
im  Streite  besiegt  waren,  wurden  ausgelöscht,  son- 
dern man  tötete  auch  nicht  selten  die  Weiber.  Ich 
will  hier  nur  an  die  Vertilgung  der  Midianiter  denken; 
die  Israeliten  besiegten  dieses  Volk  und  erwürgeten 
alles,  was  männlich  war.  Damit  aber  nicht  genug. 
„Und  die  Kinder  Israel  nahmen  gefangen  die  Weiber 
der  Midianiter  und  ihre  Kinder;  all  ihr  Vieh,  alle  ihre 
Habe  und  alle  ihre  Güter  raubten  sie;  und  verbrannten 
mit  Feuer  alle  ihre  Städte,  ihre  Wohnung  und  alle 
Zeltdörfer;  und  nahmen  allen  Raub  und  alles,  was 
zu  nehmen  war,  beides  Menschen  und  Vieh,  und 
brachtens  zu  Mose  und  zu  Eleasar,  dem  Priester,  und 
zu  der  Gemeine  der  Kinder  Israel,  nämlich  die  Ge- 
fangenen und  das  genommene  Vieh  und  das  geraubte 
Gut  ins  Lager  auf  der  Moabiter  Gefilde,  das  am 
Jordan  liegt  gegen  Jericho.  Und  Mose  und  Eleasar, 
der  Priester,  und  alle  Fürsten  der  Gemeine  gingen 
ihnen  entgegen,  hinaus  vor  das  Lager.  Und  Mose 
ward  zornig  über  die  Hauptleute  des  Heeres,  die 
Hauptleute  über  tausend  und  über  hundert  waren, 
die  aus  dem  Heer  und  Streit  kamen,  und  sprach  zu 
ihnen:  Warum  habt  ihr  alle  Weiber  leben  lassen? 
Siehe,  haben  nicht  dieselben  die  Kinder  Israel  durch 
Bileams  Rat  abwendig  gemacht,  daß  sie  sich  ver- 
sündigten am  Herrn  über  den  Peor  und  widerfuhr 
eine  Plage  der  Gemeine  des  Herrn?  So  erwürget 
nun  alles,  was  männlich  ist  unter  den  Kindern,  und 
alle  Weiber,  die  Männer  erkannt  und  beigelegen  haben; 


—     184     — 

aber    alle   Kinder,    die   Weibsbilder    sind,    und    nicht 
Männer  erkannt  haben,  die  laßt  für  euch  leben." 

Es  ist  hier  also  eine  Grausamkeit  geübt  worden, 
die  furchtbar  abstoßend  wirkt,  und  für  die  es  keine 
Erklärung  geben  würde,  wenn  man  nicht  die  entsetz- 
lichen Anschauungen  jener  Zeit  berücksichtigen  wollte, 
denn  nur  diese  lassen  die  Erklärung  für  das  überaus 
blutdürstige  Verhalten    wehrlosen    Feinden,    hilflosen 
Weibern   und   Kindern   gegenüber  als  eine  Erklärung 
gelten.    Es   ist  nämlich  als  Motiv  für  die  gegen  die 
Midianiter  begangenen  Greueltaten   die   schwere  reli- 
giöse Gefährdung  genannt  worden,  die  den  Kindern 
Israel   durch   die  Midianiter  drohte.     Moses   sagt  das 
ja  auch,  daß  die  Midianiter  die  Kinder  Israel  abwendig 
gemacht  hätten,  daß  sie  sich  versündigten  am  Herrn 
über  den  Peor.    Deshalb  sollten  sie  vernichtet  werden, 
denn  nur  durch  ihre  Ausrottung  konnte  diese  Gefahr 
abgewendet  werden.    Dabei  entfiel  auf  die  heidnischen 
Weiber   ein   gerüttelt   Maß    der  Schuld,  wie   man   es 
wenigstens  im  gewöhnlichen  Leben  zu   deuten  sucht, 
denn  wenn  jemand  durch  seine  Sinnlichkeit  und  seinen 
Leichtsinn   sich   zu    etwas  Verbotenen  hinreißen  läßt, 
dann    gibt    er    nicht    der    eigenen    Liederlichkeit    die 
Schuld,   sondern   stets   wird  er  geneigt   sein,   zu  be- 
haupten, daß  er  nur  das  beklagenswerte  Opfer  fremder 
Verführungskunst   geworden  sei.    So  auch   das  aus- 
erlesene Volk,  das   von   orientalischer  Sinnlichkeit  er- 
füllt, begierig  jede  Gelegenheit  sucht,  mit  den  Weibern 
der  Nachbarvölker  sexuellen  Verkehr  zu  pflegen.    Ich 
kann    hier    ebenfalls    aus    der    Bibel    meine  Beweise 
schöpfen.     „Und  Israel   wohnte  in  Sittim.    Und  das 
Volk   hub   an,    mit   der    Moabiter    Töchtern,    welche 


—     185     - 

luden  das  Volk  zum  Opfer  ihrer  Götter.  Und  das 
Volk  aß,  und  betete  ihre  Götter  an.  Und  Israel 
hängete  sich  an  den  Baal  Peor."  Das  war  doch  nur 
eine  Folge  der  Sinnlichkeit,  ein  Phallusdienst.  Kann 
man  es  den  heidnischen  Weibern  verübeln,  daß  sie 
wünschten,  die  Männer,  die  um  ihre  Gunst  buhlten, 
sollten  auch  ihre  Götter  nicht  verachten?  Luft  macht 
eigen,  hieß  es  im  alten  deutschen  Rechte,  und  die 
Gemeinschaft  mit  Heidinnen  machte  auch  deren  Göttern 
neue  Knechte.  Es  war  doch  nichts  als  der  Sinnen- 
taumel, der  die  Israeliten  zu  den  Töchtern  der  Heiden 
trieb;  es  war  der  wilde  Sinnenrausch,  der  sie  ihren 
treuen  Gott  vergessen  und  dem  Peor  opfern  ließ. 
Israel  ist  wegen  dieser  Schwäche  heimgesucht  worden, 
wie  die  Bibel  sagt,  denn  über  dieses  Volk  kam  eine 
große  Plage,  bei  der  24000  getötet  wurden.  Mußte 
die  Liederlichkeit  der  Juden  durch  die  Todesstrafe 
gesühnt  werden,  so  war  sie  gerecht  über  die  Is- 
raeliten verhängt  worden.  Wie  aber  konnte  das  Volk 
der  Midianiter  die  Ausrottung  verdient  haben?  Von 
dem  Treiben  der  Israeliten  noch  ein  Bild:  Und  siehe, 
ein  Mann  aus  den  Kindern  Israel  kam,  und  brachte 
unter  seine  Brüder  eine  Midianitin  vor  den  Augen 
Moses  und  der  ganzen  Gemeine  der  Kinder  Israel, 
die  da  weineten  vor  der  Tür  der  Hütte  des  Stifts. 
Da  das  sah  Pinehas,  der  Sohn  Eleasars,  des  Sohns 
Aarons,  des  Priesters,  stand  er  auf  aus  der  Gemeine, 
und  nahm  einen  Spieß  in  seine  Hand,  und  ging  dem 
israelischen  Mann  nach  in  die  Kammer,  und  durch- 
stach sie  beide,  den  israelischen  Mann,  und  das  Weib 
durch  ihren  Bauch."  Es  mag  in  diesem  Falle  wohl 
eher    entschuldbar    erscheinen,    daß    der    Mann,    der 


—     186     — 

eine  Heidin  in  die  Gemeinde  gebracht  hatte,  um  mit 
ihr  der  verbotenen  Liebe  zu  genießen,  während  der 
Ausübung  dieses  Frevels  —  als  solcher  galt  er  diesmal 
—  den  Todesstreich  zusammen  mit  seiner  Mitschuldigen 
erleiden  mußte,  und  es  wird  dann  auch  berichtet,  daß 
nach  dieser  Todesstrafe  die  Plage  in  Israel  aufhörte. 
Es  ist  das  sicherlich  sehr  wohl  geeignet,  bei  Moses  und 
den  Führern  des  sehr  wankelmütigen  Israelvolks  den 
Wunsch  zu  erwecken,  daß  in  Zukunft  die  Versuchung 
von  den  Männern  Israels  möglichst  ferngehalten  werde, 
obwohl  doch  eigentlich  nur  die  erprobte  Tugend  eine 
Tugend  ist,  nicht  schon  die  Entsagung  eines  Ver- 
gnügens, das  zu  genießen,  keine  Gelegenheit  sich 
bietet.  Von  diesem  Wunsche  aber  bis  zur  Vernich- 
tung eines  besiegten  und  dadurch  unschädlich  ge- 
machten Volkes,  besonders  bis  zur  Ausrottung  wehr- 
loser Weiber  oder  Kinder  ist  es  doch  wahrlich  noch 
ein  himmelweiter  Schritt. 

Nun  fällt  aber  bei  der  Erzählung  noch  etwas 
anderes  auf.  Getötet  wurden  nur  die  Kinder  männ- 
lichen Geschlechts  und  die  Weiber,  die  Männer  er- 
kannt und  beigelegen  hatten.  Man  hat  also  doch 
nicht  bloß  die  weibliche  Verführung  gefürchtet,  son- 
dern auch  die  weitere  Existenz  der  männlichen  Nach- 
kommen, vielleicht  fürchtete  man  deren  spätere  Rache. 
Das  wäre  nichts  ungewöhnliches  und  steht  besonders 
im  Orient  nicht  vereinzelt  da.  Wozu  aber  mußten 
die  Weiber  sterben',  die  schon  Männern  beigelegen 
hatten?  Jedenfalls  weil  man  fürchtete,  daß  sie  männ- 
lichen Nachkommen  das  Leben  schenken  könnten 
und  nicht  Zeit  und  Geduld  hatte,  abzuwarten,  ob 
diese   Möglichkeit   sich   wirklich   erfüllte.    Die   Kinder 


—     187     — 

weiblichen  Oeschlechts  und  alle,  die  noch  keinen 
Mann  gehabt  hatten,  die  durften  die  Sieger  für  sich 
behalten.  Hier  war  also  erlaubt,  was  vordem  das 
todeswürdige  Verbrechen  gebildet  hatte;  hier  durften 
die  Sieger  die  heidnischen  Weiber  behalten  und  an 
ihnen  ihre  Lüste  befriedigen.  Das  war  allerdings 
auch  ein  anderes  Verhältnis.  Früher,  als  die  Israe- 
liten im  Nachbarlande  mit  den  Töchtern  der  Heiden 
gebuhlt  hatten,  da  mußten  sie  sich  deren  Gunst  er- 
werben, und  es  war  ihnen  kein  zu  hoher  Preis,  selbst 
den  heidnischen  Göttern  zu  opfern;  als  Gefangene 
waren  die  Weiber  aber  das  Eigentum  der  Sieger,  sie 
konnten  da  nicht  mehr  dem  Glauben  der  Männer 
gefährlich  werden,  sondern  mußten  wohl  eher  zu 
Jehovah  sich  bekehren.  Ich  will  hier  nicht  ausführ- 
licher auf  eine  Stelle  eingehen,  die  mir  zu  beweisen 
scheint,  daß  auch  in  Israel  die  Gefangenen  zum  Teil 
geopfert  wurden.  Es  wird  ja  bekanntlich  bestritten, 
daß  es  bei  den  alten  Juden  Menschenopfer  gegeben 
habe.  Ich  bin  vom  Gegenteil  überzeugt  aus  Gründen 
die  an  dieser  Stelle  ausführlich  darzulegen  nicht  in 
den  Rahmen  meines  Themas  gehört.  Ich  finde  aber 
doch  eine  kurze  Stelle,  die  sich  an  die  Vernichtung 
der  Midianiter  knüpft,  doch  der  beiläufigen  Erwäh- 
nung würdig;  es  heißt  da  (4.  Mose  31,  40):  „Des- 
gleichen Menschenseelen,  sechszehntausend  Seelen; 
davon  wurden  dem  Herrn  zweiunddreißig  Seelen." 
Es  handelt  sich  um  die  Aufzählung  der  Beute.  Ebenso 
wie  es  bei  der  Zahl  der  Schafe  und  Rinder  heißt 
„davon  wurden  dem  Herrn  so  und  soviele,  was  doch 
garnichts  anderes  bedeuten  kann,  als  daß  diese  Zahl 
als   Dankesopfer  dargebracht   wurde,   finde   ich   auch 


—     188     — 

bei  der  Zahl  der  Menschenseelen  beim  besten  Willen 
keinen  anderen  Sinn,  als  daß  diese  geopfert  wurden. 
Das  geht  nicht  allein  aus  der  Zahl  hervor  —  32  von 
16000  — ,  sondern,  wie  gesagt,  auch  aus  dem  ganzen 
Zusammenhang.  Auf  die  Zahl  der  im  Kampfe  Ge- 
fallenen hat  diese  Zahl  nicht  den  mindesten  Bezug, 
denn  es  waren  ja  außer  den  5  Königen  alle  Männer 
erwürgt,  und  die  16000  waren  übrig  gebliebene  Ge- 
fangene, keineswegs  zu  viel,  wenn  man  bedenkt,  daß 
es  sich  um  ein  Volk  handelte,  das  5  Königreiche  um- 
faßte. Außerdem  handelte  es  sich  hier  um  die  Auf- 
zählung der  Ausbeute.  Ich  erwähne  diese  Menschen- 
opfer deshalb,  weil  ich  sie  auch  bei  anderen  orien- 
talischen Völkern  des  Altertums  häufig  finde.  Selbst 
in  unserer  Heimat  kamen  sie  übrigens  nicht 
selten  vor. 

Es  mag  mit  diesen  biblischen  Schilderungen  ge- 
nug sein.  Die  Juden  waren  das  auserlesene  Volk; 
sie  durften  sich  immerhin  höher  stellen  als  die  Nach- 
barvölker, die  noch  zum  Teil  Halbwilde  waren,  und  die 
doch  auch,  soweit  sie  eine  entwickeltere  Kultur  be- 
saßen, niemals  aus  so  sittlich-religiösen  Motiven  han- 
delten wie  die  an  einen  einzigen  Gott  glaubenden 
Israeliten.  Die  zügellose  und  wilde  Grausamkeit  der 
übrigen  orientalischen  Völker  im  Kriege,  ja  selbst  im 
Frieden  die  wilde  sexuelle  Leidenschaft,  die  wir  schon 
in  den  Dionysien  und  Bacchusfesten  kennen  gelernt 
haben,  obwohl  ich  das  Abscheulichste  aus  ästheti- 
schen Gründen  kaum  angedeutet  habe,  läßt  ohne 
weiteres  die  Vermutung  gerechtfertigt  erscheinen,  daß 
die  Ausrottung  der  Midianiter,  so  abscheulich  sie  auch 
erscheinen    mag,  doch   noch   ein   milder  Akt  Staats- 


—     189     — 

männischer  Klugheit  —  wenn  man  es  so  nennen 
will  —  gewesen  ist  im  Vergleich  mit  andern  ge- 
schichtlichen Vorkommnissen.  Wir  finden  nun  diese 
Vermutung  auch  durchaus  bestätigt.  Trotzdem  würde 
meine  Kapitelüberschrift  nicht  gerechtfertigt  erscheinen, 
wenn  es  sich  lediglich  um  eine  kriegerische  Brutalität 
und  Blutdürstigkeit  gehandelt  hätte.  Es  ist  aber  bei 
allen  den  Akten,  die  historisch  als  Kriegsgreuel  er- 
wiesen sind,  das  sexuelle  Moment  so  stark  betont, 
daß  man  sehr  wohl  berechtigt  ist,  dabei  von  einem 
Furor  sexualis  zu  sprechen,  nicht  etwa  bloß  nach 
dem  alten  Rezept,  dass  große  sexuelle  Begehrlichkeit 
mit  blutdürstiger  Grausamkeit  gepaart  zu  sein  pflegt. 
Es  finden  sich  überall  die  abscheulichsten  Ausschrei- 
tungen gegen  das  weibliche  Oeschecht,  das  oft  in 
viehischer  Weise  mißbraucht  und  dann,  wenn  die 
eklen  Begierden  bis  zum  Übermaß  befriedigt  waren, 
in  unerhörtester  Weise  abgeschlachtet  wurde.  Das 
war  selbsverständlich  eine  sexuelle  Wut,  die  eine 
Schande  für  alles,  was  Menschenantlitz  trägt,  ist. 

Es  war  dieser  Furor  sexualis  aber  keineswegs 
immer  bloß  gegen  die  Weiber  gerichtet;  sondern  er 
machte  sich  auch  gegen  männliche  Feinde  geltend. 
So  erzählt  Döpler  nach  Johann  Hugo  v.  Lindenschalls 
„Orient.  Indien",  Kap.  41,  S.  123  und  Hans  Dietrich 
und  Hans  Israel  von  Bey.  „Eigentliche  und  wahr- 
haftige Fürbildung  aller  fremden  Völker  im  Orient" 
(Anno  1598)  folgendes:  „Die  Nigriten  oder  schwartze 
Moren  in  der  Insel  Mossambique,  welche  man  Caffres 
nennet,  haben  einen  Gebrauch,  daß,  wenn  sie  wider 
ihre  Feinde  zu  Felde  ziehen,  und  die  Schlacht  ge- 
winnen, derjenige,  so  die  meisten  gefangen  bekömmt, 


—     190     — 

oder  caputiret,  unter  ihnen  vor  den  Vornehmsten, 
Größesten  und  Mannhafftesten  gehalten  wird,  und 
daher  vor  andern  in  großen  Ansehen  ist.  Damit  sie  nun 
dessen  Zeugnis  haben,  wenn  sie  vor  ihren  König  kommen 
schneiden  sie  allen,  so  sie  gefangen,  oder  umgebracht 
haben,  das  männliche  Glied  ab:  Die  Gefangene  aber 
lassen  sie  alsdann,  nach  geschehener  mutilation, 
wieder  hinlauffen.  Solches  geschieht  darum,  damit 
dieselben  keine  Kinder  mehr  zeugen  möchten,  welche 
ihre  Feinde  seyn,  und  ihnen  Schaden  zufügen  könnten. 
Das  selbige  Glied  lassen  sie  wohl  dörren,  damit  es 
sich  halte  und  nicht  stinkend  werde.  Wann  es  nun 
so  fein  gedörret  ist,  kommen  sie  für  den  König  mit 
sonderbarer  Reverenze,  in  Gegen warth  der  Vornehm- 
sten und  Obersten  in  jener  Gegend,  nehmen  eins  nach 
dem  andern  in  den  Mund,  spützen  es  wiederum  aus 
auf  den  Erdboden  vor  des  Königs  Füße,  welches  der 
König  mit  einer  großen  Danksagung  annimmt.  Und 
damit  er  ihnen  ihre  Mannheit  und  Tapferkeit  wiederum 
mit  einer  besonderen  Verehrung  vergelte,  so  lasset 
er  alle  die  ausgespeiete  membra  virilia  wieder 
von  der  Erden  aufraffen,  und  giebt  sie  hinwiederum 
dem,  der  sie  praesentiret,  für  eine  sonderliche  Gnade 
und  Ehrentitel,  dessen  er  sich  zu  erheben  habe,  und 
forthin  vor  eine  ritterliche  Person  zuhalten  sey.  Drauf 
nimmet  er  dieselbe  alle  miteinander,  reihet  sie  zu- 
sammen an  eine  Schnur,  und  machet  draus  ein  pater 
n  o  s  t  e  r.  Wenn  sie  denn  etwan  Hochzeit,  oder  sonst 
ein  Fest  haben,  so  kommen  die  Bräute,  oder  auch 
wohl  Eheweiber  eines  solchen  Ritters  hinzu,  und 
haben  dieses  Pater  noster  mit  allen  solchen 
Plunder   um    den   Hals   hängen,    welches   bey   ihnen 


—     191     — 

eine  solche  große  Ehre  ist,  als  bey  uns  das  güldene 
Fluß  tragen.  Und  dünken  sich  die  Bräute  oder 
Weiber  darbey  so  groß,  hoch  und  gut,  als  wenn  sie 
gar  die  Königin  selber  wären." 

Ob  diese  Erzählung  in  allen  ihren  Einzelheiten 
stimmt,  lässt  sich  gar  nicht  nach  prüfen ;  aber  da  ähn- 
liche Bräuche  von  verschiedenen  Autoren  gemeldet 
werden,  ist  der  Kern  der  Sache  jedenfalls  durchaus 
wahr.  Vorhanden  ist  höchstens  das  Beiwerk,  das  ja 
allerdings  nichts  mehr  ist  als  eine  Interpretation  von 
Europäern,  die  sich  die  Sache  nach  ihrer  persönlichen 
Auffassung  ausmalten.  Schon  die  Beschreibung  der 
Nigriten  ist  nicht  völlig  korrekt.  Nigritien  war  der 
von  der  Sahara  begrenzte  und  südlich  etwa  bis  zum 
Aequator  reichende  Teil  Nordafrikas,  das  eigentliche 
Nigerland.  Es  kommt  darauf  aber  auch  nicht  viel 
an.  Die  Begründung,  die  der  Verstümmelung  der  ge- 
fangenen Feinde  gegeben  wird,  ist  eine  doppelte. 
Einmal  sollten  sie  nicht  mehr  in  die  Lage  kommen, 
Kinder  zu  zeugen,  die  etwa  später  dem  Lande  der 
Sieger  gefährlich  hätte  werden  können.  Das  ist  ein 
echt  orientalischer  Brauch,  den  wir  ja  ähnlich  auch  bei 
dem  Kampfe  der  Kinder  Israel  gegen  die  Midianiter 
kennen  gelernt  haben.  Ferner  aber  sollten  die  abge- 
schnittenen menbra  virilia  eine  Trophäe  bilden,  ähnlich 
wie  die  Indianer  den  besiegten  Feinden  den  Skalp 
abtrennen  und  als  Siegeszeichen  an  sich  nehmen.  Das 
scheint  wohl  der  Hauptzweck  gewesen  zu  sein,  denn 
es  wird  ja  ausdrücklich  gesagt,  dass  nicht  nur  die 
gefangenen,  sondern  auch  die  erschlagenen  Feinde 
in  dieser  Weise  verstümmelt  worden  seien.  Hier 
konnte   also   doch  der  erstgenannte  Grund  überhaupt 


—     192     — 

nicht  mehr  in  Frage  kommen,  da  die  Beispiele,  in 
denen  erschlagene  Männer  noch  Kinder  gezeugt  hätten, 
jedenfalls  nicht  allzuhäufig  angetroffen  werden  dürften. 
Es  ist  mir  nur  freilich  nicht  recht  klar,  wie  dieses 
Sammeln  der  Schamglieder  gehandhabt  worden  ist.  Ob 
jeder  Nigrit,  der  einen  Feind  getötet  hatte,  sich  zu- 
nächst die  Zeit  nahm,  ihn  in  der  geschilderten  Weise 
zu  verstümmeln  und  die  Trophäe  sorgfältig  an  sich 
zu  nehmen,  oder  ob  man  sich  die  Zahl  der  erschlagenen 
Feinde  merkte  und  nach  Beendigung  der  Schlacht  die 
„Operation"  vornahm?  Es  kommt  freilich  in  Betracht, 
dass  die  Kämpfe  jener  Völker  und  Zeiten  sich 
wesentlich  anders  abspielten  als  die  modernen  Feld- 
schlachten kompakter  Heere.  Es  hat  sich  wohl  nicht 
um  Massenkämpfe  in  geordneter  Schlachtaufstellung 
gehandelt,  sondern  mehr  um  Kriegszüge  kleinerer 
Trupps,  und  ich  erinnere  auch  da  wieder  an  die  In- 
dianer, die  sich  doch  ebenfalls  zum  Skalpieren  ihrer 
besiegten  Feinde  ließen  und  nicht  gern  auf  die  Tro- 
phäe verzichteten,  da  sie  ja  den  Ruf  und  das  An- 
sehen des  Kriegers  begründete.  Ich  setze  nun  aber 
in  den  Doppelgrund,  der  für  die  Verstümmelung  an- 
gegeben wird,  einen  Zweifel  nur  hinsichtlich  der  Art, 
in  der  er  erzählt  wird.  An  sich  ist  es  gewiß  richtig, 
daß  man  nur  Feinde,  soweit  sie  noch  lebten,  in  der 
geschilderten  Weise  verstümmelte,  um  die  Trophäe  zu 
erlangen  und  um  den  Feinden  das  wahre  Zeugen  von 
Kindern  unmöglich  zu  machen.  Es  ist  aber  mehr  als 
naiv,  daß  man  die  Feinde  nach  der  mutilation  wieder 
laufen  gelassen  habe.  Es  ist  wohl  schwerlich  anzu- 
nehmen, daß  jemand  eine  derartige  Operation,  die 
doch   sicherlich   nicht   mit   zarter  Sorgfalt   ausgeführt, 


—    193    — 

sondern  in  der  Wut  des  Kampfes  so  barbarisch  wie 
möglich  vollzogen  wurde,  überleben  konnte.  Es  mußte 
wohl  auf  jeden  Fall  Verblutung  und  infolgedessen 
der  Tod  eintreten.  Von  Bakterien,  die  sich  auf  eine 
so  furchtbare  Wunde  stürzen  müßten,  wußte  man  sehr 
erfreulicher  Weise  damals  noch  nichts.  Es  lag  ja  auch 
durchaus  im  Sinne  damaliger  Kriegsansichten,  daß 
man  die  gefangenen  Feinde  geradezu  abschlachtete. 
Auch  die  Nigriten  werden  nicht  betrübt  darüber  ge- 
wesen sein,  wenn  ihre  Sucht,  Trophäen  zu  erbeuten, 
die  Gegner  mit  dem  Leben  büßten.  Der  weitere 
Zweck,  daß  diese  keine  Kinder  mehr  zeugen  konnten, 
war  übrigens  damit  sehr  sicher  erreicht.  Wozu  sich 
um  das  Schicksal,  die  Todesnot  eines  besiegten 
Feindes  kümmern?  Es  war  doch  eigentlich  selbst- 
verständlich, daß  der  Besiegte  von  dem  Sieger  nichts 
zu  erwarten  hatte  als  den  Todesstreich,  der  ihn  eben- 
sogut im  Streite  hätte  treffen  können.  Wozu  ihm 
diesen  Streich  später  ersparen?  Übrigens  fällt  eins 
beim  Studium  alter  Geschichte  auf;  die  unglaubliche 
Lebenskraft  früherer  Geschlechter,  die  so  zähes  Leben 
besaßen,  daß  sie  kaum  tot  zu  machen  waren.  Ich 
werde  das  noch  an  anderen  Beispielen  erläutern 
können. 

Mehr  als  eigentümlich  ist  die  Schilderung  der 
Zeremonie,  mit  der  die  Trophäen  dem  Häuptling  — 
in  der  Geschichte  Döplers  wird  er  König  genannt  — 
präsentiert  wurden.  Der  Held  nahm  die  hierzu  ge- 
wiß nicht  hervorragend  geeigneten  Zeichen  des  Sieges 
in  den  Mund  und  spie  sie  vor  die  Füße  des  gestrengen 
Führers  aus.  Dieser  nahm  das  mit  großem  Danke 
auf,  natürlich,  denn  wer  die  meisten  Feinde  erschlagen 

13 


—     194    — 

oder  gefangen  hatte,  der  war  doch  auch  an  dem  Siege 
am  stärksten  beteiligt,  und  daß  er  dafür  Ruhm  ver- 
diente, versteht  sich  von  selbst.  Er  durfte  die  Tro- 
phäen für  sich  behalten,  und  sie  tragen,  wie  der  mo- 
derne Held  seine  Orden  trägt,  die  er  oft  sicherlich 
nicht  so  unmittelbar  erworben  hat  wie  der  tapfere 
Nigrit  die  seinen.  Der  Held  trug  aber  seine  Zierde 
nicht  selbst,  sondern  schenkte  sie  der  Gattin  oder  der 
Braut,  die  bei  festlichen  Gelegenheiten  diese  Auszeich- 
nung um  den  Hals  trug.  Es  war  das  eine  Sitte,  die 
uns  des  Gegenstandes  wegen  gewiß  recht  eigenartig 
anmutet.  Man  rechnet  zwar  wohl  überall  mit  der  Putz- 
sucht der  Frauen;  daß  diese  sich  aber  etwas  als 
Schmuck  auswählen,  was  doch  unter  allen  Umständen 
als  äußerst  anstößig  erscheinen  muß,  berührt  gar  zu 
natürlich.  Es  läßt  aber  auch  dieser  Schmuck  auf  die 
von  jeder  Prüderie  freien  Anschauungen  schließen. 
Für  die  Negritendamen  war  die  Halskette  eben  nur 
ein  Symbol  großer  Tapferkeit  ihrer  Männer.  Anspie- 
lungen auf  die  Art  der  Trophäe  hat  man  wohl  schon 
deshalb  nicht  gemacht,  weil  man  auf  solche  Ehren- 
zeichen im  allgemeinen  nicht  spöttelt,  wenn  sie  so 
redlich  verdiente  Auszeichnungen  sind.  Auch  bei  uns 
wird  gern  der  Ochsenziemer  benutzt,  ohne  daß  man 
an  seine  Herkunft  und  ursprüngliche  Bedeutung 
denkt.  Auch  da  wird  das  Natürliche  ohne  Nebenge- 
danken hingenommen. 

Der  Brauch,  die  im  Kriege  Überwundenen,  be- 
sonders die  Kriegsgefangenen  in  dieser  Weise  zu  ver- 
stümmeln, war  übrigens  keineswegs  auf  die  Nigriten 
beschränkt;  er  scheint  vielmehr  sehr  oft  angewendet 
worden  zu  sein  und  eine  sehr  große  Verbreitung  ge- 


—     195    — 

habt  zu  haben.  Es  war  das  wohl  auf  die  sexuelle  Wut, 
die  nun  einmal  beim  Kampfe  ihre  Rolle  spielte  und 
durch  verschiedene  Psychologen  als  eine  Folge  des 
Wühlens  im  frischen  Menschenblut  erklärt  wird,  zu- 
rückzuführen und  eigentlich,  wenn  man  das  sexuelle 
Moment  berücksichtigt,  die  nächtsliegende  Verstümme- 
lung. Es  ist  aber  dabei  sonderbarer  Weise  von  allen 
älteren  Schriftstellern,  die  auf  diesen  Gebrauch  hin- 
weisen, die  schon  oben  erwähnte  Wendung  gebracht, 
daß  man  die  Gefangenen  nach  der  schauderhaften 
Operation  habe  „wieder  hinlaufen  lassen."  An  sich 
könnte  man  sich  sehr  wohl  versucht  fühlen,  diese 
Redensart  nicht  buchstäblich  zu  nehmen,  wie  ja  auch 
bei  den  meisten  Todesstrafen,  die  selbstverständlich 
nur  darauf  berechnet  waren,  das  Leben  zu  löschen, 
sehr  euphemistische  Redewendungen  beliebt  waren, 
die  ziemlich  harmlos  klingen  und  auch  von  ernsten 
Schriftstellern  angewendet  wurden.  Man  kannte  die 
Wirkungen  solcher  Prozeduren  zur  Genüge  und  konnte 
sich  deshalb  wohl  den  wörtlichen  Effekt  sparen.  Daß 
man  die  Gefangenen  furchtbar  verstümmelte  und  sie 
dann  wiederum  hinlaufen  ließ,  würde  danach  weiter 
garnichts  bedeuten,  als  daß  man  sie  verstümmelt  und 
sich  dann  nicht  mehr  um  sie  bekümmert  habe.  Ich 
würde  es  also  garnicht  so  sonderbar  finden,  wenn  sich 
wirklich  eine  Redewendung  eingebürgert  hätte,  die 
besonders  deshalb,  weil  sie  Bräuche  aus  vergangenen 
Zeiten  schilderten,  die  dem  Schreibenden  auch  schon 
darum  sehr  fernlagen,  weil  sie  von  fremden  Völkern 
geübt  wurden,  wohl  scherzhafter  lautete,  als  es  die 
Scheußlichkeit  des  Verfahrens  eigentlich  zulassen  sollte. 
Nun   liegt   die  Sache   aber  doch   so,   daß    es   genug 

13* 


—     196    — 

Mitteilungen  gibt,  nach  denen  ausdrücklich  versichert 
wird,  daß  die  Prozedur  wirklich  nicht  das  Leben  ge- 
kostet habe.  Ich  will  nur  ein  Beispiel  anführen,  das 
mir  das  zur  Wiedergabe  geeignetste  zu  sein  scheint, 
obwohl  es  auch  schon  so  beschaffen  ist,  daß  es  mich 
an  die  Worte  eines  Berliner  Landgerichtsdirektors  er- 
innert. Dieser  hatte  eine  Schwurgerichtsverhandlung 
zu  leiten,  die  einen  Sensationsfall  betraf,  ein  Beispiel 
zu  Chronique  scandaleuse,  wie  es  eben  in  Berlin 
nicht  allzu  selten  vorkommt.  In  dieser  Verhandlung 
war  nun  keineswegs  alles,  was  da  erwähnt  werden 
mußte,  für  die  Ohren  keuscher  Jungfrauen  bestimmt; 
aber  da  die  Einzelheiten  nicht  gerade  unsittlicher 
Natur  waren  und  ein  Interesse  bestand,  diesen  Fall 
möglichst  vor  der  Öffentlichkeit  klarzulegen,  half  sich 
der  Vorsitzende  dadurch,  daß  er  an  das  meist  aus 
eleganten  Damen  bestehende,  sehr  zahlreiche  Audi- 
torium eine  kurze  Ansprache  richtete,  in  der  er  sagte, 
daß  in  dem  zur  Verhandlung  anstehenden  Falle  viele 
Einzelheiten  eingehend  erwähnt  werden  müßten,  die 
zwar  nicht  so  seien,  daß  es  notwendig  erscheine,  im 
Interesse  der  Sittlichkeit  die  Öffentlichkeit  auszuschlie- 
ßen, die  aber  doch  auch  für  die  anständigen  Damen 
sehr  peinlich  klingen  würden.  Er  wolle,  da  der  Aus- 
schluß der  Öffentlichkeit,  wie  gesagt,  nicht  beschlossen 
werde,  er  also  auch  nicht  die  Befugnis  habe,  einzelnen 
Personen  die  Anwesenheit  zu  untersagen,  doch  den 
Damen  nahelegen,  sich  lieber  zu  entfernen.  Nach  dieser 
Rede  ließ  er  eine  Pause  folgen.  Die  Damen  schlugen 
die  Augen  schamhaft  nieder,  eine  blickte  die  andere 
an,  aber  keine  wich  und  wankte.  Da  sagte  der  jo- 
viale Vorsitzende  nach  einiger  Zeit:  „So,  da  ich  nun 


—     197    — 

annehmen  kann,  daß  alle  anständigen  Damen  den  Saal 
verlassen  haben,  trete  ich  in  die  Verhandlung  ein!" 
Das  war  sehr  deutlich;  aber  die  Damen  hat  das  alles 
nicht  sonderlich  geniert,  und  so  denke  ich,  wird  die 
nachfolgende  kleine  Erzählung,  die  ich  im  harmlos 
altertümlichen  Gewände  wiedergebe,  wohl  meine  ge- 
ehrten Leserinnen  ebenfalls  nicht  brüskieren.  Die  Ge- 
schichte lautet:  „Theobaldus,  der  Umbrorum 
Heer-Führer  wider  die  Griechen,  welche  Beneven- 
tum  inne  hatten,  ließ  allen  denjenigen,  so  er  vom 
Feind  gefangen  bekahm,  die  Virilia  abschneiden, 
und  wieder  hinlauffen,  biß  endlich  ein  Weib  von 
Benevent  vor  ihn  trat,  deren  Mann  auch  gefangen 
worden,  und  es  bald  an  dem  wahr,  daß  er  gleichfals 
sein  Kleinod  verlieren  solte,  und  mit  vielen  ächtzen 
und  seufftzen  fußfällig  ihn  also  anredete:  „O  Theo- 
balde,  waß  haben  wir  dir  zu  Leide  gethan,  daß 
du  uns  den  Krieg  ankündigest?  Wir  sind  keine  streit- 
bahre .Weiber,  wie  die  Amazonen,  sondern  treiben 
unsere  Hand-Arbeit  mit  Nehen  und  Spinnen,  und 
wissen  mit  den  Waffen  nicht  umzugehen.  Warum 
schneidestu  unsern  Männern  das  beste  Kleinod  weg, 
und  beraubest  uns  Weiber  dadurch  aller  Wollust? 
Unsere  Männer  haben  ja  Augen,  Nasen  und  Hände, 
die  du  immerhin  abschneiden,  nicht  aber  dasjenige, 
welches  die  Natur  uns  Weibern  zu  unsern  Gebrauch 
gewidmet,  mit  unter  das  Kriegsrecht  ziehen  möchtest! 
Über  welch  ernsthaffte  Rede  des  Weibes  Theobal- 
dus sich  sehr  belustiget,  ihr  den  Mann  unverletzt 
wiedergegeben,  und  mit  solcher  schändlicher  Ver- 
stümmelung innegehalten." 

Es   ist   bei   dieser   Erzählung,   gleichviel   ob    sie 


—    198    — 

völlig  wahr  ist,  oder  ob  sie  eine  etwas  derbe  Satire 
auf  die  weibliche  Empfindung  jener  Zeiten  sein  soll, 
doch  zweifellos  davon  ausgegangen,  daß  die  Verstüm- 
melung nicht  tötlich  verlaufe,  daß  sie  im  Gegenteil 
den  Mann  gesund  und  kräftig  lasse,  ihn  lediglich  zu 
jedem  Liebeswerk  untauglich  mache.  Nicht  um  das 
Leben  der  Männer  bat  das  Weib  von  Benevent  den 
Theobaldus,  auch  nicht  darum,  daß  er  die  gefangenen 
Männer  unverstümmelt  lassen  sollte;  sie  durften  viel- 
mehr Nase,  Augen  oder  gar  die  Hände  verlieren; 
denn  diese  Verluste  würden  bei  weitem  nicht  so  tief 
in  das  Liebesleben  der  Weiber,  soll  wohl  heißen  der 
ganzen  Bevölkerung  eingreifen.  Es  ist  das  ja  eigent- 
lich auch  durchaus  richtig,  ohne  daß  man  etwa  nötig 
hätte,  der  Geschichte  einen  frivolen  Nebengeschmack 
zu  verleihen;  denn  die  Verstümmelung,  wie  sie  Theo- 
bald  anbefohlen  hatte,  würde  das  Aussterben  des 
ganzen  Volksstammes  zur  Folge  gehabt  haben,  da 
von  einer  Fortpflanzung  keine  Rede  mehr  hätte  sein 
können.  Daß  der  Verlust  des  Auges  oder  der  Nase 
nicht  tötlich  zu  verlaufen  pflegt,  ist  bekannt,  aber 
auch  ohne  weiteres  erklärlich,  da  ja  derartige  Ver- 
letzungen, wenn  nicht  gerade  Komplikationen  hinzu- 
treten, an  sich  nicht  soweit  eingreifen,  daß  die  Wahr- 
scheinlichkeit eines  lethalen  Ausganges  physiologisch 
erklärlich  erscheinen  könnte.  Anders  lag  die  Sache 
allerdings  beim  Abhauen  der  Hände.  Da  wurde  die 
Pulsader  durchschlagen,  und  es  ist  wohl  allgemein  be- 
kannt, daß  durch  die  Öffnung  der  Pulsader  in  ganz 
kurzer  Zeit  der  Tod  durch  Verbluten  eintritt. 

Aber  im  alten  deutschen  Strafrecht  war  das  Ab- 
schlagen einer  Hand  oder  auch  beider  Hände  durch- 


—     199    — 

aus  gebräuchlich.  Diese  Strafe  war  jedoch  keine  Todes- 
strafe, sollte  es  wenigstens  absolut  nicht  sein,  und 
es  gab  verhältnismäßig  viele  Personen,  die  durch  den 
Scharfrichter  einer  Hand  beraubt  waren  und  doch 
recht  lange  lebten.  Wem  fiele  dabei  nicht  der  Ritter 
Götz  von  Berlichingen  mit  de  reisernen  Hand  ein? 
Man  muß  es  sehr  gut  verstanden  haben,  solche  Wunden 
zu  behandeln  und  den  Blutverlust  sofort  zu  stillen. 
Ähnlich  würde  vielleicht  die  Sache  beim  Abschneiden 
der  V  i  r  i  1  i  a  gelegen  haben,  wenn  man  annehmen 
dürfte,  daß  die  Sieger  sich  die  große  Mühe  gemacht 
hätten,  die  Feinde  erst  zu  verstümmeln  und  dann  alle 
Kunst  anzuwenden,  um  ihnen  das  Leben  zu  erhalten. 
Es  ist  indes  geradezu  ausgeschlossen,  daß  eine  solche 
zarte  Fürsorge  etwa  angewendet  worden  wäre.  Man 
hätte  dazu  wohl  nicht  einmal  die  erforderliche  Zeit 
bei  solchen  Massen-„Operationen"  gehabt;  auf  keinen 
Fall  hatte  man  den  erforderlichen  guten  .Willen.  Ich 
habe  aber  auch  guten  Grund  zu  der  Annahme,  daß 
man  nicht  einmal  die  Kenntnisse  besaß,  bei  der  in 
Rede  stehenden  Verletzung  wirklich  erfolgreiche  Hilfe 
zu  leisten.  Wenigstens  weiß  ich,  daß  man  es  da, 
wo  man  es  aus  Geschäftsrücksichten  gewiß  gern  ge- 
tan hätte,  nicht  konnte,  nämlich  bei  der  Kastration. 
Als  die  Kastraten  noch  einen  gesuchten  Handels- 
artikel bildeten,  da  gab  es  verschiedene  Qualitäten 
von  Kastraten  —  ich  glaube  diesen  Handelsausdruck 
hier  wohl  anwenden  zu  dürfen,  da  es  sich  wirklich 
um  einen  schwunghaften  Schacher  mit  der  Ware 
Mensch  drehte.  Kastraten,  die  diesen  Namen  in  nur 
sehr  bescheidenem  Umfange  verdienten,  waren  nicht 
allzu  teuer,  denn  der  Mensch  stand  nicht  allzuhoch  im 


—     200    — 

Kurse,  weil  es  niemals  an  dieser  Ware  nicht  fehlte. 
Dagegen  waren  Kastraten,  die  absolut  entmannt  waren 
und  eine  Operation  durchmachen  mußten,  die  wohl 
der  von  Theobaldus  angewendeten  nicht  sehr  unähn- 
lich war,  sehr  teuer.  Nicht  deshalb,  weil  diese  Opera- 
tion im  eigentlichen  Sinne  eine  hervorragende  Kunst- 
gewesen wäre,  die  mit  Preisen  vergütet  worden  wäre, 
Wie  sie  besonders  heute  oft  für  die  Kunst  eines  be- 
rühmten Operateurs  aufgewendet  werden  müssen,  son- 
dern deshalb,  weil  die  meisten  Opfer  an  dieser  Opera- 
tion zu  Grunde  gingen.  Nur  wenige  von  dem  an 
sich  nicht  teueren  Menschenmaterial  überlebten  die 
Mißhandlung.  Die  meisten  starben  sehr  bald  an  den 
Folgen  der  Verstümmelung,  und  natürlich  mußte  der 
richtig  kalkulierende  Händler  die  Preise  nach  der 
Menge  des  verwendeten  Materials  berechnen,  wenn  er 
auf  die  Kosten  kommen  und  dabei  noch,  was  ja  selbst- 
verständlich das  einzige  Motiv  des  Handels  war,  ein 
gutes  Geschäft  machen  wollte.  Es  beweist  diese  Tat- 
sache, daß  es  allerdings  wohl  manchmal  möglich  war, 
die  Verstümmelten  am  Leben  zu  erhalten,  daß  dies 
aber  nur  sehr  selten  gelang,  wenn  auch,  schon  aus 
Geschäftsrücksichten,  die  größte  Sorgfalt  angewendet 
wurde.  Man  besaß  damals  eine  sichere  und  zuver- 
lässige Methode  für  eine  derartige  Verstümmelung 
überhaupt  offenbar  nicht. 

Sollte  man  nun  etwa  annehmen,  daß  die  wüten- 
den Feinde,  die  die  Vernichtung  ihrer  Gegner  als  das 
erstrebenswerteste  Ziel  betrachteten,  mehr  Geschick- 
lichkeit aufgewendet  hätten  als  der  Händler,  der  alles 
aufbot,  um  sich  vor  Verlusten  zu  schützen?  Selbst 
wenn   man   annehmen   wollte,   daß   der   Händler   das 


—     201     — 

Leben  seiner  .Ware  ebenfalls  nicht  allzu  hoch  veran- 
schlagt habe,  weil  er  sich  durch  die  hohen  Preise  immer 
noch  reichlich  decken  konnte,  was  immerhin,  soweit 
es  sich  um  den  Grad  der  Humanität  handelte,  wohl 
zutreffen  mochte,  so  ist  doch  nicht  zu  übersehen,  daß 
gerade  in  Rücksicht  auf  die  hohen  Preise  der  Händ- 
ler erst  recht  ein  Interesse  daran  haben  mußte,  mög- 
lichst viele  Personen  am  Leben  zu  erhalten,  denn  jeder 
Überlebende  bedeutete  für  ihn  ein  kleines  Vermögen. 
Für  den  Kriegsmann  aber  bedeutete  jedes  erhaltene 
Leben  des  Feindes  eine  Gefahr.  Man  wird  deshalb 
sehr  wohl  ermessen  können,  daß  recht  wenig  Wahr- 
scheinlichkeit für  die  Harmlosigkeit  der  Verstümme- 
lung, die  man  fast  aus  den  alten  Berichten  folgern 
müßte,  vorhanden  war. 

Theobaldus  muß  nun  allerdings  ein  recht  milder 
und  humaner  Führer  gewesen  sein,  wenn  er  sich  durch 
die  Rede  des  Weibes  von  Benevent  so  ohne  weiteres 
bewegen  ließ,  die  Scheußlichkeit  sofort  einzustellen. 
Ein  gutes  Wort  findet  zwar  sehr  oft  eine  gute  Statt; 
aber  im  Kriege  war  sonst  mit  guten  Worten  nicht  viel 
zu  erreichen,  und  die  Bestie,  die  erst  einmal  Blut  ge- 
leckt hat,  ist  das  gefährlichste  Raubtier;  das  gilt  auch 
von  der  Bestie  im  Menschen.  Freilich  ein  Moment 
könnte  die  seltsame  Wendung  schon  eher  erklären: 
Theobaldus  erheiterte  sich  über  die  Rede  sehr,  und 
in  dieser  Stimmung  konnte  er  vielleicht  eher  einmal 
Gnade  für  „Recht"  ergehen  lassen.   Gnade  für  Recht! 

Das  Recht  des  Kriegers  war  es  allerdings,  die  ge- 
fangenen Feinde  zu  vernichten  oder  sie  so  zu  ver- 
stümmeln, wie  es  dem  Sieger  beliebte.  Übte  er  dieses 
Recht  nicht,  so  übte  er  eben  Gnade.    Daß  dies  ge- 


—    202    — 

wiß  nicht  oft  geschah,  dafür  bürgt  die  Wildheit  und 
Grausamkeit  damaliger  Zeiten.  Ja,  es  war  nicht  einmal 
immer  in  die  Macht  des  Feldherrn  gegeben,  solche 
Gnade  walten  zu  lassen,  denn  die  entfesselten  Scharen 
stürzten  sich  wie  die  Wilden  auf  Leib  und  Leben, 
Hab  und  Gut  der  Besiegten.  Daß  man  dabei  nicht 
nur  die  Weibe  rnicht  erfolgreich  für  ihre  Männer 
um  Schonung  bitten  ließ,  sondern  ihnen  auch  diese 
Schonung  selbst  nicht  widerfahren  ließ,  das  war  ein- 
fach   Kriegsrecht. 

Herlicius  erzählt  furchtbare  Szenen,  die  sich  bei 
der  Eroberung  Konstantinopels  durch  die  Türken,  ab- 
gespielt haben.  Die  Türken  machten  nieder,  was  ihnen 
vor  die  Klinge  kam.  Die  Weiber  ließen  sie  zwar 
leben,  nicht  aber,  um  sie  zu  schonen,  sondern  um  ihnen 
ein  Los  zu  bereiten,  gegen  das  die  an  den  Männern 
verübten  Greueltaten  noch  wie  ein  Werk  wahrer 
Nächstenliebe  anmuten.  Daß  auch  dabei  von  einen 
Furor  sexualis  gesprochen  werden  darf,  wird 
wohl  auch  der  nicht  zu  bestreiten  wagen,  der  einem 
solchen  Worte  im  allgemeinen  skeptisch  gegenüber- 
steht. In  der  unmenschlichsten  Weise  wurde  mit  den 
Weibern  Notzucht  getrieben.  Es  ist  kaum  glaublich, 
daß  Menschen  sich  so  tief  unter  das  Vieh  herabwürdi- 
gen können,  wie  es  dort  geschah.  Als  diese  Lust  bis 
zum  Übermaß  getrieben  war,  wurden  die  Weiber  ge- 
knebelt, völlig  nackt  ausgezogen  und  an  die  Bäume 
gebunden.  Sie  mußten  dann  als  lebende  Scheiben  für 
die  Bogenschützen  dienen,  die  sich  bemühten,  ihre 
Opfer  an  Stellen  zu  treffen,  die  zu  verhüllen  meist  der 
primitivste  Kulturzustand  gebietet.  Als  dieser  Frevel 
so  lange  gewährt  hatte,   daß   der  Reiz  der  Neuheit 


—    203    — 

nicht  mehr  wirkte,  wurden  die  Körper  der  unglück- 
lichen Opfer  in  Stücke  zerhauen,  so  daß  sie  endlich 
von  den  entsetzlichen  Martern  durch  den  Tod,  der 
oft  trotz  seiner  Unerbittlichkeit  viel  milder  und  wohl- 
tätiger ist  als  die  entarteten,  vertierten  Menschen,  er- 
löst wurden.  Die  rasenden  Horden  schnitten  die  noch 
zuckenden  Herzen  aus  den  zerstückelten  Körpern  und 
trieben  damit  ihren  Unfug;  sie  sollen  die  Herzen  so- 
gar wie  die  wilden  Bestien  gefressen  haben.  Die 
Kinder,  die  dem  Treiben  erst  hatten  zusehen  müssen, 
wurden  auf  die  Lanzen  gespießt  und  im  Triumph 
herumgetragen.  Wer  eine  Schilderung  dieses  un- 
menschlichen Wütens  liest,  muß  sich  fragen,  ob  es 
denn  wirklich  möglich  sein  könne,  daß  Menschen  so 
furchtbar  entarteten ;  aber  dennoch  ist  diese  Schilderung 
leider  nur  ein  einzelnes  Beispiel  zahlreicher  gleicher 
Fälle. 

Was  ist  an  den  Christen  in  den  Zeiten  der 
Christenverfolgung  gefrevelt  worden!  Wie  hat  man 
sich  gegen  die  Christinnen  vergangen!  Es  ist  auch 
da  der  Furor  sexualis  als  eine  ewige  Krankheit  in 
die  Erscheinung  getreten,  denn  die  Martern  der  ab- 
scheulichsten Art  lassen  immer  eine  Beziehung  auf 
das  Sexualleben  erkennen.  Ich  weiß  nicht,  ob  es  für 
alle  Fälle  berechtigt  ist,  unmenschliche  Grausamkeit 
mit  dem  Sexualleben  in  Verbindung  zu  bringen;  daß 
aber  da,  wo  der  Zusammenhang  vorhanden  ist,  die 
Grausamkeit  stets  viel  abscheulicher  und  brutaler  auf- 
tritt, das  ist  unverkennbar. 

Das  darf  natürlich  nicht  auf  das  orientalische 
Liebesleben  beschränkt  werden,  sondern  es  gilt  all- 
gemein, und  leider  ist  es  auch  geschichtlich  festge- 


-     204     — 

stellt,  daß  im  Abendlande,  wenn  die  Kriegsleidenschaft 
entfacht  war,  ebensolche  Entsetzenstaten  verübt  worden 
sind  wie  im  Orient.  Man  braucht  nicht  einmal  bis 
ins  Altertum  zurückzugehen,  um  das  Furchtbare,  die 
menschliche  Bestie,  nachzuweisen.  Was  ist  gegen  die 
Wiedertäufer,  gegen  die  Katharer,  gegen  die  Huge- 
notten, ja  selbst  in  der  französischen  Revolution  an 
Schandtaten  verübt  worden.  Und  ist  denn  unsere  heu- 
tige Zeit  schon  ganz  frei  von  Unmenschlichkeiten? 
Kann  man  denn  heute  den  Furor  sexualis  nicht 
mehr  entdecken,  wenn  man  sich  die  Mühe  gibt,  den 
Erscheinungen  auf  den  Grund  zu  gehen  und  psycho- 
logisch zu  analysieren?  Doch  lassen  wir  das  Abend- 
land und  die  neuere  Zeit  aus  dem  Spiele. 

Von  Alexander  dem  Großen  wird  erzählt,  daß 
er  bei  einem  Siegeszug  gegen  die  Seythen  und  Thra- 
zier eine  eigene  Art  von  Denkmälern  habe  errichten 
lassen.  Nicht  überall  erregte  das  Erscheinen  seines 
gewaltigen  Heeres  die  gleiche  Wirkung.  An  manchen 
Orten  unterwarf  man  sich  ihm  willig,  da  man  ohne 
weiteres  einen  Widerstand  gegen  die  gewaltige  Macht 
des  sieggewohnten  Feldherrn  für  völlig  aussichtslos 
hielt.  An  anderen  Orten  dagegen  hatten  die  Be- 
wohner beschlossen,  bis  zum  Tode  sich  zu  wehren, 
so  daß  auch  Alexander  sich  der  Anerkennung  solcher 
tollkühnen  Tapferkeit  nicht  entziehen  konnte,  obwohl 
es  sonst  eigentlich  nicht  gerade  üblich  war,  die  Tapfer- 
keit des  Feindes  zu  ehren,  sondern  vielmehr,  sie  als 
ein  Verbrechen  zu  strafen.  Alexander  ließ  nun  über- 
all, wo  er  im  heißen  Kampfe  oder  durch  freiwillige 
Unterwerfung  der  Feinde  Sieger  blieb,  steinerne  Denk- 
jmäler   errichten,    aus   denen   sofort   zu   ersehen    war, 


—     205     — 

ob  ihm  der  Sieg  leicht  oder  schwer  geworden  war. 
Hatte  man  ihm  Widerstand  geleistet,  so  wurde  auf 
steinerner  Säule  das  steinerne  Bild  des  Phallus  er- 
richtet; da  aber,  wo  feige  Unterwerfung  erfolgt  war, 
da  trug  die  steinerne  Säule  die  Abbildung  der  weib- 
lichen Reize.  Es  war  damit  gesagt,  daß  einmal  männ- 
liche Tapferkeit,  das  andere  Mal  weibische  Feigheit 
die  Bewohner  charakterisiert  habe.  Das  war  an  sich 
eine  Ehrung  der  Kühnheit  und  ein  Hohn  auf  die 
Feigheit;  aber  doch  läßt  sich  auch  hieraus  unschwer 
der  Furorsexualis  erkennen.  Der  Gedanke,  durch 
solche  Denkmäler  die  Gegend  zu  zeichnen,  konnte 
ohne  diesen  psychischen  Hintergrund  garnicht  ent- 
stehen. Es  ist  aber  doch  das  ganze  Leben  des  großen 
Alexander  eigentlich  nicht  so  beschaffen,  daß  man  ge- 
rade bei  ihm  eine  derartige  Gedankenassoziation  als 
natürlich  ansehen  müßte.  Es  soll  damit  nicht  etwa 
gesagt  sein,  daß  Alexander  absolut  frei  von  Ausschwei- 
fungen gewesen  wäre,  wie  sie  bei  den  Großen  seiner 
Zeit  selbstverständlich  waren,  oder  daß  ihn  die  Ge- 
schichte über  Gebühr  rühme.  Er  war  nicht  allein  der 
größte  Feldherr  seiner  Zeit,  sondern  er  besaß  auch 
rein  menschlich  gedacht  eine  Größe,  durch  die  er 
weit,  Unendlich  weit  über  seine  Zeitgenossen  hinaus- 
ragte. Man  könnte  vielleicht  sagen  wollen,  daß  da- 
zu nicht  sonderlich  viel  gehört  habe,  da  doch  die 
Zeitgenossen  Alexanders  des  Großen  auf  einen  sehr 
niedrigen  Niveau  gestanden  hätten.  Ich  erwähne  dies 
ausdrücklich,  weil  ich  tatsächlich  einen  solchen  Ein- 
wand einmal  gelesen  habe;  er  betraf  allerdings  nicht 
Alexander.  Das  macht  aber  den  Unsinn  nicht  zur 
Weisheit.  Unsinn  ist  nämlich  ein  solcher  Einwand  stets, 


—    206     — 

denn  es  ist  doch  wohl  auf  alle  Fälle  ein  Verdienst, 
über  seine  Zeitgenossen  hinauszuragen.  Befinden  diese 
sich  auf  einen  tiefen  Niveau,  dann  ist  der,  der  sie 
überragt,  natürlich  eine  ebenso  rühmenswerte  Aus- 
nahme wie  der,  der  auf  höchstem  Allgemeinniveau 
seine  Zeitgenossen  überragt,  denn  diese  können  immer 
allein  den  Maßstab  für  die  Größe  oder  für  den  Min- 
derwert des  Einzelnen  abgeben.  Der  Bildungsgrad  und 
die  Moral  eines  Volkes  während  einer  bestimmten 
Zeitepoche  ist  das  Entscheidende.  Es  wäre  kindisch, 
wollte  sich  heutigen  Tages  ein  Mensch  für  ein  be- 
sonderes Licht  halten,  weil  er  die  Kunst  des  Lesens 
und  Schreibens  beherrscht,  die  vor  verschiedenen  Jahr- 
hunderten —  man  braucht  nicht  einmal  so  sehr  tief 
in  unsere  Vergangenheit  zurückzublicken,  noch  den 
besten  Gesellschaftskreisen   Hecuba  war. 

Nun  ist  die  Sache  aber  mit  Alexander  noch  nicht 
einmal  von  diesem  falschen  Standpunkt  aus  berechtigt, 
denn  der  große  Macedonier,  der  336  v.  Chr.  den 
Thron  bestieg,  war  keineswegs  bloß  im  Vergleich  zu 
tiefstehenden  Männern  groß,  sondern  er  überragte  auch 
die  Größten  seiner  Zeit  und  würde  wohl  auch  einen 
Vergleich  mit  den  Großen  späterer  Zeiten  nicht  zu 
fürchten  gehabt  haben,  wenn  es  nicht  eine  vergebliche 
und  in  der  Regel  sehr  mißliche  Sache  wäre,  solche 
Vergleiche  anzustellen.  An  sich  leidenschaftlich  veran- 
lagt, aufgewachsen  in  einem  Milieu  sittenloser  Genuß- 
sucht und  sinnlicher  Ausschweifung,  hielt  er  sich 
doch  rein  von  den  schwersten  sinnlichen  Ausschwei- 
fungen jener  Zeit.  Wie  weit  er  diese  Selbstbeherr- 
schung seinen  trefflichen  Lehrer  Aristoteles  zu  danken 
hatte,  wie  weit  sie  etwa  darauf  zurückzuführen  war, 


—     207     — 

daß  die  Seele  des  jungen  Alexander  von  heißer  Be- 
gierde nach  Ruhm  verzehrt  war,  so  daß  die  sonst  üb- 
lichen Zerstreuungen  ihn  weniger  fesselten,  mag  dahin- 
gestellt bleiben.  Jedenfalls  war  Alexander  sehr  zu 
seinem  Vorteil  von  seinen  Zeitgenossen  unterschieden, 
das  zeigt  auch  der  Umstand,  daß  er  im  Feinde  den 
Mannesmut  zu  ehren  wußte,  das  zeigt  ferner  sein  Edel- 
mut, den  er  so  oft  dem  besiegten  Feinde  angedeihen 
ließ.  Trotzdem  war  Alexander  wie  der  große  Caesar 
auch  dem  weiblichen  Geschlecht  gegenüber  der  Held, 
der  kam,  sah  und  siegte.  Und  daß  selbst  Alexander 
so  wunderbare  Denkmäler  auf  seinen  Siegeszügen  er- 
richtete, das  läßt  doppelt  und  dreifach  erkennen,  wie 
der  Geist  jener  Zeiten  von  erotischen  Gedanken  be- 
herrscht war. 

Die  Weiber  hatten  stets  bei  den  Kriegszügen  des 
alten  Orients  zu  leiden.  Sie  waren  im  Falle  des  Sieges 
eine  willenlose  Beute  des  Siegers,  der  so  viele  von 
ihnen  mit  fortschleppte,  wie  er  nur  irgend  erbeuten 
konnte.  Und  es  war  ein  Glück,  wenn  sie  bloß  den 
feindlichen  Harem  vermehren  durften,  denn  nicht  sel- 
ten wurden  sie,  wie  ja  schon  in  dem  obigen  Beispiel 
gezeigt  ist,  in  der  fürchterlichsten  Weise  mißbraucht 
und  dann  dahingeschlachtet.  Es  kam  auch  vor,  daß 
die  Weiber  völlig  nackt  den  Göttern  geopfert  wurden, 
jedenfalls  auch  nachdem  sie  vorher  den  geilen  Lüsten 
der  Männer  hatten  dienen   müssen. 

Man  mag  die  Sache  ansehen,  wie  man  will,  stets 
wird  es  sich  nachweisen  lassen,  daß  mit  vollstem 
Rechte  von  einem  Furor  sexualis  der  Kriegs- 
völker gesprochen  werden  darf.  Daß  dieser  Ausdruck 
auch   im   Frieden   seine    Berechtigung    hat,   daß   das 


—     208    — 


meiste  von  dem,  was  wir  modernen  Menschen  als 
Perversität  bezeichnen,  auch  nichts  anderes  ist  als. 
Furor  sexualis,  versteht  sich  von  selbst.  Wenn 
wir  aber  uns  daran  gewöhnt  haben,  in  der  Perversität 
etwas  Krankhaftes  zu  sehen,  so  war  man  von  dieser 
Anschauung  im  Altertum  völlig  frei;  man  glaubte  in 
dem,  was  ich  Furor  sexualis  nenne,  viel  eher 
den  Ausbruch  überfließender  Lebenskraft  und  Gesund- 
heit zu  erblicken,  und  das  scheint  mir,  wenigstens 
bei  der  Mehrzahl  der  Fälle,  auch  weit  berechtigter 
zu  sein. 


Der  Bilderzauber. 

Wenn  man  die  letzten  Kapitel  liest,  dann  sollte 
man  sich  eigentlich  mit  Entsetzen  abwenden  von  dem 
Treiben  eines  Landes,  in  dem  Milch  und  Honig  fließt, 
und  in  dem  das  menschliche  Gemüt  doch  so  leer  war 
von  dem  milden  Zauber  einer  gottgesegneten  Natur. 
Trifft  das  Letztere  aber  auch  wirklich  so  ganz  be- 
dingungslos zu?  Was  in  wilden  Kriegszeiten  im 
Menschenherzen  sich  abspielt,  das  bleibt  doch  ver- 
borgen, wenn  der  holde  Friede  sein  saftes  Szepter 
schwingt;  mindestens  ist  das  Gemüt  in  einem  Zu- 
stand latenter  Wildheit  eingewiegt.  Man  könnte  wohl 
von  einem  eigentlichen  Liebesleben  überhaupt  nicht 
sprechen,  wenn  immer  nur  eine  wüste  Sinnlichkeit 
ihre  brutalen  Orgien  gefeiert  hätte.  Ich  habe  aber 
schon  früher  gesagt,  daß  in  dem  Zauberlande  des 
Orients  die  schroffsten  Gegensätze  sich  berühren, 
wilde  Raserei  des  Sinnlichen,  neben  poetischem  Dufte, 
Roheit,  neben  tiefster  Sentimentalität.  Auch  im  Liebes- 
leben war  das  nicht  anders.  Die  ausschweifende  Sinn- 
lichkeit soll  die  Quelle  blutdürstiger  Grausamkeit  sein; 
aber  die  Sinnlichkeit  weckt  auch  die  zarteste  Schwär- 
merei. Was  ist  denn  Liebe?  Sie  muß  mit  allen 
ihren  Symptomen  betrachtet  und  geprüft  werden,  und 
läßt  sich  schlechterdings  nicht  nach  Backfischidealen 

14 


—    210    — 

beurteilen.  Sie  ist  allerdings  für  orientalische  Begriffe 
nicht  vom  Sinnlichen  loszulösen,  und  selbst  die  fromme 
Inbrunst  des  Heiligenkults  läßt  unter  dem  psycho- 
logischen Seziermesser  nicht  selten  eine  starke  sinn- 
liche Tendenz  erkennen.  Wie  sollte  in  der  Seele 
eines  Orientalen  eine  Liebe,  die  völlig  losgelöst  wäre 
von  aller  Sinnlichkeit,  vorstellbar  sein?  Selbst  die  zarte 
Romantik,  die  über  die  Liebe  des  jungen  Seleuciden 
zu  seiner  jugendlichen  Stiefmutter  Stratonike  gebreitet 
ist,  war  erfüllt  von  dem  heißen  Dunste  sinnlichen 
Verlangens.  Dieser  Roman  ist  echt  orientalisches  Em- 
pfinden, das  so  blumenduftig  anmutet  und  doch  an  das 
Bild  erinnert,  auf  dem  unter  dem  berauschenden  Blüten- 
duft üppiger  Vegetation  die  giftgeschwollene  Schlange 
auf  ihre  Beute  lauert.  Liebe  ist  so  oft  nichts  als 
Eigenliebe ;  sie  ist  es  stets,  wenn  sie  von  einer  starken 
Sinnlichkeit  diktiert  ist,  denn  sie  ist  dann  weiter  nichts, 
als  das  heiße  Verlangen,  eine  Person,  die  das  leb- 
hafteste Wohlgefallen  erregt  hat,  zu  besitzen,  an  ihr 
die  sexuellen  Begierden  zu  befriedigen.  Es  ist  der 
letzte  Zweck  also  dem  vergleichbar,  den  der  Fein- 
schmecker einer  Lieblingsspeise  gegenüber  empfindet, 
die  er  leidenschaftlich  begeht,  um  an  ihr  seine  sinn- 
liche Begierde,  die  nicht  Hunger  ist,  sondern,  wenn 
man  so  sagen  will,  ein  idealisiertes  Nahrungsbedürf- 
nis, zu  befriedigen.  Man  wird  diese  Vorliebe  für  ein 
bestimmtes  Gericht  nicht  allzu  poetisch  nennen  dürfen ; 
man  wird  aber  auch  bei  der  Liebe  eines  stark  sinn- 
lich veranlagten  Menschen  nicht  alles  Poesie  nennen 
dürfen,  was  nach  dem  Maßstabe  einer  Backfischseele 
von  weitem  wie  Poesie  aussieht.  Wie  bald  ist  dann 
auch    eine    solche    leidenschaftliche  Liebe  verflogen? 


—    211     — 

Sie  erhält  sich  und  wächst  ständig  bis  zu  übernatürlicher 
Gewalt,  so  lange  sie  auf  Widerstand  stößt,  so  lange 
ihre  Befriedigung  unmöglich  gemacht  wird.  Auch 
darin  ist  der  stark  prosaische  Vergleich  mit  dem  Ver- 
langen des  Feinschmeckers  durchaus  zutreffend,  denn 
auch  dieses  Verlangen  steigert  sich  bis  ins  Uferlose, 
so  lange  es  die  begehrte  Befriedigung  nicht  findet. 
Ist  dies  aber  geschehen,  dann  kann  der  gehabte  Ge- 
nuß wohl  eine  Weile,  vielleicht  sogar  eine  ganze  Zeit 
—  das  ist  ungeheuer  individuell  —  in  der  Erinnerung 
ein  gewisses  Wohlbehagen  erwecken;  aber  der  Ge- 
nuß ist  doch  stets  das  sicherste  Heilmittel  der  Be- 
gierde, wobei  es  ganz  dahingestellt  bleiben  mag,  wie 
lange  dieses  Heilmittel  in  seiner  Wirkung  vorhält. 
Recidive  sind  ja  auch  bei  andern  abnormen  Erschei- 
nungen, gegen  die  man  Heilmittel  anzuwenden  pflegt, 
nicht  selten.  Erwacht  die  Begierde  wieder,  so  ist  sie 
durchaus  nicht  notwendig  stets  auf  denselben  Gegen- 
stand gerichtet,  weder  beim  Feinschmecker,  noch  in 
der  Liebe,  und  es  wiederholt  sich  lediglich  dieselbe 
Geschichte  mit  demselben  Verlauf.  Das  mag  vielleicht 
verletzend  realistisch  erscheinen;  aber  das  Realistische 
verletzt  ja  stets  da,  wo  wir  glaubten,  poetischen  Idea- 
lismus zu  finden,  und  das,  wogegen  sich  das  bessere 
Empfinden  so  energisch  sträubt,  ist  deshalb  nicht 
minder  richtig  und  zutreffend. 

Dem  wesentlich  Analogen  zwischen  den  einzelnen 
Trieben  wie  dem  sexuellen  Triebe  —  ich  will  ihn  hier 
nicht  Liebe  nennen  —  einerseits  und  dem  Hunger, 
dem  Durste,  der  Müdigkeit  usw.  andererseits,  stehen 
allerdings  auch  wesentliche  Divergenzen  entgegen. 
Das  Analoge  ist,  daß  dem  Triebe  von  Natur  das  Be- 

14' 


—     212     — 

dürfnis  nach  Befriedigung  innewohnt,  daß  die  Befrie- 
digung dem  Triebe  ein  Ende  macht,  bis  die  physio- 
logischen Grundbedingungen,  aus  denen  in  letzter 
Linie  die  Naturtriebe  hervorgehen,  sie  von  neuem  er- 
wachen lassen.  Ich  stelle  hier  tatsächlich  die  physio- 
logischen Grundbedingungen  erheblich  über  die  psy- 
chischen, und  glaube,  damit  der  Erkenntnis  weit 
sicherer  nahezukommen  als  auf  dem  umgekehrten 
Wege,  der  trotzdem  in  der  Regel  selbst  da  einge- 
schlagen wird,  wo  das  Streben  nach  realistischer  Wahr- 
heit deutlich  erkennbar  ist.  Das  psychische  Moment 
tritt  zu  dem  physiologischen  nur  hinzu.  Anima  und 
Soma.  Das  psychische  Moment  ist  dabei  weit  kom- 
plizierter, weit  weniger  analysierbar  und  vor  allen 
Dingen  weit  individueller.  Alle  die  großen  Rätsel  und 
Probleme,  die  uns  auf  Schritt  und  Tritt,  sofern  wir 
nur  gelernt  haben,  um  uns  zu  schauen,  aufstoßen,  sind 
nur  zum  sehr  geringen  Teile  auf  physische  Anomalien 
—  hier  eigentlich  ein  schauderhaft  unpassender  Aus- 
druck —  zurückzuführen,  sondern  unendlich  überwie- 
gend auf  psychische  Eigenartigkeiten  des  Individuums. 
Man  hat  nun  bereits  wiederholt  die  Theorie  aufge- 
stellt, daß  rein  körperliche  Eigentümlichkeiten  sichere 
Schlüsse  auf  die  Charakterveranlagung  gestalteten. 
Man  könnte  aber  dabei  sehr  wohl  sagen,  daß  nicht 
etwa  das  sinnlich  wahrnehmbare  körperliche  Symp- 
tom diese  besondere  Charakterveranlagung  hervorrufe, 
sondern  daß  es  erst  eine  Folge  dieser  sei,  daß  also 
das  Seelische  dem  Körper  ein  bestimmtes  Gepräge 
verleihe,  nicht  umgekehrt  die  Körperbeschaffenheit  den 
Charakter  beeinflusse.  Das  wäre  dann  natürlich  ein 
Drehen  im  Kreise  und  ein  Jongleurspiel  mit  Begriffen. 


—     213     — 

Für  unseren  Fall  kommt  es  aber  auf  derartige 
Grübeleien  garnicht  an,  denn  hier  ist  es  nicht  zu 
leugnen,  daß  alles  das,  was  unser  Liebesleben  zu 
einem  Thema  allgemeinster  Erörterungen  macht,  in 
erster  Linie  auf  den  sexuellen  Trieb  zurückzuführen 
ist  Die  Begierde  nach  Sinnengenuß  ist  es,  die  zu- 
nächst nach  Betätigung  oder  meinetwegen  nach  Be- 
friedigung verlangt,  und  die  immer  und  immer  wieder 
die  höchsten  Wonnen  verschafft,  aber  auch  in  so 
furchtbarer  Tragik  Glück  und  Existenzen  vernichtet. 
Der  .Wahn  ist  kurz,  die  Reue  lang!  Was  paßte  besser 
auf  die  Mehrzahl  jener  Romane,  die  die  Chronique 
skandaleuse  anfüllen? 

Die  Lust  zum  Fabulieren  ist  jedem  Sterblichen 
in  die  Seele  gelegt,  nicht  in  so  hohem  Maße  wie  dem 
Altmeister  Goethe  und  nicht  in  dem  Sinne,  daß  etwa 
Lust  und  Fähigkeit  für  identisch  gehalten  werden 
dürften.  Nicht  nur  die  Kulturvölker,  sondern  auch 
diejenigen,  die  wir  mit  ziemlicher  Selbstüberhebung 
als  „Wilde"  bezeichnen,  sind  von  dieser  Lust  beseelt. 
Auch  die  Religionslehren  aller  Völker  —  Ausnahmen, 
die  sonst  die  Regel  bestätigen,  möchte  ich  hierin  nicht 
einmal  gelten  lassen  —  zeigt  diesen  Hang  und  zu- 
gleich den  Hang  zum  Idealisieren.  Der  letztere  ist 
sehr  beachtenswert;  er  ist  nur  scheinbar  bei  den  Kultur- 
völkern größer  als  bei  den  von  Europas  übertünchter 
Höflichkeit  noch  nicht  angekränkelten  Stämmen,  von 
denen  Seume  deshalb  seinen  Canadier  sagen  läßt,  daß 
die  Wilden  doch  bessere  Menschen  seien.  Der  Hang 
zum  Fabulieren  und  Idealisieren  tritt  nur  je  nach  der 
Kulturstufe  anders  in  die  Erscheinung.  Gerade  für  das 
Liebesleben  der  einzelnen  Völker  ist  das  ungeheuer 


—    214     — 

wichtig,  weil  der  Forscher,  der  stets  in  erster  Linie  auf 
die  äußeren  Erscheinungen  angewiesen  ist,  zu  ganz 
falschen  Schlüssen  gelangen  muß,  wenn  er  diese  Er- 
scheinungen nicht  zu  deuten  weiß,  weil  er  den  Kern 
nach  der  Schale  beurteilt. 

Im  Liebesleben  ist  die  Lust  zum  Fabulieren  und 
besonders  zum  Idealisieren  außerordentlich  kräftig  aus- 
geprägt, so  stark,  daß  nicht  nur  der  unbeteiligte  Be- 
obachter ständig  getäuscht  wird,  sondern  daß  sich  auch 
die  unmittelbar  Beteiligten  selbst  in  eine  Täuschung 
hineinleben,  die  man  wohl  als  ein  geistiges  Labyrinth 
bezeichnen  darf.  Was  wird  an  dem  Worte  Liebe  allein 
schon  herumidealisiert!  Es  ist  doch  fast  humoristisch, 
wenn  man  die  bramabarsierenden  Kommentare  eines 
Begriffs  über  sich  ergehen  lassen  muß,  der  unendlich 
oft  allein  durch  das  alte  „lucus  a  non  lucendo"  ge- 
rechtfertigt werden  könnte.  Der  sinnliche  Trieb,  der 
in  der  Regel  das  einzige  wirklich  vorhandene  Moment 
ist,  das  zwei  Leute  zusammenführt,  wird  in  der  geisti- 
gen Knetmaschine  so  lange  bearbeitet,  bis  ihn  nie- 
mand mehr  zu  erkennen  vermag,  und  selbst  die,  die 
es  in  letzter  Linie  allein  angeht,  von  tiefster  Hochach- 
tung vor  der  Reinheit  und  Tiefe  ihres  „edelsten  Em- 
pfindens" erfüllt  sind.  Es  wäre  unsagbar  komisch 
dieses  Versteckenspielen  ä  la  Vogel  Strauß,  wenn  es 
nicht  so  jammervoll  betrübend  wäre,  wie  dies  wohl 
eigentlich  jede  Selbsttäuschung  ist,  die  auf  dem  unge- 
sunden  Boden   der  Phrase  lustig  wuchert. 

Das  ist  es  aber,  was  einen  wesentlichen  Unter- 
schied zwischen  dem  sexuellen  Triebe  und  anderen 
Naturtrieben  ausmacht.  Bei  den  anderen  fabuliert  und 
idealisiert   man   weniger  oder   überhaupt   nicht;   man 


—    215    — 

gibt  sich  keinen  Täuschungen  über  die  Natur  des 
eigenen  Bedürfnisses  und  Empfindens  hin  und  sucht 
auch  andere  nicht  zu  täuschen.  Wer  Hunger  hat, 
der  hält  es  nicht  für  notwendig,  eine  poetische  und 
auf  Edelmut  gestimmte  Hymne  zu  singen;  wer  müde 
ist,  der  sagt  dies  sich  und  anderen  ohne  Schönfärberei 
usw.  Diese  anderen  Triebe  dienen  zur  Erhaltung  des 
Individuums,  der  sexuelle  Trieb  dient  der  Erhaltung 
der  Art;  er  will  ihr  wenigstens  dienen,  dient  aber 
in  Wirklichkeit  sehr,  sehr  oft  nur  dem  individuellen 
Vergnügen.  Schon  hieraus  muß  die  Lust  zum  Fabu- 
lieren   resultieren. 

Ein  noch  viel  wesentlicherer  Unterschied  liegt  aber 
in  den  Moral-  und  Sittlichkeitsanschauungen,  die  be- 
kanntlich nicht  überall  die  gleichen  sind,  und  die  auch 
am  gleichen  Orte  doch  mit  den  Zeiten  wechseln.  Wir 
leben  nun  einmal  in  der  traditionellen  Anschauung, 
daß  alles,  was  auf  das  sexuelle  Gebiet  im  engeren 
Sinne  gehört,  als  unsittlich  zu  betrachten  sei  oder  doch, 
ohne  unsittlich  zu  sein,  das  Schamgefühl  verletze.  Der 
Tausend,  da  kann  es  ohne  Fabulieren,  ohne  Ideali- 
sieren, aber  auch  ohne  Kontradiktionen  nicht  ab- 
gehen. Mit  Recht  nennen  wir  die  Mutterschaft  etwas 
Heiliges.  Das  Mysterium  der  Menschen  werdung  ist 
das  höchste  und  heiligste  Naturwunder,  denn  die  Häu- 
figkeit eines  Wunders  lehrt  uns  doch  nur,  das  Wunder 
als  etwas  Alltägliches,  nicht  mehr  als  ein  Wunder  an- 
staunen, hebt  aber  das  Wunder  als  solches  deshalb 
für  den  denkenden  Menschen  —  mag  dieser  auch  so 
selten  vorkommen,  wie  das  Wunder  häufig  auftritt  — 
nicht  auf.  So  sind  wir  also  schon  in  dem  prinzipiellen 
Widerspruch   verfallen,    daß   die   Mutterschaft    etwas 


—    216 


Heiliges,  alles,  was  sie  verursacht,  aber  etwas  Un- 
sittliches, oder  mindestens  doch  etwas,  ohne  unsitt- 
lich zu  sein,  Schamverletzendes  sei.  Der  Unterschied 
ist  dabei  nur  in  der  Form  der  stattgehabten  oder  unter- 
bliebenen Eheschließung  begründet.  Ich  will  mich 
hier,  um  nicht  allzuweit  vom  Wege  abzuirren,  an 
dieser  Stelle  nicht  auf  eine  Kritik,  ob  dieser  Wider- 
spruch notwendig  oder  auch  nur  nützlich  ist,  ein- 
lassen; er  besteht  und  ist  eigentlich  die  Kehrseite  der 
Medaille:   „Zweck   heiligt  das  Mittel!" 

So  hat  die  —  ich  will  es  zugeben  —  unter  den 
obwaltenden  Zuständen  notwendige  Lust  zum  Fabu- 
lieren das  eigentlich  recht  alberne  Märchen  vom 
Klapperstorch  geschaffen  und  damit  bewirkt,  daß  in 
der  Großstadt  die  Kinder  —  II  n'y  a  plus  d'enfants, 
überhaupt  nicht  mehr  recht  daran  glauben  wollen, 
daß  es  wirklich  Störche  gibt.  Ob  dieses  Märchen  die 
Wahrheitsliebe  der  Kinder  besonders  kräftigt,  ob  es 
das  Ansehen  der  Eltern  bei  ihren  Kindern  hebt,  wenn 
diese  wissen,  daß  ihre  Eltern  ihnen  mit  handgreiflichen 
Lügen  aufwarten  müssen,  um  sich  —  die  kindliche 
Phantasie  arbeitet  äußerst  lebhaft  —  wenigstens  for- 
mell zu  den  anständigen  Menschen  rechnen  zu  dürfen, 
das  sind  Fragen,  die  wohl  auch  der  Erörterung  wert 
sind,  zumal  es  eine  pädagogische  Weisheit  ist,  den 
Kindern  zu  sagen,  daß  von  allen  Lastern  die  Lüge  das 
größte  sei.  Wir  belügen  unsere  Kinder;  wir  tun  es 
mit  dem  Bewußtsein,  daß  sie  wissen,  es  sei  eine  Lüge, 
die  wir  ihnen  kaltlächelnd  servieren,  und  wir  haben 
dennoch  den  Mut,  sie  zu  bestrafen,  wenn  auch  sie 
uns  gegenüber  den  Pfad  der  Tugend  verlassen  und 
uns  eine  Unwahrheit  sagen.  Das  ist  eine  sehr  schlimme, 


—     217     — 

eine  sehr  peinliche  Tatsache,  die  eingehend  zu  er- 
wägen, kein  Mensch  sich  ersparen  dürfte,  dem  es 
mit  der  Erziehung  seiner  Kinder  ernst  ist.  Man  hat 
das  wohl  eingesehen  und  sucht  durch  die  sexuelle 
Aufklärung  dem  Übel  zu  steuern.  Es  ist  dies  aber, 
wie  der  Jurist  sagt,  ein  Versuch  mit  untauglichen 
Mitteln,  der  so  wenig  zum  Ziele  führen  wird,  als 
wollte  ein  Baumeister  das  Haus  beim  Dache  anfangen, 
statt  beim  Fundament.  Nein,  die  sexuelle  Aufklärung 
ist  wohl  insofern  wertvoll,  als  sie  verhüten  kann,  daß 
unwissende  Mädchen  mehr  das  Opfer  ihrer  Dummheit 
und  Unerfahrenheit  als  das  ihrer  Lüste  werden  — 
ich  gebe  auch  zu,  daß  dies  wertvoll  ist  — ;  aber  daß 
die  allgemeine  Moral  gehoben  werden  könnte  durch 
die  sexuelle  Aufklärung,  besonders  die,  die  für  Schulen 
usw.  geplant  ist,  das  halte  ich  für  absolut  ausge- 
schlossen. Lehrt  doch  die  tägliche  Erfahrung,  daß 
„sexuelle  Aufklärung"  nicht  vor  den  schwersten  Ex- 
zessen in  ludo  Veneris  schützt.  Es  fehlt  den 
liederlichsten  Männern  und  Weibern  ganz  gewiß  nicht 
an  „sexueller  Aufklärung";  sie  sind  vielmehr  „alle 
Schulen  durch",  und  das  Resultat?  Ich  hülle  mich 
in  Schweigen,  möchte  aber,  obwohl  ich  mir  nicht  an- 
maße, ein  Prophet  zu  sein,  der  sicheren  —  Vermu- 
tung Ausdruck  geben,  daß  die  sexuelle  Aufklärung 
in  den  Schulen  für  die  öffentliche  Sittlichkeit  nicht 
günstiger  wirken  wird  als  die  sexuelle  Aufklärung,  die 
leider  den  jugendlichen  Geschöpfen  noch  immer  im 
Beichtstuhl  geboten  wird. 

So  lange  man  über  sexuelle  Dinge  in  der  Öffent- 
lichkeit den  geheimnisvollen  Schleier  wie  über  das 
Bild  zu  Sais  breitet,  Märchen  erzählt  und  das  Heiligste 


—    218     — 

mit  dem  Gemeinsten  in  einen  Topf  wirft  und  ge- 
radezu durch  dicke  Bretter  die  Erkenntnis  dessen,  was 
auf  sexuellem  Gebiete  gut  und  böse  ist,  abzuschließen 
bemüht  ist;  so  lange  man  heuchlersich  sich  den  An- 
schein gibt,  als  entrüste  man  sich  moralisch  über  die 
natürlichsten  und  berechtigsten  Dinge,  während  man 
die  pikanten  zotigen  Abenteuer  eines  Wüstlings  mit 
breitem  Behagen  und  innigstem  Vergnügen  erzählen 
hört,  so  lange  man  über  die  Mysterien  der  Liebe  ge- 
heimnisvoll lächelt,  über  das  wirklich  Gemeine  den 
Mantel  der  Duldsamkeit  und  den  idealisierenden 
Glorienschein  echter  Liebe  zu  breiten  sucht,  dagegen 
selbst  ganz  harmlose  und  wohlgemeinste  Ausführungen 
in  Büchern  als  Sittlichkeitsdelikte  mit  bewunderns- 
werter Interpretationskunst  zu  brandmarken  sucht,  so 
lange  wird  die  sexuelle  Aufklärung  viel  mehr  schaden 
als  nützen.  Man  sollte  auch  hier  beim  Fundament 
und  nicht  beim   Dache  beginnen. 

Betrachten  wir  also  die  Sache  so  objektiv,  wie 
sie  sich  überhaupt  von  uns  Menschen,  die  wir  doch 
alle  auf  diesem  Gebiete  Partei  sind,  betrachten  läßt, 
d.  h.  geben  wir  dem  Sinnlichen,  was  des  Sinnlichen 
ist,  und  dem  Psychischen,  was  dessen  ist.  Nur  so 
läßt  sich  das  Liebesleben,  und  besonders  das  orienta- 
lische, prüfen  und  verstehen.  Ich  habe  nun  schon 
gesagt,  daß  gerade  im  Zauberlande  des  Morgens  die 
schroffsten  Gegensätze  sich  berühren.  Diese  schroff- 
sten Gegensätze  sind  aber  sehr  oft  nur  scheinbare 
Gegensätze,  wie  Körper  und  Geist  eigentlich  an  sich 
Gegensätze  sind  und  doch  in  uns  eine  Einheit  bilden, 
mag  auch  der  Geist  willig,  das  Fleisch  aber  schwach 
sein.    Wir  können   nicht  Geist  und   Körper  trennen, 


—    219    — 

wenn  wir  eine  konkrete  Handlung  bewerten  sollen; 
d.  h.  wir  können  nicht  sagen,  der  Geist  des  N.  war 
willig  und  gut,  aber  sein  Fleisch  war  schwach,  und 
deshalb  ist  eine  Handlung  entstanden,  die  uns  sehr 
mißfällt;  sondern  wir  werden  stets  sagen,  das,  was 
N.  getan  hat,  war  verdammenswert.  N.  ist  die  Person, 
an  die  wir  uns  halten  für  alles,  was  diese  Person 
tut.  Anders  liegt  die  Sache  aber,  wenn  wir  eine  Tat 
prüfen  und  erklären  wollen;  dabei  werden  wir  nicht 
bloß  mit  der  nackten  Tatsache  rechnen  dürfen,  daß 
etwas  geschehen  ist,  was  uns  nicht  behagt,  sondern 
wir  werden  auch  zu  prüfen  haben,  warum  die  Tat 
begangen  wurde,  welche  Motive  für  den  Täter  vor- 
lagen, und  ob  es  etwa  nur  ein  Versagen  der  Hem- 
mungsenergie war,  die  ihn  einer  augenblicklichen  Re- 
gung oder  Begierde  erliegen  ließ.  Es  wäre  zu  wün- 
schen, daß  auch  die  Gerichte  etwas  weniger  nach  der 
toten  Schablone  und  etwas  mehr  nach  dem  soge- 
nannten psychologischen  Moment  urteilten.  Wenn's 
auch  bedeutend  schwieriger  ist,  so  bietet  es  doch  die 
einzige  Möglichkeit,  daß  die  irdische  Gerechtigkeit 
Garantien,  wirklich  eine  Gerechtigkeit  zu  sein,  geben 
kann. 

Das  orientalische  Liebesleben  zeigt  nun  als  schroffe 
Gegensätze  auf  der  einen  Seite  die  brutalste  Sinn- 
lichkeit, auf  der  anderen  den  zartesten  poetischen 
Duft.  Der  Orientale  kann  in  einer  einzigen  Person 
der  Asra  sein,  der  stirbt,  wenn  er  liebt,  d.  h.  vergeb- 
lich liebt,  und  der  wilde  Tiger,  der  sein  Opfer  zer- 
fleischt. Ich  wiederhole,  das  ist  nur  ein  scheinbarer 
Gegensatz,  denn  die  Grundbedingungen  für  beide  Ex- 
treme liegen  in  seiner  Natur.   Schlummern  doch  Haß 


—    220     — 

und  Liebe  in  nächster  Nachbarschaft  im  Menschen- 
herzen, wie  viel  inniger  sind  erst  die  Liebe  und  die 
sexuelle  Begierde  gepaart,  die  doch  so  oft  überhaupt 
nur  eine  einzige  Empfindung  sind,  über  die  man  sich 
selbst  täuscht,  weil  man  gewohnt  ist,  sie  zu  ideali- 
sieren. Sexuelle  Begierde,  die  beim  Anblick  des  be- 
gehrten Individuums  das  Herz  stocken  läßt,  die  plötz- 
liche Röte  der  Erregung  auf  die  Wangen  zaubert 
und  den  Atem  hemmt,  die  erscheint  uns  so  viel 
wunderbarer  und  herrlicher,  wenn  wir  sie  im  Strahlen- 
glanze einer  idealen  Liebe  erblicken,  als  wenn  wir 
uns  sagen;  es  ist  nur  eine  Begierde,  nicht  viel  von 
der  unterschieden,  die  auch  das  Tier  empfindet,  wenn 
es  zur  Paarung  den  Genossen  lockt. 

Es  ist  nun  sehr  wohl  zu  unterscheiden,  ob  der 
sexuelle  Trieb  ganz  allgemein  vorhanden  ist,  also  auf 
irgend  ein  beliebiges,  gleichviel  welches,  Individuum 
des  anderen  Geschlechts  gerichtet  ist,  was  ganz  un- 
geheuer häufig  der  Fall  ist,  oder  ob  er  einem  allein 
bestimmten  Individuum  gilt.  Nur  im  letzteren  Falle 
kann  man  das  Wort  Liebe  allenfalls  noch  gelten  lassen. 
Nehmen  wir  also  den  letzteren  Fall  hier  an. 

Es  kann  nun  keinem  Zweifel  unterliegen,  daß 
gerade  im  orientalischen  Liebesleben,  mögen  dort,  wie 
dies  wohl  auch  anderwärts  nicht  so  überaus  selten  vor- 
kommt, die  Ehen  sehr  oft  geschlossen  worden  sein 
oder  auch  noch  geschlossen  werden,  ohne  daß  die 
jungen  Leute,  die  ihr  Schicksal  für  immer  aneinander 
ketten  sollen,  sich  auch  nur  jemals  gesehen  hatten. 
Das  wirkliche  Liebesleben  ist  nicht  an  die  Ehe  ge- 
bunden, die  auch  im  besten  Falle  nur  die  Konsequenz 
der  Liebe  ist.    Es  hat  zu  allen  Zeiten  der  göttliche 


—     221     — 

Funke,  wie  man  es  in  der  Lust  zum  Idealisieren  so 
gern  nennt,  die  Herzen  der  Menschen  getroffen;  erst 
recht  im  Orient,  wo  es  viel  leichter  war,  ein  Mäd- 
chen, nach  dem  das  Herz  verlangte,  zu  gewinnen, 
selbst  dann  noch,  wenn  der  Liebende  bereits  in  Ehe- 
fesseln schmachtete.  Hat  es  doch  zu  allen  Zeiten 
Männer  gegeben,  die  sich  sterblich  auch  in  solche 
weibliche  Wesen  verliebten,  die  ihnen  nicht  leicht  oder 
überhaupt  nicht  erreichbar  waren.  Gerade  dann  pflegt 
die  Glut  der  Liebe  bis  zur  Raserei  sich  zu  steigern, 
und  es  ist  eigentlich  sehr  naheliegend,  daß  der  hoff- 
nungslos Liebende  sich  nach  Mitteln  umsieht,  mit 
deren  Hilfe  er  doch  noch  sein  Ziel  zu  erreichen 
trachtet,  so  daß  er  eigentlich  in  letzter  Linie  faktisch 
nicht  hoffnungslos  ist. 

Da  ist  man  denn  auf  ein  recht  sonderbares  Mittel 
verfallen.  Man  hat  sich  sehr  einfach  von  der  Person, 
die  man  begehrte,  ein  Bild  verschafft  und  glaubte, 
durch  dieses  Bild  auf  die  Person,  die  es  darstellen 
sollte,  direkt  einwirken  zu  können.  Nun  wird  es  aller- 
dings wohl  mit  der  Porträtähnlichkeit,  an  die  wir 
bei  der  heutigen  Technik  der  Photographie  die  weitest- 
gehenden Ansprüche  zu  stellen  gewohnt  sind,  nicht 
weit  hergewesen  sein.  Man  schuf  sich  ein  Gebilde, 
in  dem  wohl  nur  die  ausschweifendste  Phantasie  eine 
Ähnlichkeit  mit  dem  Original  zu  erkennen  vermochte; 
aber  das  hinderte  nicht,  daß  man  felsenfest  davon  über- 
zeugt war,  alle  die  Bezeugungen  von  Haß  oder  Liebe, 
die  man  diesem  Gebilde  angedeihen  ließ,  müßte  die 
Person  direkt  empfinden.  Wenn  man  sich  vorstellt, 
daß  man  im  Altertum  in  einem  Bilde  nicht  bloß  ein 
Stück    Papier   sah,   auf   das   durch    Kunst   eine    Dar- 


—     222     — 

Stellung  gemalt  oder  gezeichnet  oder  auf  sonst  eine 
Methode  übertragen  ist,  also  auf  alle  Fälle  nur  ein 
lebloses  Machwerk,  sondern  daß  man  wirklich  glaubte, 
das  Bild  sei  ein  etwas  der  dargestellten  Person  selbst, 
dann  ist  schon  die  Idee,  daß  es  möglich  sein  müsse, 
durch  dieses  Bild  die  Person  zu  beeinflussen  —  sei 
es  in  gutem  oder  bösem  Sinne  — ,  ziemlich  naheliegend. 
Für  den  heutigen  Kulturmenschen  erscheint  es 
so  selbstverständlich,  die  Züge  jeder  beliebigen  Person 
im  Bilde  wiederzugeben,  daß  man  sich  wohl  selten 
die  Mühe  gibt,  darüber  nachzudenken,  ob  dies  wohl 
zu  allen  Zeiten  und  für  alle  Völker  ebenso  gewesen 
sei.  Das  ist  es  nun  allerdings  auf  keinen  Fall.  Man 
hat  über  die  Erfindung  der  Malerei  verschiedene  Er- 
klärungen und  nimmt  an,  das  erste  Bild  eines  Men- 
schen sei  dadurch  entstanden,  daß  ein  besonders  fin- 
diger Kopf  auf  den  Gedanken  gekommen  sei,  die  Um- 
risse eines  Schattenbildes  nachzuziehen,  so  daß,  wenn 
der  Schatten  verschwunden  war,  die  Umrisse  des 
Bildes  doch  noch  auf  der  Erde  oder  an  der  Wand 
vorhanden  gewesen  seien.  Das  soll  das  erste  Porträt 
gewesen  sein,  das  dann  allerdings  eine  gewisse  Ähn- 
lichkeit gehabt  haben  könnte,  freilich  noch  nicht  ein- 
mal ganz  die  unserer  Silhouetten.  Es  würde  durch 
diese  Entstehungsgeschichte  der  Bilderkunst  wohl  auch 
der  alte  Glaube,  daß  das  Bild  wirklich  ein  Stück 
Person  sei,  erklärt  werden  können.  Chamisso  hat  in 
seinem  „Peter  Schlemihl"  diese  Schattenidee  trefflich 
verwertet.  Es  besteht  deshalb  heute  noch  bei  vielen 
Völkern  eine  starke  Scheu,  sich  abbilden  zu  lassen, 
und  wir  finden,  daß  sogar  der  religiöse  Kult  dieses 
Abbilden  von  Personen  verbietet. 


—     223     — 

Der  religiöse  Kult  ist  übrigens  im  allgemeinen 
wohl  als  die  Quelle  des  Bilderaberglaubens,  denn 
anders  darf  man  den  Bilderzauber  wohl  nicht  nennen, 
anzusehen.  Schon  im  hohen  Altertum  begnügte  sich 
die  Menschheit  nicht  damit,  sich  nach  Bedarf  ihre 
Götter  zu  schaffen.  Ich  habe  schon  wiederholt  darauf 
hingewiesen,  daß  dies  eine  instinktive  Notwendigkeit 
war.  Es  wurden  vielmehr  den  Göttern,  die  man  sich 
ganz  mit  menschlichen  Eigenschaften,  menschlichen 
Leidenschaften  und  Schwächen  vorstellte,  schließlich 
auch  menschliche  Körper  angedichtet,  weil  der  Men- 
schen-Verstand eine  rein  geistige  Gottheit  sich  nicht 
vorzustellen  vermochte  und  sie  wohl  auch  niemals 
ganz  begreifen  wird.  Daß  die  Körperlichkeit  der  Gott- 
heit deren  Unendlichkeit  in  Raum  und  Zeit  ohne 
weiteres  widersprechen  muß,  das  störte  die  Gläubigen 
nicht  und  stört  sie  auch  bei  den  kultiviertesten  Völkern 
nicht,  weil  der  Glaube  Sache  des  Gefühls  und  Em- 
pfindens, nicht  aber  eine  Frucht  des  philosophischen 
Grübelns  ist,  und  das  philosophierende  Grübeln  über 
den  Glauben  nur  einer  sehr  geringen  Anzahl  von 
Menschen  geläufig  oder  auch  nur  möglich  ist.  „Credo, 
quia  absurdum."  Die  Bilder,  die  sich  die  alten  Völker 
von  ihren  Göttern  schufen,  waren  in  ihren  Augen 
nicht  mehr  leblose  Bildwerke,  sondern  wirklich  die 
lebendigen  Götter  selbst,  zu  denen  man  betete,  und 
denen  man  opferte.  Wer  ein  solches  Bildwerk  be- 
schädigte, hatte  nicht  gegen  eine  von  Menschenhand 
gefertigte  Sache  ein  Verbrechen  begangen,  sondern 
die  Gottheit  selbst  angegriffen  und  mußte  des  Todes 
sterben.  Wieder  zeigt  sich  hier,  daß  der  blinde  Glaube 
oder,  wenn  man  es  richtiger  bezeichnen  will,  Aber- 


—     224     — 

glaube  das  logische  Denken  ausschaltet.  Man  flehte 
die  allmächtigen  Götter  bei  jedem  Vorhaben  um  ihren 
Beistand  an,  glaubte  sogar,  daß  nur  diese  im  Kriege 
den  Sieg  verleihen  könnten,  und  doch  fand  man  es 
begreiflich  und  selbstverständlich,  daß  diese  allmäch- 
tigen Götter  nicht  sich  gegen  das  erbärmlichste  Sub- 
jekt selbst  verteidigen  oder  den,  der  ihr  Bild,  alias 
sie  selbst,  zerstört  hatte,  strafen  könnten.  Kein  Wunder, 
wenn  zwei  Auguren,  die  sich  auf  der  Straße  be- 
gegneten, sich  verstohlen  aber  verständnisinnig  anzu- 
lächeln pflegten,  wie  alle  Leute,  die  „die  große  Masse" 
in  ihrer  Dummheit  bestärken,  diese  ausnützen  und 
sich  wohl  dabei  fühlen. 

Völker,  die  ihre  Gottheiten  in  Weltkörpern  z.  B. 
der  Sonne  erblickten  und  darin  insofern  auch  eine 
berechtigte  Idee  verfolgten,  weil  die  Sonne  als  Licht 
und  Wärme  spendender  Faktor  in  der  Tat  eine  leben- 
erweckende und  schöpferische  Einwirkung  ausübt,  oder 
die  Feuer,  Wasser  usw.  anbeteten,  hatten  es  aller- 
dings nicht  nötig,  sich  ihre  Gottheiten  mit  mensch- 
lichen Körpern  vorzustellen,  weil  für  sie  das,  was  sie 
verehrten,  schon  sinnlich  wahrnehmbar  vorhanden 
war.  Dennoch  ist  der  Gedanke,  auch  solche  Dinge 
gewissermaßen  durch  Inkarnation  der  Vorstellungs- 
kraft noch  näher  zu  bringen,  damit  man  sie  sich  auch 
als  bewußt  wollende  Persönlichkeiten  denken  konnte, 
überall  erkennbar  und  insofern  auch  verständlich.  Es 
ist  aber  nicht  zu  verkennen,  daß  auch  das  Altertum, 
besonders  das  orientalische,  das  zunächst  hier  für  uns 
allein  in  Frage  kommen  kann,  auch  schon  stellenweise 
reifer  und  reiner  dachte,  sich  die  Gottheiten  als  viel 
zu  groß  und   erhaben  für  eine  bildliche  Darstellung 


—    225     — 

ausmalte  und  höchstens  symbolische  Abbildungen  und 
Gegenstände  duldete,  die  nicht  die  große  Gottheit  selbst 
darstellen  sollten,  also  auch  nicht  angebetet  werden 
durften,  sondern  nur  die  Erhabenheit  oder  fleckenlose 
Reinheit  des  höchsten  geistigen  Wesens  versinnbild- 
lichen konnten.  So  in  der  ältesten  Religion  der  Inder 
und  Perser,  so  in  der  Shintoreligion  in  Japan.  Auch 
die  Vorstellungen  des  weisen  Sokrates  von  einem 
allweisen  Urwesen  ließ  die  bildliche  Darstellung  nicht 
zu.  Wir  sehen  aber  auch  in  unserer  christlichen  Re- 
ligion, daß  eine  reine  und  klare  Vorstellung  in  reli- 
giösen Dingen  sich  niemals  lange  rein  und  klar  er- 
halten kann ;  stets  wird  Menschenwitz  selbst  über  gött- 
liche Offenbarungen  oder  über  das,  was  für  solche 
gehalten,  für  solche  erklärt  wird,  gesetzt,  das  reine 
religiöse  Empfinden,  das  niemals  an  eine  bestimmte 
Form,  an  bestimmte  Formeln  und  Sätze  gebunden 
sein  kann,  verkümmert  unter  dem  Drucke  reiner 
Äußerlichkeiten,  die  beobachtet,  paradoxer  Lehrsätze, 
die  als  unfehlbar  befolgt  und  nachgeplappert  werden 
sollen,  und  an  Stelle  der  dem  gläubigen  Herzen  un- 
mittelbar entspringenden  Andacht  haben  wir  die  — 
Idololatrie,  den  Götzendienst  oder  den  Bilderdienst. 
Die  Lust  zum  Fabulieren  offenbart  sich  in  allen  Reli- 
gionen. 

Ich  sage  „allen  Religionen"  und  meine  damit 
eigentlich  nur  alle  Religionslehren.  Es  gäbe  vielleicht 
nur  eine  Religion,  wenn  die  Dogmatik  nicht  mit  so 
regem  Eifer  alles  heraussuchte,  was  trennt,  sondern 
sich  die  gleiche  Mühe  gäbe,  zu  entdecken,  was  ver- 
eint. Die  vergleichende  Religionswissenschaft,  die 
Licht   und   Schatten   über   alle   Systeme   auszubreiten 

15 


—    226    — 

bemüht  ist  —  ich  will  nicht  sagen,  daß  ihr  das  schon 
in  allen  Punkten  gelungen  wäre  —  wird  vielleicht  er- 
sprießlicher wirken  und  feststellen,  daß  der  religiöse 
Grundgedanke  überall  der  gleiche  ist.  Die  soge- 
nannten religiösen  Urkunden,  die  von  den  verschie- 
densten Religionen  als  direkte  göttliche  Inspirationen 
betrachtet  und  gepriesen  werden,  ändern  hieran  nicht 
das  Mindeste,  denn  vor  dem  kritischen  Auge  der 
historischen  Forschung  fällt  der  geheimnisvolle  Nim- 
bus wie  die  Hülle  vom  Denkmal  bei  der  Einweihung. 
Es  bleibt  nur  der  religiöse  Grundgedanke,  der  allein 
wirkliche  Religion,  wenn  man  will,  wirkliche  Offen- 
barungsreligion ist.  Stets  ist  aber  eine  Verbindung 
zwischen  der  Magie  und  der  Religion  vorhanden,  ent- 
weder —  wenn  man  es  so  nennen  will,  —  eine  posi- 
tive oder  eine  negative,  d.  h.  entweder  gilt  die  Magie 
direkt  für  eine  religiöse  Handlung,  oder  sie  wird  als 
Teufelswerk  betrachtet;  es  gibt  danach  eine  weiße 
und  eine  schwarze  Magie,  je  nachdem  gute  oder  böse 
Geister  von  den  Magiern  um  ihre  gefl.  Mitwirkung 
ersucht  werden.  Der  Übergang  ist  nicht  immer  leicht 
zu  finden,  und  es  muß  berücksichtigt  werden,  daß  die 
guten  Götter  alter  Völker  von  eifrigen  Streitern  des 
Christentums  einfach  zu  bösen  Dämonen  degradiert 
wurden,  so  daß  je  nach  dem  Glaubensbekenntnis  des 
Beurteilers  dieselbe  Magie  die  Farbe  wechseln  und 
dieselbe  Metamorphose  durchmachen  kann,  zu  der 
man  den  Göttern  des  Altertums  verholfen  hat. 

Kehren  wir  ad  medias  res  dieses  Kapitels,  also 
zu  den  Bildnissen,  zurück,  so  dürfen  wir  wohl  sagen, 
daß  der  Glaube,  oder  wenn  man  es  richtiger  be- 
nennen will,  Aberglaube,  daß  das  Bild  einer  Person 


—    227     — 

schon  ein  Stück  dieser  Person  selbst  sei,  direkt  reli- 
giösen Ursprungs  ist,  weil  man  vergessen  hatte,  daß 
die  Bildwerke,  die  man  in  den  Tempeln  verehrte  und 
anbete,  nicht  wirklich  die  Gottheiten  selbst,  sondern 
nur  Gebilde  aus  Menschenhand  waren.  Man  hielt 
wirklich  die  Bildnisse  der  Götter  für  lebendige  Götter, 
und  die  Priester  solcher  Götzenbilder  waren  ebenso 
klug  wie  die  Auguren,  die  sich  verstohlen  anlächelten, 
wenn  sie  sich  begegneten.  Sie  unterhielten  das  gläu- 
bige Volk  in  seiner  Dummheit  und  taten  alles,  es  in 
dieser  Eigenschaft,  die  die  Götter  nicht  immer  ver- 
geblich bekämpfen  würden,  wenn  sie  nicht  außer  gegen 
die  Dummheit  auch  noch  gegen  den  Eigennutz  deren 
zu  kämpfen  hätten,  die  sich  von  der  Dummheit  der 
Menge  behaglich  mästen,  zu  belassen.  Die  Priester, 
die  als  Diener  ihrer  Götzen  auftraten,  dienten  in  Wirk- 
lichkeit sich  selbst  und  standen  sich  recht  gut  dabei. 
Selbst  die  Bibel,  die  gewiß  über  religiöse  Dinge  nicht 
spottet,  auch  sehr  wenig  Grund  hat,  über  Lug  und 
Trug  der  Priester  —  gleichviel  ob  heidnischer  —  ohne 
Grund  zu  spötteln,  liefert  eine  ganze  Anzahl  von  kür- 
zeren oder  längeren  Belegen  für  den  bewußten  Betrug 
von  Priestern.  Ich  will  hier  nur  das  Interessanteste 
etwas  eingehender  behandeln,  das  Buch  vom  Bei  zu 
Babel,  das  zwar  zu  den  Apokryphischen  Schriften  ge- 
hört, also  kein  Lehrbuch  im  eigentlichen  Sinne  ist,  aber 
historisch  gerade  deshalb  durchaus  als  viel  einwands- 
freier  für  die  gelten  darf,  die  nun  einmal  gegen  alle 
biblischen  Überlieferungen  ein  schier  unbegrenztes 
Mißtrauen   nicht  zu  überwinden   vermögen. 

Es  ist  da  erzählt,  daß  nach  dem  Todes  des  Königs 
Astyages  Babel  an  den  König  Cyrus  aus  Persien  ge- 

15« 


—    228    — 

fallen  sei,  und  daß  der  strenggläubige  Daniel  bei 
Cyrus  eine  sehr  geschätzte  Person  gewesen  wäre.  In 
Babel  wurde  der  Gott  Bei  verehrt  und  für  einen  gar 
mächtigen  und  gewaltigen  Gott  gehalten,  dessen  Bild- 
werk nicht  nur  von  den  Babyloniern,  sondern  auch 
von  Cyrus  selbst  mit  großer  Andacht  angebetet  wurde, 
eine  Frömmigkeit,  die  nicht  einmal  billig  war,  denn 
Bei  hatte  einen  vorzüglichen  Appetit;  es  mußten  ihm 
täglich  zwölf  Malter  Weizen,  vierzig  Schafe  und  drei 
Eimer  Wein  geopfert  werden.  Für  eine  Person,  selbst 
wenn  sie  eine  Gottheit  von  der  Größe  des  Bei  zu 
Babel  wäre,  ist  das  sicherlich  eine  sehr  reichliche 
Nahrung;  aber  die  70  Priester  des  Gottes,  die  mit 
ihren  Weibern  und  Kindern  schon  eine  kleine  Völker- 
schaft für  sich  bildeten,  schwuren  hoch  und  heilig, 
daß  der  unbewegliche  Bei  das  alles  wirklich  verzehre, 
und  das  war  es  gerade,  was  dem  guten  Cyrus  so 
gewaltig  imponierte.  Nun  erzählt  die  Bibel  ein  recht 
interessantes  Gespräch  zwischen  Cyrus  und  Daniel, 
das  ich  im  Wortlaut  wiedergebe:  „Und  der  König 
sprach  zu  ihm:  Warum  betest  du  nicht  auch  den 
Bei  an?  Er  aber  sprach:  Ich  diene  nicht  den  Götzen, 
die  mit  Händen  gemacht  sind,  sondern  dem  leben- 
digen Gotte,  der  Himmel  und  Erde  gemacht  hat,  und 
ein  Herr  ist  über  alles,  was  da  lebet.  Da  sprach  der 
König  zu  ihm:  Halst  du  denn  den  Bei  nicht  für  einen 
lebendigen  Gott?  Siehest  du  nicht,  wieviel  er  täglich 
isset  und  trinket?  Aber  Daniel  lachte  und  sprach: 
Herr  König,  laß  dich  nicht  verführen;  denn  dieser 
Bei  ist  inwendig  nichts  denn  Lehm  und  auswendig 
ehern,  und  hat  noch  nie  nichts  gegessen.  Da  ward 
der  König  zornig,  und  ließ  alle  seine  Priester  rufen, 


—    229    — 

und  sprach  zu  ihnen:  Werdet  ihr  mir  nicht  sagen, 
wer  dies  Opfer  verzehret,  so  müsset  ihr  sterben.  Könnet 
ihr  aber  beweisen,  daß  der  Bei  solches  verzehre,  so 
muß  Daniel  sterben,  denn  er  hat  den  Bei  gelästert. 
Und  Daniel  sprach:  Ja,  Herr  Konig,  es  geschehe  also, 
wie  du  geredet  hast." 

Daß  Cyrus  sehr  zornig  wurde,  das  kann  man 
ihm  eigentlich  nicht  verdenken.  Einen  felsenfesten 
und  unerschütterlichen  Glauben  scheint  er  nicht  be- 
sessen zu  haben,  denn  er  war  ja  ein  kluger  Mann, 
und  deshalb  mußten  wohl  sehr  leicht  Zweifel  in  seiner 
vielleicht  nicht  einmal  kindlich  reinen  Seele  aufsteigen. 
Nun  liegt  es  aber  in  der  Natur  des  Menschen,  daß 
er  nicht  gern  vor  sich  selbst  und  noch  viel  weniger 
gern  in  den  Augen  seiner  Mitmenschen  als  ein  leicht- 
gläubiger Narr  dastehen  will,  der  sich  in  der  plumpsten 
und  albernsten  Weise  übertölpeln  läßt.  War  der  Bei, 
was  doch  eigentlich  schon  der  Augenschein  lehrte, 
wirklich  nicht  lebendig,  sondern  innen  nichts  denn 
Lehm  und  außen  ehern,  dann  konnte  er  in  der  Tat 
nicht  jeden  Tag  eine  so  stattliche  Mahlzeit  zu  sich 
nehmen,  wie  sie  ihm  doch  gespendet  werden  mußte. 
Vielleicht  war  auch  dem  guten  Cyrus  schon  die  enorme 
Schüchternheit  aufgefallen,  die  es  dem  großen  Bei 
nicht  gestattete,  jemals  in  Gegenwart  von  Menschen 
etwas  von  den  dargebotenen  Schätzen  zu  berühren. 
Man  kann  es  dem  Cyrus  wirklich  nicht  verdenken, 
wenn  ihn  der  Gedanke,  er  könne  sehr  wohl  ein  ge- 
waltiger Schafskopf  gewesen  sein,  weil  er  nicht  merkte, 
was  doch  eigentlich  jeder  vernünftige  Mensch  auf  den 
ersten  Blick  erkennen  mußte,  zornig  stimmte.  Die 
Priester  aber  waren,  wie  sich  dies  für  richtige  und 


—    230    — 

würdige  Priester  eines  thönernen  Götzen  ziemt,  schlaue 
Füchse,  die  für  solche  Fälle  bestens  vorbereitet  waren 
und  glaubten,  sich  auf  ihren  Humbug  bestens  ver- 
lassen zu  können.  Da  Bei  natürlich  nicht  in  Gegen- 
wart Sterblicher,  auch  nicht  in  der  eines  Königs,  essen 
durfte,  war  es  ihnen  verhältnismäßig  leicht  gemacht, 
den  verlangten  Beweis  zu  liefern.  Sie  sagten  des- 
halb dem  König,  er  möge  selbst  die  Opfer  in  dem 
Tempel  niederlegen,  allein  in  dem  Räume  bleiben  und 
als  letzter  hinausgehen,  so  daß  er  sich  überzeugen 
könne,  daß  bei  seinem  Fortgange  noch  alle  Opfer 
vorhanden  und  absolut  keine  Personen  mehr  zugegen 
seien,  die  etwas  hätten  fortnehmen  können.  Er  solle 
dann  selbst  die  einzige  Türe  zum  Tempel  verschließen 
und  auf  die  Türe  resp.  das  Schloß  sein  Siegel  drücken, 
so  daß  also  auf  keinen  Fall  noch  ein  Mensch  in  den 
Tempel  hinein  oder  heraus  könne,  ohne  das  Siegel  zu 
verletzen.  Das  leuchtete  dem  Cyrus  ein  und  war  auch 
eigentlich  durchaus  plausibel.  Cyrus  war  befriedigt, 
nahm  den  Vorschlag  an,  und  die  Priester  freuten  sich 
schon  darauf,  daß  Daniel,  der  doch  ein  ganz  gefähr- 
licher und  ekelhafter  Bursche  sei,  auf  alle  Fälle  am 
nächsten  Tage  sein  Leben  aushauchen  müsse.  Es  ist 
immer  gut,  wenn  solch  ein  Mensch  unschädlich  ge- 
macht wird;  das  Ansehen  des  gewaltigen  Bei  mußte 
dadurch  sehr  gewinnen,  Leute,  die  von  der  gütigen 
Natur  mit  klaren  Augen  ausgestattet  waren,  verloren 
durch  dieses  Beispiel  die  Lust  und  den  Mut,  etwaige 
Bedenken  gegen  die  Lebendigkeit  und  den  guten 
Appetit  des  Bei  laut  werden  zu  lassen,  und  mit  dem 
Ansehen  des  Bei  mußte  auch  das  seiner  Priester 
wachsen.    Die  Priester  konnten  ihrer  Sache  übrigens 


—    231     — 

wirklich  sicher  sein,  denn  sie  hatten  einen  geheimen 
unterirdischen  Gang,  der  von  außen  in  den  Tempel 
führte  und  unter  dem  Tische  mündete,  auf  den  die 
Opfer  gelegt  werden  mußten.  Sie  hatten  also  nie- 
mals nötig,  die  Türe  zu  öffnen,  wenn  sie  in  den 
Tempel  wollten,  denn  es  war  ihnen  von  vornherein 
klar,  daß  es  leicht  einmal  hätte  Bedenken  erregen 
können,  wenn  die  Herrschaften  mit  Weibern  und 
Kindern  täglich  den  Tempel  aufgesucht  hätten,  oder 
wenn  sie  etwa  so  unvorsichtig  gewesen  wären,  die 
Opfer  durch  den  offiziellen  Eingang  fortzuschaffen. 
Später  konnte  es  viel  leichter  gehen. 

Die  Bibel  erzählt  den  weiteren  Verlauf  der  Sache 
wörtlich:  „Da  nun  die  Priester  hinaus  (aus  dem 
Tempel)  waren,  ließ  der  König  dem  Bei  die  Speise 
vorsetzen.  Aber  Daniel  befahl  seinen  Knechten,  daß 
sie  Asche  holeten,  und  ließ  dieselbige  streuen  durch 
den  ganzen  Tempel  vor  dem  Könige.  Danach  gingen 
sie  hinaus,  und  schlössen  die  Tür  zu,  und  versiegelten 
sie  mit  des  Königs  Ringe,  und  gingen  davon.  Die 
Priester  aber  gingen  des  Nachts  hinein  nach  ihrer 
Gewohnheit  mit  ihren  Weibern  und  Kindern,  fraßen 
und  soffen  alles,  was  da  war.  Und  des  Morgens 
sehr  frühe  war  der  König  auf,  und  Daniel  mit  ihm. 
Und  der  König  sprach:  Ist  das  Siegel  unversehrt? 
Er  aber  antwortete:  Ja,  Herr  König.  Und  sobald  die 
Tür  aufgetan  war,  sah  der  König  auf  den  Tisch,  und 
rief  mit  lauter  Stimme:  Bei,  du  bist  ein  großer 
Gott,  und  ist  nicht  Betrug  mit  dir!  Aber  Daniel 
lachte,  und  hielt  den  König,  daß  er  nicht  hinein  ging, 
und  sprach:  Siehe  auf  den  Boden,  und  merke,  wes 
sind  diese  Fußtapfen?    Der  König  sprach:  Ich  sehe 


—     232     — 

wohl  Fußtapfen  von  Männern  und  Weibern  und 
Kindern.  Da  ward  der  König  zornig,  und  ließ  die 
Priester  holen  mit  ihren  Weibern  und  Kindern.  Und 
sie  mußten  ihm  zeigen  die  heimlichen  Gänge,  da- 
durch sie  waren  ein-  und  ausgegangen,  und  ver- 
zehret hatten,  was  auf  dem  Tische  war.  Und  der 
König  ließ  sie  töten,  und  gab  Daniel  den  Bei  in  seine 
Gewalt;  derselbe  zerstörte  ihn  und  seinen  Tempel." 
So  weit  die  einfache  Erzählung  der  Bibel,  die  fast 
an  einen  modernen  Detektiv-Roman  erinnert,  denn 
der  List,  die  schlauen  Priester  durch  das  Streuen  von 
Asche  auf  den  Fußboden,  auf  dem  sich  dadurch  jeder 
Schritt  deutlich  ausprägen  mußte,  würde  sich  auch 
ein  Sherlock  Holmes  nicht  zu  schämen  brauchen.  Was 
würde  aus  manchem  Kult  geworden  sein,  wenn  es 
stets  einen  Daniel  mit  der  nötigen  Asche  und  dem 
nötigen  Salz  —  ich  meine  attisches  —  gegeben  hätte, 
so  daß  die  „geheimen"  Gänge  hätten  entdeckt  werden 
können ! 

Die  Geschichte  lehrt  aber  klipp  und  klar,  daß 
selbst  die  Götter  eines  Cyrus  nur  Gebilde  von 
Menschenhand  —  innen  Lehm,  außen  Erz  —  waren, 
oder,  mit  anderen  Worten,  daß  man  immer  bloße  Bild- 
werke für  lebendige,  mächtige  Götter  hielt.  Ist  es 
da  ein  so  weiter  Schritt  bis  zu  dem  Gedanken,  daß 
es  dem  schwachen  Menschengeschlecht  ebenso  gehen 
müsse  wie  den  mächtigen  Göttern,  daß  also  auch  das 
Bildnis  eines  Menschen  schließlich  selbst  fühlender 
und  lebender  Mensch  sei?  Es  kann  wohl  kaum  etwas 
Näherliegendes  geben. 

Als  das  Christentum  in  seinen  Vorstellungen  noch 
ziemlich  rein,  ich  meine  frei  von  dem  dogmatischen 


—    233     — 

Nebenkram  kluger  Köpfe  und  blinder  Fanatiker  war 
—  ganz  rein  ist  es  ja  wohl  niemals  gewesen,  ebenso 
wenig  wie  das  klarste  Gesetz  frei  von  entstellenden 
Interpretationen  bleiben  kann  —  war  die  Verehrung 
oder  gar  Anbetung  von  heiligen  Bildern,  die  doch  in 
der  Tat  der  christlichen  Lehre  geradezu  einen  Faust- 
schlag ins  Gesicht  versetzen,  absolut  ausgeschlossen. 
Ich  will  nicht  an  die  Bilderkriege  denken,  die  der 
byzantinische  Kaiser  Leo  der  Isauricus  (716 — 741)  er- 
öffnete; es  ist  aber  auch  da  das  Heilige  mit  dem 
Profanen  verquickt  und  nicht  die  Materie  von  Gottes- 
bildern, sondern  auch  jede  Materie  einer  Person,  ja 
schließlich  jeder  Landschaft  als  Teufelswerk  verboten 
worden.  So  hat  die  Kirche  oder  auch  die  heidnische 
Hierarchie  stets  dafür  gesorgt,  daß  der  Bilderaber- 
glaube —  sei  es  im  guten,  sei  es  im  bösen  Sinne  — 
niemals  aussterben  konnte.  Selbst  im  spätesten 
Christentum,  bis  auf  unsere  Tage  hat  sich  die  Meinung 
erhalten,  daß  die  toten  Bilder  doch  lebendige  Kraft 
besäßen,  daß  bemalte  Leinwand  angebetet  werden 
müsse,  daß  sie  Wunder  tun,  Kranke  heilen  und  den 
Naturkräften   gebieten   könne. 

Nahm  man  aber  einmal  an,  daß  ein  Bild  schon 
mit  dem  Gotte  oder  dem  Menschen,  den  es  dar- 
stellen sollte,  so  weit  eins  sei,  um  fühlen  und  handeln 
zu  können  wie  das  Original,  dann  verstand  es  sich 
fast  mit  logischer  Selbstverständlichkeit,  daß  dies  Bild 
den  Menschen,  den  es  darstellte,  auch  in  die  Gewalt 
dessen,  der  das  Bild  besaß,  bringen  mußte,  oder  daß 
der  Mensch  selbst  alles  das  fühlen  müsse,  was  man 
seinem  Bilde  antue.  Das  ist,  wenn  man  so  sagen 
will,  der  logische  Grundgedanke  des  ganzen  Bilder- 


234     — 


zaubers.  Magie  oder  Zauberei  nahm  man  trotz  aller 
Vernunftsdeduktionen  doch  an,  wenn  es  sich  um  die 
Einwirkung  durch  Behandlung  eines  Bildes  handelte. 
Es  war  und  blieb  doch  eine  wunderbare  Zauber- 
wirkung in  die  Ferne,  wenn  man  einem  Menschen 
Freude  oder  Leid  bloß  dadurch  zuzufügen  vermochte, 
daß  man  seinem  Bildnisse  irgend  etwas  antat.  So 
war  es  zunächst  auch  nicht  jedem  beliebigen  Menschen 
in  die  Hand  gegeben,  eine  derartige  Fernwirkung 
hervorzubringen,  sondern  man  glaubte,  daß  nur  den 
Magiern  eine  solche  Leistung  gelingen  könnte. 

Die  Magie  stand  nun  aber  im  orientalischen  Alter- 
tum keineswegs  so  auf  dem  Index  wie  in  den  Zeiten 
des  christlichen  Mittelalters  bei  uns  im  lieben  Deutsch- 
land, wo  die  Zauberer  oder  die,  die  man  dafür  halten 
zu  dürfen  glaubte,  gehaßt  waren  wie  der  Gottseibeiuns, 
und  wo  die  qualmenden  Scheiterhaufen  doch  wohl 
die  ebenso  intensiv  gehaßten  wie  gefürchteten  Zauberer 
abhielten,  das  Wort  des  Caligula:  „Oderint  dum 
metuant"  zur  Richtschnur  ihres  Erdenwallens  zu 
machen.  Im  alten  Orient,  den  man  als  die  Heimat 
der  Magie  zu  betrachten  hat,  waren  die  Herren  Magier 
sehr  angesehene  Leute.  Man  mochte  sie  vielleicht 
auch  fürchten,  wie  der  Mensch  sich  ja  stets  am  meisten 
vor  dem  fürchtet,  was  ihm  ein  unverständliches  Ge- 
heimnis ist.  Bei  den  Medern  und  Persern  gehörten 
die  Magier  der  Priesterkaste  an;  sie  gingen  nur  aus 
einem  bestimmten  Volksstamme  hervor,  der  die  Kennt- 
nisse der  geheimen  .Wissenschaften  und  die  der  Zoro- 
astrischen  Religion  als  geistiges  Eigentum  wohl  zu 
behüten  und  zu  bewahren  wußte.  Auch  eine  Art 
Theologenkaste!    Die   Magie    dieser    alten    Priester- 


—     235    — 

käste  war  übrigens  etwas  wesentlich  anderes  als  die 
Magie,  die  später,  wohl  zuerst  bei  den  Chaldäern, 
schon  ein  erheblich  bedenklicheres  Handwerk  bildete. 
Ich  will  damit  aber  nicht  etwa  gesagt  haben,  daß 
die  medischen  Magier  Menschen  gewesen  wären,  vor 
denen  man  mit  unbedingter  Hochachtung  hätte  den 
Hut  abziehen  müssen.  Sie  waren  sehr  kluge  Leute, 
die  ihre  Künste  behüteten,  weil  sie  wußten,  daß  sie 
ihnen  für  alle  Zeiten  eine  ungeheure  Macht  und  einen 
gewaltigen  Einfluß  sicherten,  die  sie  beide  sehr  wenig 
zum  Nutzen  ihrer  Mitmenschen,  dafür  besser  zum 
eigenen  Vorteil  verwerteten.  Wehe  dem,  dem  diese 
Leute  nicht  gewogen  waren.  Wo  hätte  wohl  jemals 
die  herrschende  und  herrschsüchtige  Priesterschaft  das 
eigene  Wohl  hinter  das  der  Allgemeinheit  gestellt? 
Die  Priester  des  Bei  zu  Babel  waren  mit  ihrem  sträf- 
lichen Eigennutz  immer  noch  ganz  harmlose  Leut- 
chen im  Vergleich  mit  mächtigen  Priestern,  auch  mit 
den  priesterlichen  Magieren  der  Meder,  und  doch 
kostete  sie  ihr  Betrug  schließlich  das  Leben,  das  sie 
erst  mit  seiner  Hilfe  so  behaglich  gefristet  hatten.  Ich 
habe  keinen  Anhalt  dafür,  ob  auch  die  medischen 
Magier  schon  den  Bilderzauber  anwendeten;  in  der 
Regel  hatten  sie  ihn  nicht  nötig,  denn  die  Personen, 
denen  sie  ein  Übel  zufügen,  oder  die  sie  mit  der  Zähig- 
keit des  haßerfüllten  Orientalen  verfolgen  wollten, 
konnten  sie  in  persona  ipsissima  haben.  Wozu  da  in 
die  Ferne  wirken? 

Es  ist  bekannt,  daß  die  alten  medischen  Magier 
auch  die  Traumdeuterei  bis  zur  Virtuosität  verstanden ; 
ob  sie  aber  ihre  heilige  Kunst  auch  in  den  Dienst 
von  Privatpersonen  stellten,  erscheint  doch  recht  zwei- 


—     236     — 

felhaft;  jedenfalls  haben  sie  sich  aber  nicht  dazu  her- 
gegeben, die  Liebesaffären  von  Hinz  und  Kunz  zu 
ebnen.  Das  taten  spätere  Magier,  als  die  Magie  schon 
etwas  in  Verruf  gekommen  war,  und  diese  Leute 
werden  zuerst  den  Bilderzauber  als  ein  für  ihre  be- 
scheideneren Verhältnisse  immerhin  lohnenderes  Ge- 
schäft  eifriger   kultiviert  haben. 

Benutzt  wurden  zu  diesem  anmutigen  Zauber  in 
der  Regel  Bildwerke,  die  aus  Wachs  geformt  wurden. 
Es  mögen  nicht  immer  Kunstwerke  ersten  Ranges 
gewesen  sein ;  aber  man  war  damals  in  dieser  Hinsicht 
nicht  übermäßig  verwöhnt,  und  die  .Wachsgebilde  ver- 
richteten ihren  Zweck  vorzüglich,  wenigstens  hat  es 
gewiß  nicht  an  der  künstlerischen  Qualität  des  Bild- 
werks gelegen,  wenn  der  Zauber  nicht  glückte,  son- 
dern von  helleren  Köpfen  sofort  als  ein  „fauler  Zauber" 
erkannt  werden  konnte.  Über  das  Versagen  solcher 
Künste  verlautet  aber  natürlich  nichts,  und  das  er- 
scheint gewiß  nicht  so  übertrieben  wunderbar.  Wo 
man  glaubte,  daß  eine  Lehmfigur  40  Schafe,  12  Malter 
Weizen  und  drei  Eimer  Wein  täglich  vertilge,  da  konnte 
man  doch  schließlich  auch  davon  überzeugt  sein,  daß 
alles,  was  sich  mit  einer  geliebten  Person  ereignete, 
die  Tat  des  Magiers  sei.  Der  Magier  hatte  also  alle 
Chancen,  und  es  ist  durchaus  verständlich,  daß  er  sie 
auszunützen  verstand.  Blieb  seine  Kunst  ohne  Er- 
folg, so  gab  es  sicherlich  tausend  Gründe,  aus  denen 
dieses  Mißlingen  erklärt  werden  konnte.  Gründe  sind 
im  allgemeinen  wohlfeil  wie  die  Brombeeren.  Selbst 
in  unserem  sogenannten  Zeitalter  der  Aufklärung  findet 
man,  wenn  man  sich  nur  die  Mühe  gibt,  etwas  ge- 
nauer   zu    beobachten,     eine    Leichtgläubigkeit     und 


—     237     — 

Geistesverblödung,  sofern  es  sich  um  Wunderdinge 
handelt,  die  geradezu  besorgniserregend  sind.  Man 
denke  doch  an  den  groben  Schwindel,  den  Spiritisten, 
oder  meinetwegen  Pseudospiritisten  so  oft  schon  in 
Szene  gesetzt  haben.  Man  versteht  es  schon  nicht, 
daß  ernste  Männer  an  die  fliegenden  Schinkenknochen, 
Kartoffeln,  Töpfe  und  den  übrigen  Spuk  des  Knaben 
von  Resau  hineinfallen  konnten.  Daß  aber  nach  der 
Entlarvung  und  Bestrafung  des  Spukschwindlers  immer 
und  immer  wieder  alle  möglichen  Leute  auf  denselben 
Schwindel  hineinfallen,  daß  den  Taten  einer  Valeska 
Töpfer  oder  einer  Bertha  Rothe  immer  wieder  neue 
Medien  folgen  konnten,  die  in  noch  plumperer  Weise 
ihre  andächtige  Gemeinde  betrogen,  das  ist  ein  Be- 
weis dafür,  daß  auch  Menschen,  die  durch  reichere 
Erfahrungen  und  durch  eine  reifere  Erziehung  doch 
eigentlich  kritisch  genug  veranlagt  sein  sollten,  um 
einigermaßen  die  Spreu  von  Weizen  sondern  zu  können. 
Ich  will  mich  auf  die  „Tatsachen  des  Spiritismus" 
nicht  ausführlich  einlassen,  ich  will  insbesondere  nicht 
in  Abrede  stellen,  daß  es  wirklich  Dinge  zwischen 
Himmel  und  Erde  gibt,  von  denen  sich  unsere  Schul- 
weisheit nichts  träumen  läßt.  Ich  bin  von  einem 
Weiterleben  der  Seele  nach  dem  leiblichen  Tode  aus 
Vernunftsgründen  überzeugt;  ich  bin  aber  —  eben- 
falls aus  Vernunftsgründen  —  überzeugt,  daß  dieses 
Weiterleben  der  Seele  denn  doch  unter  sehr  wesent- 
lich anderen  Daseinsbedingungen  erfolgt  als  denen  für 
unser  körperliches  Leben,  und  daß  die  weiterlebenden 
Seelen  wahrlich  nicht  durch  jeden  x-beliebigen  Char- 
latan  und  Schwindler  gezwungen  werden  können,  sich 
zu  manifestieren  oder  mit  kindischem  Gehorsam  alle 


—     238     — 

die  unglaublichen  Albernheiten  und  Dummheiten  zu 
vollführen,  die  der  Herr  Geisterbeschwörer  befiehlt. 
Vor  allen  Dingen  sollte  doch  jeder  die  Absicht  merken 
und  verstimmt  werden,  wenn  das  Medium  ungeheure 
Geldopfer  verlangt,  die  in  erster  Linie  ihm  persönlich 
zu  gute  kommen.  Denken,  denken  und  wieder  denken 
sollte  die  Menschheit  lernen,  sie  sollte  lernen,  die  Um- 
gebung und  alle  ihre  Erscheinungen  kritisch  zu  durch- 
denken, dann  würde  es  wohl  gelingen,  was  die  ernsten 
Spiritisten,  —  darunter  verstehe  ich  solche,  die  den 
Problemen  ihrer  Lehre  mit  wissenschaftlichem  For- 
schungseifer nachgehen  wollen  —  stets  verlangen,  näm- 
lich Klarheit  und  Gewißheit  über  manches  zu  schaffen, 
was  in  der  Tat  als  noch  nicht  festgestellt  und  noch 
nicht  ergründet  gelten  darf.  Fanatische  Sekten  aber, 
die  meist  aus  ungebildeten  und  unwissenden  Leuten 
bestehen,  gefallen  sich  in  erster  Linie  darin,  gegen 
die  Wissenschaft  zu  eifern,  die  nach  ihrer  Ansicht  nur 
die  eine  Garantie  bietet,  daß  ihre  Vertreter  weder 
etwas  leisten,  noch  etwas  entdecken  können.  Fragt 
man  solche  Leute,  welche  Disziplin  der  Wissenschaft 
sie  eigentlich  meinen,  dann  sperren  sie  Maul  und  Nase 
auf,  denn  von  einer  Disziplin  der  Wissenschaft  oder 
von  dem,  was  die  Wissenschaft  in  ihren  einzelnen 
Zweigen  lehrt  und  leistet,  haben  sie  noch  niemals  ein 
Sterbenswörtchen  gehört.  Diese  Leute,  die  auf  Staat 
und  Kirche  schimpfen  und  in  ihrer  Selbstüberlebung 
nur  sich  selbst  anerkennen,  bilden  eine  große  Gefahr, 
für  ihre  nächsten  Anhänger  schon  deshalb,  weil  sie 
die  christliche  Nächstenliebe,  die  sie  predigen,  meist 
nur  dahin  verstehen,  daß  sie  ihre  Anhänger  aussaugen 
bis  auf  den  letzten  Blutstropfen.    Es  läßt  sich  leider 


—     239     — 

auch  das  als  christliche  Nächstenliebe  deduzieren,  denn 
umso  viel  mehr  der  Hang  nach  irdischem  Gute  be- 
kämpft und  unterdrückt  wird,  um  so  viel  mehr  ist 
für  das  Seelenheil  gesorgt,  und  man  muß  über  die 
Selbstlosigkeit  der  führenden  Geister  staunen,  die  das 
eigene  Seelenheil  so  wenig  fördern  und  sich  für  ihre 
Brüder  aufopfern.  Für  die  Allgemeinheit  sind  solche 
Sekten  eine  Gefahr,  weil  sie  in  den  Kreisen  un- 
wissender und  urteilsunfähiger  Menschen  Verirrungen 
anrichten,  gesunde  Existenzen  vernichten  und  den  be- 
dauernswerten Opfern  den  Größenwahn  einimpfen,  daß 
auch  sie  auserlesen  seien,  die  Welt  zu  reformieren, 
die  heutige  Staatsordnung  und  die  Wissenschaft  (dieses 
Karnickel)  zu  stürzen  und  das  Reich  der  —  Sekte 
zu  errichten  und  auszubreiten.  Es  ist  ein  Jammer, 
daß  so  etwas  geduldet,  und  wie  es  scheint,  an  einigen 
Orten  sogar  liebevoll  gehegt  wird,  was  wohl  nur  daran 
liegen  kann,  daß  die  zuständigen  amtlichen  Stellen 
über  den  wahren  Charakter  solcher  Sekten  sich  täu- 
schen lassen,  obwohl  ihnen  doch  die  erforderliche  Auf- 
klärung gegeben  worden  ist.  Auch  das  ist  Magie. 
Wir  haben  gesehen,  daß  Religion  und  Magie 
keineswegs  immer  als  Gegensätze  betrachtet  worden 
sind,  so  wenig,  daß  die  ersten  Magier  die  berufenen 
Religionsdiener  sein  konnten.  Es  ist  dies  natürlich 
ein  Widerspruch,  sofern  es  sich  um  eine  Religion, 
die  diesen  Namen  wirklich  verdient,  handelt.  Ich  will 
mich  dabei  auf  eine  wörtliche  Übersetzung  des  Wortes, 
das  aus  dem  Verb  relego-ere  abgeleitet  ist  und 
eine  sehr  verschiedene  Deutung  zuläßt,  im  römischen 
Sprachgebrauch  auch  tatsächlich  eine  sehr  verschiedene 
Bedeutung  hatte,   nicht  einlassen,   sondern   mich   nur 


—     240     — 

an  das  klammern,  was  wir  unter  Religion  oder  Re- 
ligiosität verstehen.  Immer  wird  sich  der  Religiöse 
von  der  Gottheit  abhängig  fühlen  müssen,  weil  eben 
nur  der  Glaube  an  eine  allmächtige  Gottheit,  von 
deren  Willen  und  Gesetzen  die  Menschen,  jeder 
einzelne  Mensch,  abhängig  sind,  Religion  sein  kann, 
denn  wollte  man  ein  Schemen  anbeten,  das  nicht 
existierte,  keine  Macht  auf  das  Menschenschicksal 
hätte  und  den  Lebenspfad  oder  das  Geschick  des 
Einzelnen  nicht  leiten  könnte,  so  wäre  diese  Anbetung 
ein   heller  Wahnsinn. 

Die  Magie  wieder  würde  Wahnsinn  sein,  wenn 
sie  nicht  völlig  einen  umgekehrten  Standpunkt  ein- 
nähme. Die  Magier  glaubten  an  die  Gottheiten  — 
sonst  hätten  sie  nicht  zugleich  Priester  sein  können; 
sie  glaubten  aber  auch,  daß  sie  durch  Zauberei  auf 
die  Gottheit  zu  wirken  vermöchten,  daß  sie  also  die 
Gottheit  sich  dienstbar  machen,  ja  sie  zu  ihren  Dien- 
sten zwingen  könnten.  Das  ist  also  das  Sonderbare 
und  Vernunftwidrige  an  der  ganzen  Sache,  daß  die 
Diener  der  Gottheit  zugleich  Herren  der  Gottheit  sein 
wollten  oder  sogar  zu  sein  glaubten.  Das  war  ein  un- 
lösbarer Widerspruch,  der  wohl  nur  deshalb  als  solcher 
nicht  besonders  auffiel,  weil,  wie  schon  gesagt,  die 
Menschen  in  der  Kunst,  logisch  zu  denken,  mindestens 
da  ein  erschreckendes  Manko  aufzuweisen  hatten  und, 
wie  es  scheint,  immer  aufzuweisen  haben  werden,  wo 
der  Glaube  oder  der  wüste  Aberglaube  ins  Spiel  kommt. 
Es  ist  das  auch  an  unseren  heutigen  Dogmen  noch  so 
klar  nachweisbar,  daß  es  sich  erübrigt,  längere  Aus- 
führungen darüber  zu  machen.  Im  Altertum  hat  man 
natürlich  in  diesen   Dingen  das  X  für  ein   U  ange- 


—     241     — 

sehen,  und  als  der  Widerspruch  so  handgreiflich  er- 
schien, daß  man  die  Zauberer  als  Feinde  Gottes  und 
Werkzeuge  des  Teufels  verbrannte,  da  wurde  der  alte 
Widerspruch  in  Wirklichkeit  nicht  etwa  beseitigt,  son- 
dern nur  in  eine  andere  Form  umgegossen,  die  den 
Herren  kirchlichen  Teufels-,  Hexen-  und  Zauberer- 
Verfolgern  besser  in  den  Kram  paßte,  in  Wirklich- 
keit aber  eigentlich  noch  dümmer  war.  Die  alte  Re- 
ligion der  Meder  und  Perser  nahm  eine  Gottheit  an, 
die  die  Schicksale  der  Menschen  lenkte,  selbst  aber 
unter  den  Naturgesetzen  stand,  also  auch  durch  Natur- 
gesetze zu  zwingen  waren.  Die  Magier  waren  nach 
ihrer  Meinung  zwar  immer  noch  mächtiger  als  die 
Götter,  wenn  sie  glaubten,  daß  sie  die  Naturkräfte 
auch  gegen  diese  ausspielen  könnten.  Das  Christen- 
tum aber,  daß  doch  an  einen  allmächtigen  Gott,  der 
Sturm  und  Wellen  gebieten,  Berge  versetzen  und  die 
Naturgesetze  beherrschen  konnte,  statt  ihnen  zu  unter- 
stehen, glaubte,  räumte  dennoch  dem  Teufel  eine 
höhere  Macht  als  Gott  ein  und  nahm  an,  daß  die 
Zauberer  zwar  Diener  aber  doch  auch  zugleich  Herren 
des  Teufels  seien,  und  daß  sie  dadurch  Gottes  Rat- 
schlüsse zum  großen  Teile  umstoßen  könnten.  Hätte 
man  allein  dem  Teufel  die  Gewalt  zugemessen,  dann 
wäre  es  ein  Widerspruch  gewesen,  anzunehmen,  daß 
der  Teufel  auf  die  Tätigkeit  seiner  menschlichen 
Knechte  angewiesen  sei.  Es  wäre  der  zweite  noch 
fatalere  Widerspruch  gewesen,  die  Leute,  die  doch 
den  Künsten  und  der  Macht  des  Teufels  gegenüber 
wehrlos  waren,  so  furchtbar  zu  bestrafen,  denn  wer 
die  Macht  des  Teufels,  gegen  die  selbst  Gott  nichts 
vermochte,  weil  es  doch  Gottes  Wille  nicht  sein  konnte, 

16 


—     242     — 

daß  der  Teufel  seine  Gebote  und  Gesetze  verletzte 
und  Menschen,  die  Gottes  Kinder  waren,  für  sich 
selbst  beanspruchen  dürfte,  verfiel,  der  konnte  doch 
in  Wirklichkeit  nur  als  ein  Opfer  des  Teufels,  das 
man  hatte  beklagen  müssen,  nicht  aber  selbst  als  ein 
Schuldiger  angesehen  werden.  Nahm  man  aber  an, 
daß  die  Zauberer  durch  ihre  Kunst,  die  sie  allerdings 
wieder  erst  von  dem  Teufel  erhalten  haben  mußten, 
dem  Teufel  gebieten  könnten  und  deshalb  schuldiger 
als  der  Teufel  selbst  seien,  dann  stellte  man  sie  wieder 
über  Gott  und  Teufel;  aber  dann  war  es  ein  Blöd- 
sinn, zu  glauben,  daß  diese  Menschen  von  Menschen- 
gewalt so  einfach  besiegt  und  vernichtet  werden 
konnten.  Also  auch  hier  ist  ein  unentwirrbarer  Knäuel 
von  Irrungen,  Wirrungen  und  blödestem  Unsinn. 

Ich  hätte  mir  diese  in  gedrängter  Kürze  gehaltene 
Ausführung  gänzlich  ersparen  können,  wenn  es  mir 
nicht  auf  den  psychologischen  Nachweis  angekommen 
wäre,  daß  in  Sachen  des  Aberglaubens  nichts  auf  der 
Welt  so  dumm  und  widersinnig  sein  kann,  daß  es 
nicht  doch  in  ein  Dogma  gebracht  werden  könnte, 
auf  das  die  Welt  schwört,  bis  das  Morgenrot  einer 
besseren  Erkenntnis  nach  langer,  furchtbar  langer  Nacht 
endlich,  meist  sehr,  sehr  langsam  am  Horizont  herauf- 
dämmert. Im  Orient  geht  ja  die  Sonne  eher  auf; 
auch  die  Sonne  der  klaren  Menschenvernunft?  Ich 
möchte  das  bestreiten. 

Wir  haben  aus  dem  fernen  Osten  die  Magie  als 
ein  Danaergeschenk  erhalten,  das  wir  mit  schwerer 
Mühe  überwinden  mußten;  aber  der  Orient  ist  heute 
noch  das  Land,  in  dem  die  Magie  üppig  in  Blüte 
steht.    Man  denke  nur  an  die  indischen  Magier  und 


—    243     — 

Gaukler,  über  die  wir  überlegen  lächeln,  und  die  doch 
auch  uns  noch  unlösbare  Rätsel  aufgeben.  Am  grünen 
Tisch  läßt  sich's  gemütlich  docieren;  aber  in  der 
sonnigen  Wirklichkeit  des  indischen  Morgenlandes  da 
sieht  die  Sache  schon  recht  anders  aus,  da  haben  auch 
Leute  die  Köpfe  geschüttelt  und  eingestanden,  daß  sie 
das  Wunderbare  nicht  zu  fassen  und  nicht  zu  erklären 
vermöchten,  Leute,  die  daheim  am  grünen  Tische 
ebenso  überlegen,  ebenso  überzeugt  das  große  Wort 
ausgesprochen  hatten,  daß  vielleicht  ein  blöder  Hindu 
den  plumpen  Schwindel  solcher  Gaukler  anstaunen 
könne,  daß  aber  der  gebildete  Europäer  dem  Gaukler 
sofort  seine  Taschenspielerkunststücke  als  solche  nach- 
weisen könne.  Und  doch  —  auch  in  Indien  gibt  es 
für  den  gebildeten  und  sogar  für  den  gelehrten  Euro- 
päer, der  weiß,  daß  es  keine  Zauberer  geben  kann, 
daß  alles  mit  natürlichen  Dingen  zugeht,  und  daß  es 
sich  höchstens  darum  handeln  kann,  Naturkräfte  und 
Fähigkeit  in  bisher  unbekannter  Weise  zu  verwerten, 
Dinge  zwischen  Himmel  und  Erde,  von  denen  sich 
selbst  die  europäische,  hoch  entwickelte  Schulweisheit 
nichts  träumen  läßt.  Es  ist,  als  sollte  da  jeder  Skep- 
tiker aus  einem  Saulus  zum  Paulus  gemacht  werden, 
denn  wer  das  sieht,  was  die  indischen  Magier, 
Schlangenbeschwörer  und  ähnliche  Künstler  leisten, 
der  muß  schon  sehr  fest  davon  überzeugt  sein,  daß 
alles  mit  natürlichen  Dingen  zugehe,  wenn  er  nicht 
durch  den  Anblick  in  seiner  Zuversicht  wankend 
werden  will. 

Diese  kunstfertigen  Indier  sind  aber  kein  Produkt 
der  neuesten  Zeit  oder  einer  neuen  Kultur;  ihre  Künste 
haben  sich  von  Generation  zu  Generation  vererbt  und 

16« 


—     244     — 

reichen  in  Zeiten  zurück,  um  die  die  ältesten  Ahnen- 
geschlechter, die  so  gern  ihren  geheiligten  Stamm- 
baum bis  auf  Adam  zurückleiten  möchten,  in  blassen 
Neid  verfallen  könnten.  Ich  meine  nun,  man  hat  im 
Orient  schon  im  grauen  Altertum  die  Kunst  der  Magie 
trefflich  verstanden,  und  es  ist  dieser  Tatsache  gegen- 
über durchaus  verständlich,  daß  man  Leuten,  die  in 
der  Tat  „ohne  alle  Apparate"  vor  den  Augen  der 
Menge  Dinge  vollbrachten,  die  als  vollendete  Wunder 
erscheinen  mußten,  wohl  das  ungetrübteste  Vertrauen 
entgegenbrachte  und  sie  auch  für  fähig  hielt,  in  Herzens- 
angelegenheiten eine  heißersehnte  Wendung  herbei- 
zuführen, die  noch  dazu  an  sich  nicht  einmal  wunder- 
bar, sondern  ganz  natürlich  war. 

Wie  man  auf  den  Gedanken  kam,  ja  geradezu 
kommen  mußte,  daß  man  durch  eine  bloße  Behand- 
lung eines  Bildes  aus  Wachs  die  Person,  die  das  Bild 
darstellen  sollte,  direkt  beeinflussen  könne,  habe  ich 
schon  ausführlich  auseinandergesetzt.  Der  Bilderglaube 
hat  sich  dann  ebenfalls  bis  ins  Abendland  verpflanzt, 
und  ist  vielleicht  der  Redensart,  daß  Jemand  in  den 
Händen  eines  Anderen  Wachs  sei,  zu  Grunde  zu  legen. 
Die  Herren  Magier  mögen  wohl  von  der  Wirkung  ihrer 
Kunst  selbst  felsenfest  überzeugt  gewesen  sein;  viel- 
leicht haben  sie  auch  der  Idee  gehuldigt,  daß  doppelt 
besser  halte,  und  sich  nicht  immer  so  sicher  auf  ihre 
Wachsgebilde  verlassen,  sondern  sich  wohl  nebenbei 
auch  an  die  Person  selbst  gewendet,  die  ihren  Ab- 
sichten geneigt  zu  machen,  ihrem  großen  Ansehen 
gewiß  nicht  allzuschwer  gefallen  sein  dürfte.  Haben 
sie  diese  weise  Vorsicht  walten  lassen,  dann  wird 
ihnen  wohl  sehr  oft  ihre  „Magie"  glänzend  gelungen 


—     245     — 

sein,  und  dem  Auftraggeber,  dem  es  doch  sicher- 
lich ganz  gleichgültig  war,  auf  welchem  Wege  sein 
Helfer  zum  Ziele  kam,  der  einfach  zufrieden  war  und 
sein  konnte,  wenn  dieses  Ziel  überhaupt  erreicht 
wurde,  war  geholfen.  Auch  dem  Magier,  der  in 
immer  besseren  Ruf  kam.  Wäre  der  Erfolg  immer 
ausgeblieben,  dann  hätte  sich  das  Märchen  vom  Bilder- 
zauber unmöglich  behaupten,  geschweige  denn  sein 
Ruf   sich    bis    ins    Abendland    ausbreiten    können. 

Wenn  man  nun  aber  bedenkt,  daß  es  Leute  gab, 
die  zur  Magie  ihre  Zuflucht  nahmen,  um  ihrem  Liebes- 
sehnen Trost  und  Befriedigung  zu  verschaffen,  dann 
darf  man  daraus  doch  mindestens  den  Schluß  ziehen, 
daß  das  Liebesleben  durchaus  nicht  bloß  den  rohen 
Sinnenrausch  in  seiner  ganzen  und  abstoßenden  Bru- 
talität kannte,  sondern  daß  es  auf  keinen  Fall  an 
romantischen  und  sinnigen  Episoden  und  Affären  ge- 
fehlt haben  kann.  Mag  die  Sinnlichkeit  das  bewegende 
Agens  gewesen  sein;  wer  will  denn  von  Fall  zu  Fall 
feststellen  können,  wie  weit  eine  Herzensneigung  von 
der  Sinnlichkeit  diktiert  oder  doch  wenigstens  beein- 
flußt ist? 

Nicht  allein  für  die  verliebten  Leute  bildete  die 
Bildermagie  eine  Zuflucht,  durch  die  sie  zum  Ziele 
zu  gelangen  hofften,  sondern  auch  für  Haß  und  Rache 
war  diese  Magie  die  einzige  Möglichkeit  Befriedigung 
zu  finden,  wenn  einer  gehaßten  Person  auf  direktem 
Wege  nicht  beizukommen  war.  Haß  und  Liebe  wohnen 
sehr  dicht  beieinander  und  entspringen  nicht  selten  dem 
gleichen  Grunde,  ja  es  kommt  nicht  nur  vereinzelt 
vor,  daß  Liebe  sich  in  Haß  verwandelt  So  war  denn 
auch  dabei  der  Magier  eine  geschätzte  und  gesuchte 


—     246     — 

Person.  Als  erst  einmal  bekannt  war,  wie  riesig  leicht 
diese  Liebes-  und  Haß-Magie  ausführbar  war,  da  be- 
durfte man  nicht  einmal  des  Magiers  mehr,  um  zum 
Ziele  zu  gelangen.  Das  einzige  Mittel,  das  unentbehr- 
lich blieb,  war  das  Bild.  Dieses  herzustellen,  erforderte 
weder  eine  besondere  Übung  noch  hervorragende  Ge- 
schicklichkeit. Wachs  ist  leicht  zu  haben  und,  wenn 
man  es  hat,  leicht  zu  bearbeiten.  Die  Masse  wird 
durch  das  Kneten  weich  und  biegsam,  läßt  sich  in 
jede  Form  bringen,  und  ein  Bildwerk  herstellen,  das 
eine  nicht  allzu  verwöhnte  Phantasie  allenfalls  für 
ein  menschenähnliches  Bild  halten  kann,  das  bringt 
doch  schließlich  auch  der  Ungeübteste  fertig.  Zudem, 
—  Liebe  macht  erfinderisch,  Haß  nicht  minder. 

Ich  bin  mir  nun  allerdings  nicht  darüber  klar, 
was  man  mit  einem  solchen  „Kunstwerk"  vorzunehmen 
hatte,  um  dadurch  zu  erreichen,  daß  die  Person,  die 
man  damit  meinte,  sich  zur  Liebe  bewege,  denn  et- 
waige Liebkosungen,  die  man  dem  Wachsbild  zuteil 
werden  ließ,  können  wohl  keinen  Zweifel  gelassen 
haben,  daß  der  der  Magie  Beflissene  selbst  liebte; 
was  aber  soll  die  andere  Person  bewogen  haben,  den 
Liebenden  nun  auch  ihrerseits  zu  lieben?  Darauf  kam 
es  aber  doch  gerade  an.  Was  soll  einer  geliebten 
Person,  die  vielleicht  wiederliebte,  aber  durch  äußere 
Verhältnisse  verhindert  war,  zu  dem  Geliebten  zu  ge- 
langen, die  Möglichkeit  gewährt  haben,  dies  zu  er- 
reichen? So  groß  konnte  doch  selbst  der  wirklich 
vorhandene  Zauber  nicht  wirken,  daß  er  feste  Türen 
und  Schlösser  öffnete  oder  den  Durchgang  durch  ver- 
gitterte Fenster  ermöglichte.  Lassen  wir  also  dieses 
Rätsel  ein  Rätsel  bleiben.  Die  Liebe  macht  erfinderisch ; 


—     247     — 

deshalb  will  ich  es  meinen  sehr  geehrten  Lesern  über- 
lassen, die  geeignete  Methode  selbst  zu  erfinden,  falls 
sie  von  der  Vortrefflichkeit  des  Bilderzaubers  sich 
überzeugt  haben,  was  ich  keineswegs  für  ausge- 
schlossen halte.  Der  Versuch  bringt  kein  Risiko,  da 
man  ja  jetzt  die  Zauberer  nicht  mehr  verbrennt.  Auch 
die  Beschaffung  eines  Bildes  ist  nicht  mehr  mit  allzu- 
großen Schwierigkeiten  verknüpft,  und  man  hat  außer- 
dem noch  den  großen  Vorteil,  daß  man  an  die  Phan- 
tasie keine  allzuhohen  Anforderungen  zu  stellen 
braucht,  um  in  dem  Bilde  wirklich  die  Person,  die 
man  meint,  zu  erkennen. 

Mit  dem  Haß  war  die  Sache  schon  erheblich 
leichter.  ,Wer  haßt,  braucht  keine  Erwiderung  seiner 
Gefühle  zu  erwecken ;  es  wird  ihm  im  Gegenteil  in 
der  Regel  ziemlich  gleichgültig  sein,  ob  sein  Haß  er- 
widert, oder  ob  ihm  gar  nach  dem  am  wenigsten  be- 
folgten christlichen  Gebot  sein  Haß  mit  Liebe  ver- 
golten wird.  Der  Haß  verlangt  nur  Rache  und  fragt 
nicht  danach,  ob  der  Gegner  etwa  einverstanden  ist 
oder  nicht,  ja  er  wird  sogar  viel  sicherer  zum  Ziele 
gelangen,  wenn  das  Übel,  das  er  zufügen  will,  un- 
erwartet, überraschend  kommt.  Die  Liebe  ist,  wenn 
es  gestattet  ist,  durch  nicht  völlig  passende  Bezeich- 
nungen, Begriffe  verständlicher  zu  machen,  mehr  re- 
lativ, der  Haß  mehr  abstrakt,  d.  h.  die  Liebe  will  ge- 
winnen, sie  ist  ja  eigentlich  nichts  weiter  als  das  in- 
tensiven Sehnen  nach  einer  dauernden  oder  wenig- 
stens nur  zeitlich  begrenzten,  sonst  absoluten  Vereini- 
gung. Ich  habe  sie  deshalb  mehr  egoistisch  genannt. 
Der  Haß  verlangt  keine  Vereinigung,  er  ist  ein  von 
anderen  Gedanken  völlig  losgelöster  Begriff,  der  weiter 


—    248    — 

nichts  will,  als  den  Gegner  schädigen  oder  ihn  ver- 
nichten, dabei  aber  nicht  davon  ausgeht,  für  sich 
selbst  einen  Vorteil  oder  einen  Genuß  zu  schaffen, 
wenn  auch  durch  die  Befriedigung  des  Hasses  ein 
Vorteil  entstehen,  in  der  Befriedigung  ein  Genuß 
liegen  kann.  Wenn  ich  diesen  Gegensatz  nenne,  so 
meine  ich  natürlich  nicht  die  Liebe,  von  der  der 
Apostel  Paulus  sagt,  daß  sie  alles  dulde,  alles  ertrage, 
alles  verzeihe,  sondern  die  für  mein  Thema  allein 
in  Frage  kommende  Geschlechtsliebe. 

Der  Haß,  der  soweit  gediehen  war,  daß  sich  der 
Hassende  des  Magiers  oder  wenigstens  der  Magie 
bediente,  um  seiner  rasenden  Leidenschaft  ein  Ge- 
nüge zu  tun,  war  natürlich  ebenfalls  über  das  Sta- 
dium, in  dem  man  ihn  noch  als  etwas  Abstraktes  be- 
zeichnen dürfte,  hinaus  entwickelt.  Er  suchte  und  ver- 
langte gebieterisch  eine  Handlung,  die  dem  Gehaßten 
verderblich  werden  mußte.  Das  nächstliegende  Übel, 
das  einer  Person  zugefügt  werden  kann,  ist  stets  ein 
direktes,  also  ein  körperliches.  Wer  einem  Menschen, 
den  er  erlangen  kann,  ein  Übel  zufügen  will,  wird 
dies  am  besten  und  sichersten  erreichen,  wenn  er  ihm 
körperliche  Schmerzen  bereitet.  Deshalb  artet  so 
leicht  ein  erregter  Streit  in  Tätlichkeiten  aus,  deshalb 
die  Prügeleien  in  allen  ihren  Abarten  und  Abstufungen. 
Ich  will  nicht  darauf  eingehen,  ob  diese  rohe  Gewalt, 
die  doch  nur  beim  hinterlistigen  Überfall  quasi  als 
Produkt  heimtückisch  boshafter  Überlegung,  sonst  stets 
im  plötzlichen  Effekt  angewendet  wird,  etwa  lobens- 
werter als  das  geheime  Wirken  aus  dem  Hinterhalte 
sein  müsse.  Denn  das,  was  jemand  mit  Hilfe  der 
Magie  tut  oder  auch  nur  zu  tun  meint,  vereinigt  in 


—    249    — 

der  Regel  Gewalttat  und  Heimtücke,  wenn  es  auch 
hierbei  stets  das  Nächstliegende  sein  und  bleiben  wird, 
dem  Gehaßten  einen  körperlichen  Schaden  zuzufügen, 
wenigstens  da,  wo  das  Wachsbild  benutzt  und  ange- 
nommen wurde,  daß  die  Person  dasselbe  „fühle"  und 
leide  wie  ihr  Bild.  Mit  dem  „Fühlen"  trifft  dieser 
Aberglaube  auch  wohl  zweifellos  das  Richtige,  denn 
wenn  man  ein  Gebilde  aus  Wachs  noch  so  brutal 
mißhandelt,  so  wird  es  doch  von  dieser  Behandlung 
nichts  „fühlen",  und  dasselbe  wird  mit  der  Person, 
deren  Bild  mißhandelt  wurde,  der  Fall  sein.  Auch  sie 
wird  nichts  gefühlt  haben,  so  daß  in  Wirklichkeit  nur 
der  Magier,  oder  falls  dieser  nicht  in  „eigener  Sache" 
sondern  nur  im  Auftrage  eines  Andern  „arbeitete", 
dessen  Auftraggeber  den  Genuß  hatte.  Ein  Genuß 
mag  das  wirklich  gewesen  sein,  denn  ein  wütender 
Mensch  kennt  kaum  einen  größeren  Genuß  als  den, 
seinem  gehaßten  Gegner  Schmerzen  zu  bereiten. 
Glaubte  er,  dies  auf  so  einfache  und  bequeme  Weise 
erreichen  zu  können,  noch  dazu  ohne  daß  ihm  auch 
nur  der  geringste  Vorwurf  gemacht  werden  konnte, 
so  war  die  Freude  subjektiv  berechtigt;  objektiv  frei- 
lich unsinnig,  weil  immer  der  Gehaßte  gewiß  über  das 
heiße  Bemühen  seines  Gegners  nur  gelächelt  haben 
würde,  wenn  er  es  gewußt  hätte,  und  wenn  er  ge- 
nügend Philosoph  gewesen  wäre.  Im  Zeitalter  des 
blinden  Zauberglaubens  freilich  hätte  sich  ein  solcher 
Philosoph  wohl  mit  der  brennenden  Laterne  auf  dem 
tagshellen  Markte  ebensowenig  finden  lassen  wie  ein 
Mensch  im  Sinne  des  großen  und  satirisch  veran- 
lagten griechischen  Philosophen.  Es  wird  aber  wohl 
selten  jemand  gewußt  haben,  daß  ein  anderer  Mensch 


—     250     — 

sein  Wachsbild  prügelte,  und  da  der  Prügelnde  wohl 
felsenfest  glaubte,  daß  sein  Gegner  die  Prügel  em- 
pfindlich fühlen  müsse,  sich  doch  aber  nicht  davon 
überzeugen  konnte,  ob  dies  wirklich  der  Fall  war, 
so  wird  es  ja  wohl  nicht  so  leicht  möglich  gewesen 
sein,  den  Zauber  zuverlässig  auf  seine  Wirksamkeit  zu 
prüfen,  und  der  Glaube  konnte  nicht  leicht  als  falsch 
erwiesen  werden.  Es  wäre  deshalb  wohl  begreiflich 
gewesen,  daß  der  Aberglaube  köstlich  grünte  und 
blühte,  und  alle  die  Racheakte,  die  man  sich  mittels 
eines  Wachsbildes  erlaubte,  wären  im  Grunde  ge- 
nommen recht  harmlose  Spaße  der  rachsüchtigen 
Magier  gewesen. 

Aber  ganz  so  einfach  lag  die  Sache  doch  nicht, 
denn  die  haßerfüllten  Leute  begnügten  sich  keines- 
wegs damit,  ihre  Mitmenschen  hin  und  wieder  in- 
direkt durchzuprügeln,  sondern  sie  taten  ihnen  auch 
viel  schwereres  Leid  an.  Sehr  beliebt  war  das  Aus- 
stechen der  Augen,  das  Abtrennen  eines  oder  auch 
verschiedener  Glieder,  und  selbst  der  gefährliche  Stich 
durchs  Herz  war  eirie  höchst  beliebte  Manipulation. 
Es  kann  da  nun  sehr  wohl  vorgekommen  sein,  daß 
ein  Mensch,  dessen  Wachsbild  man  aus  Rache  in  der 
schwersten  Weise  versehrt  hatte,  ebenfalls  ein  ähn- 
liches Unglück  an  seinem  Körper  erlitt.  Daß  dies 
in  einer  Zeit,  in  der  das  Menschenleben  einen  so 
furchtbar  geringen  Wert  hatte,  vorkommen,  verhältnis- 
mäßig leicht  vorkommen  konnte,  ist  einleuchtend.  Es 
ist  außerdem  bekannt,  daß  auch  umgekehrt  in  Fällen, 
in  denen  Jemand  ein  besonderes  Unglück  erlebt  und 
an  seinem  Körper  Schaden  genommen  hatte,  ohne 
weiteres   angenommen   wurde,   daß   eine   Hexerei   im 


—    251     — 

Spiele  sei,  daß  also  irgend  Jemand  dieses  Unglück 
durch  Zauberei  verursacht  haben  müsse.  Über  die 
Person  des  Täters  brauchte  man  sich  keine  großen 
Kopfschmerzen  zu  machen.  Irgend  ein  Individuum, 
das  mit  den  Unglücklichen  besonders  stark  verfeindet 
war,  gab  es  wohl  überall,  denn  Menschen,  die  gar 
keine  Feinde  haben,  sind  bis  auf  den  heutigen  Tag 
weiße  Raben.  So  nahm  man  denn  einfach  einen 
Menschen,  der  hinreichend  verdächtig  erschien,  den 
Zauber  begangen  zu  haben,  am  Kragen  und  ließ  ihn 
seine  Schandtat  furchtbar  büßen.  Hatte  er  geleugnet, 
was  wollte  das  wohl  sagen?  Konnte  man  von  einem 
Menschen,  der  so  verdorben  war,  daß  er  durch  eine 
hinterlistige  Zauberei  seine  Mitmenschen  ins  Unglück 
stürzte,  erwarten,  daß  er  den  Mut  besitzen  würde, 
seine  Scheußlichkeit  auch  noch  offen  einzugestehen? 
Da  wurde  einfach  kurzer  Prozeß  gemacht,  oder  viel- 
mehr, man  ließ  sich  auf  einen  Prozeß  erst  garnicht 
ein,  sondern  bestrafte  den  Unhold  so  schwer  wie 
möglich,  in  der  Regel  am  Leben,  und  alle  Welt  war 
davon  überzeugt,  daß  dem  Manne  nur  sein  Recht  ge- 
worden war.  Durch  alle  solche  Ereignisse  mußte 
aber  der  Aberglaube,  daß  es  wirklich  eine  Magie  gäbe, 
die  so  einfach  durchzuführen  war,  neue  Nahrung  er- 
halten. Das  ist  wohl  die  beste  Erklärung  dafür,  daß 
sich  ein,  objektiv  betrachtet,  so  alberner  Aberglaube 
so  lange  halten  konnte  wie  der  von  dem  Bilderzauber, 
der  —  mochte  seine  Entstehung,  wie  ich  nachge- 
wiesen zu  haben,  wohl  annehmen  darf,  auch  eine 
logische  Konsequenz  alles  dessen  sein,  was  man  im 
allgemeinen  über  Bildwerke  von  Personen  und  Göttern 
dachte  und  schließlich  bei   dem   Entwicklungsgänge 


—    252    — 

religiöser  Dogmen  auch  denken  mußte,  —  in  Wirk- 
lichkeit doch  jeder  realen  Grundlage  entbehrt.  Was 
man  jetzt  durch  Suggestion,  Telepathie  und  ähnliche 
Dinge  zu  erklären  sucht,  trifft  auf  den  Bilderwahn 
garnicht  oder  doch  nur  im  allerbescheidensten  Um- 
fange  zu. 

Man  soll  aber  nicht  denken,  daß  der  Bilderzauber 
etwa  nur  im  orientalischen  Altertum  bekannt  und  in 
Übung  gewesen  sei.  Auch  bei  uns  im  Abendland 
hat  er  seinen  Siegeszug  gehalten  und  sich  einer  außer- 
ordentlichen Lebensfähigkeit  erfreut.  Ich  will  nicht 
darauf  eingehen,  wie  unendlich  oft  „Zauberer"  ver- 
urteilt worden  sind,  weil  sie  durch  Ausstechen  der 
Augen  eines  Bildes  oder  durch  Stiche  durch  das  Bild 
ihren  Mitmenschen  nach  dem  Leben  getrachtet  haben 
sollten. 

Selbst  die  mittelalterliche  Justiz  pflegte,  wenn  der 
Delinquent  glücklich  entwischt  war,  das  Todesurteil 
an  dessen  Bilde  zu  vollstrecken,  und  dieser  Gebrauch 
hat  das  Mittelalter  lange,  lange  überlebt  und  selbst 
noch  im  18.  Jahrhundert  bestanden.  Es  ist  richtig, 
daß  derartige  Exekutionen  an  einem  Bilde  oder  einer 
Strohpuppe  auch  der  Abschreckungstheorie  dienen 
und  zeigen  sollten,  wie  die  Obrigkeit  mit  einem  Men- 
schen, der  das  in  Frage  kommende  Verbrechen  be- 
gehe, umzuspringen  pflege.  Das  mag  dann  ein  bei 
aller  Lächerlichkeit  eines  solchen  Verfahrens  immer- 
hin noch  ganz  leidlich  vernünftiger  Gedanke  gewesen 
sein.  Das  ursprüngliche  Motiv  war  aber  doch  das, 
daß  man  glaubte,  der  entwichene  Verbrecher  müsse 
das  wirklich  körperlich  empfinden,  was  man  seiner 
Puppe  oder  seinem   Bilde  antue.    Mindestens  wurde 


—    253    — 

dieser  zweifellos  allgemein  gehegte  Glaube  durch  die 
öffentlichen  Hinrichtungen  von  Strohpuppen  usw.  leb- 
haft genährt. 

Wenn  man  aber  annimmt,  dieser  Aberglaube  habe 
nur  im  sogenannten  finsteren  Mittelalter  bestanden,  so 
irrt  man  sich  gewaltig;  es  ist  nicht  zu  viel  gesagt,  wenn 
man  behauptet,  daß  es  sich  bis  in  unsere  Tage  er- 
halten hat.  Freilich  nicht  so  allgemein  wie  einst,  wo 
alle  Kreise  ihm  zuneigten,  denn  jetzt  dürfte  wohl  ein 
gebildeter  Mensch  über  derartige  Magierkünste  kaum 
noch  ein  mitleidsvolles  Lächeln  übrig  haben.  Noch 
im  Jahre  1897  hat  sich  in  Rom  eine  Zauberer-Tragi- 
komödie abgespielt.  Die  Zauberin  war  eine  47  jährige 
Frau  Adele  Fabi,  die  in  Rom  Via  Santi  4  ihre  Hexen- 
küche aufgeschlagen  hatte  und  sich  offenbar  bei  der 
Bevölkerung  eines  großen  Ansehens  erfreute.  Der 
Polizei  fiel  diese  Magierin  wegen  einer  Affäre  in  die 
Hände,  die  ziemliches  Aufsehen  erregte.  Eine  Frau 
Hermelinde  Scaccia  scheint  die  eheliche  Treue,  die 
sie  ihrem  Gatten  gelobt  hatte,  nicht  allzu  peinlich  ge- 
halten zu  haben,  wenigstens  wollte  ihr  Mann  gern 
auf  das  ihm  sehr  zweifelhaft  erscheinende  Glück,  sie 
weiter  eine  Genossin  nennen  zu  dürfen,  verzichten. 
Er  hatte  die  Scheidung  beantragt  und  sich  dadurch 
den  Zorn  der  edlen  Hermelinde  in  so  hohem  Maße 
zugezogen,  daß  diese  beschloß,  es  dem  sauberen 
Herrn  Gemahl  gründlich  anzustreichen.  Sie  selbst 
konnte  allerdings  ihren  Rachedurst  nicht  direkt  be- 
friedigen, denn  zu  einer  Gattenmörderin  hatte  sie  er- 
freulicherweise wenig  Talent,  und  zu  einer  Züchtigung 
des  Herrn  Gemahls  wollte  sie  sich  nicht  aufraffen, 
da  sie  bei  einem  Angriff,  wie  sie  wohl  selbst  ein- 


—    254     — 

sehen  mochte,  jedenfalls  sehr  schlecht  weggekommen 
sein  würde.  So  wendete  sie  sich  denn  Hilfe  erbittend 
an  die  berühmte  Zauberin  der  Via  Santi,  Adele  Fabi. 
Diese  erklärte  sich  sofort  bereit,  die  erbetene 
Hilfe  zu  leisten,  jedenfalls  nachdem  die  rachsüchtige 
Gattin  bewiesen  hatte,  daß  sie  die  Mittel  besitze, 
sich  solche  Extravaganzen  „leisten"  zu  können.  Zu- 
nächst erhielt  die  Scaccia  von  der  Hexe  ein  Paket 
mit  irgend  einem  Zauberpulver,  das  sie  dem  Herrn 
Gemahl  in  die  Suppe  streuen  sollte.  Jedenfalls  war 
dieses  Pulver,  wenn  auch  gerade  keine  angenehme 
Suppenwürze,  so  doch  auch  kein  gefährliches  Gift. 
Geschadet  hat  es  Herrn  Scaccia  wenigstens  nichts, 
obwohl  es  wirklich  vorschriftsmäßig  in  die  Suppe  ge- 
mischt worden  war.  Die  Hexe  hat  auch  selbst  dem 
Pulver  keine  besondere  Wirkung  zugetraut,  es  wohl 
nur  als  Hokuspokus  gegeben,  um  ihrer  Kundin  den 
regen  Eifer,  mit  dem  sie  dieser  helfen  wollte,  zu  be- 
weisen. Die  eigentliche  Hexerei  sollte  erst  später 
vorgenommen  werden;  zu  dieser  Tätigkeit  erbat  sich 
die  Hexe  ein  Bildnis  des  Herrn  Scaccia,  das  sie  natür- 
lich auch  erhielt,  denn  der  schönen  Hermelinde  war 
die  Rache  bitterer,  grimmiger  Ernst.  Es  ist  nun  zur 
Ausführung  des  Zaubers  in  diesem  Falle  nur  zum 
Teile  gekommen.  Die  Welt,  in  der  man  sich  nicht 
langweilen  will,  hat  eine  kräftige  Akustik,  und  so 
war  denn  auch  die  Verbindung  der  Frau  Hermelinde 
Scaccia  mit  der  wundertätigen  Zauberin  nicht  unbe- 
merkt geblieben.  Vielleicht  hat  Hermelinde,  die  weise 
Vorsicht,  daß  man  beim  Zaubern  nicht  sprechen  dürfe, 
wenn  man  die  Wirkung  nicht  stören  wolle,  außer 
Acht  gelassen  und  selbst  nicht  reinen  Mund  gehalten; 


—    255    — 

jedenfalls  wußten  verschiedene  Personen,  daß  die  Tage 
des  Herrn  Scaccia  gezählt  seien,  da  ihn  die  Fabi  durch 
ihre  Zauberkünste  auslöschen  wolle  wie  eine  Un- 
schlittkerze. 

Das  wußte  schließlich  auch  Herr  Scaccia  selbst, 
denn  ein  gefälliger  Freund  hatte  ihm  die  interessante 
Neuigkeit  brühwarm  mitgeteilt,  und  man  kann  es  ihm 
nicht  so  sehr  verübeln,  daß  er  seinerseits  das  Komplott 
wieder  der  Polizei  berichtete,  denn  ein  Vergnügen  ist 
es  sicherlich  nicht,  sich  von  seiner  Frau  und  einer 
gefährlichen  alten  Hexe  nach  dem  Leben  trachten  zu 
lassen.  Man  kann  ja  niemals  wissen,  was  bei  so 
einer  Verschwörung  herauskommt,  und  schließlich  war 
Herr  Scaccia  nicht  minder  abergläubisch  als  seine 
bessere  Hälfte,  die  er  allerdings  für  die  schlechtere  hielt. 
Um  so  eher  aber  war  seine  Furcht  berechtigt. 

Die  Polizei  nahm  diese  Sache  durchaus  ernst,  und 
sofort  begab  sich  ein  Kommissar  in  die  Wohnung  der 
Magierin.  Er  hatte  sogar  zu  seinem  Schutze  mehrere 
Schutzleute  mitgenommen,  denn  ob  man  in  die  Höhle 
des  Löwen  oder  in  die  Hexenküche  einer  berüchtigten 
Zauberin  geht,  —  man  kann  niemals  wissen!  Das 
Bild,  das  sich  dort  den  Vertretern  der  irdischen  Ge- 
rechtigkeit bot,  war  einigermaßen  überraschend.  Ein 
Tisch  vertrat  die  Stelle  des  Hexenaltars.  Auf  diesem 
standen  zwei  brennende  Kerzen  und  zwischen  diesen 
das  Bild  des  Herrn  Scaccia,  das  mit  einem  feuerroten 
Bande  umschürt  war  —  die  rote  Farbe  spielt  immer 
eine  besondere  Rolle.  Vor  dem  Tisch-Altar  kniete 
die  Hexe,  rang  die  Hände  und  murmelte  ihre  Formeln. 
Sie  war  nicht  allein.  Die  schöne  Hermelinde  hatte 
sich  offenbar  nicht  überwinden  können,  der  Zauber- 


—     256    — 

Sitzung  beizuwohnen,  da  sie  aber  doch  wissen  wollte, 
„Wieso  und  wie",  hatte  sie  ihre  Freundin  Maria  Cres- 
centia  entsendet,  die  aufpassen  sollte,  ob  die  Zauberin 
auch  wirklich  ihre  Pflicht  tue  und  ihr  Handwerk 
verstehe.  Maria  war  tief  ergriffen.  Aber  auch  die 
Fabi  war  bald  ergriffen,  allerdings  nicht  vom  frommen 
Schauder,  sondern  vom  weltlichen  Arme  der  Gerechtig- 
keit. Es  stellte  sich  heraus,  daß  auf  dem  Bilde  des 
Herrn  Scaccia  die  Augen  ausgestochen  waren,  und 
außerdem  waren  dem  Bilde  noch  einige  Nadeln  in 
die  Seiten  gesteckt.  Es  hatte  also  eine  sehr  böse 
Rache  werden  sollen.  Ob  nun  das  Ausstechen  der 
Augen  und  das  Durchlochen  des  Bildes  mit  Nadel 
seine  Wirkung  nicht  erfüllen  konnte,  weil  die  Hexe 
bei  ihren  Zauberformeln  gestört  worden  war,  mag 
dahingestellt  bleiben;  jedenfalls  aber  hat  diese  Pro- 
zedur Herrn  Scaccia  nicht  das  Mindeste  geschadet. 
Man  sollte  es  aber  nicht  für  möglich  halten,  daß  noch 
im  Zeitalter  der  Aufklärung  solche  Dinge  passieren! 
Als  ob  nicht  heutigen  Tages  noch  Schlimmeres  an 
Dummheit   geleistet   würde. 

Ich  will  mich,  wie  gesagt,  nicht  darauf  einlassen, 
hier  festzustellen,  wie  unendlich  oft  „Zauberer"  ver- 
urteilt worden  sind,  die  durch  Ausstechen  der  Augen 
eines  Wachsbildes  usw.  ihre  Kunst  geübt  hatten  oder 
doch  wenigstens  geübt  haben  sollten;  ich  glaube  aber, 
doch  mindestens  soweit  auf  diese  im  höchsten  Grade 
kulturhistorisch  interessante  Sache  eingehen  zu  müssen, 
um  beweisen  zu  können,  daß  dieser  Aberwitz  ge- 
radezu zu  einem  Kirchendogma  erhoben  wurde,  so 
daß  es  hieraus  doppelt  und  dreifach  erklärt,  wenn 
die  Menschheit  kritiklos  den  Unsinn  glaubte  und,  wie 


—    257     — 

wir  aus  dem  letzten  Beispiel  ersehen  haben,  auch 
jetzt  noch  glaubt,  mindestens  in  Gegenden,  in  denen 
die  Kirche  und  ihr  Oberhaupt  noch  höher  gestellt  wird 
als  Gott  selbst  und  der  Erlöser,  auf  dessen  Namen 
sich  das  Christentum  gründet.  Das  Oberhaupt  der 
Kirche  ist  Meister,  und  auf  des  Meisters  Worte  schwört 
man    bekanntlich. 

Es  versteht  sich  von  selbst,  daß  die  alten,  von 
der  Kirche  anerkannten  und  weiter  erzählten  Beispiele 
die  Wirklichkeit  und  Gefährlichkeit  des  Zaubers,  für 
den  die  Franzosen  das  schöne  Wort  „Envoutement" 
erfunden  haben,  beweisen  sollten,  daß  also  in  diesen 
Beispielen,  von  denen  ich  natürlich  nur  einen  sehr 
bescheidenen  Teil  wiedergebe,  die  Wirkung  des  Zau- 
bers als  eine  erwiesene  Tatsache  geschildert  wird. 
Das  ist  etwa  dasselbe,  was  wir  bei  allen  Judenver- 
folgungen finden.  Geschah  irgend  ein  Unglück,  brach 
ein  Krieg  oder  eine  Seuche  oder  selbst  eine  Ueber- 
schwemmung  usw.  aus,  so  war  es  einwandsfrei  er- 
wiesen, daß  die  Juden  durch  Vergiftung  der  Brunnen, 
Wiesen  oder  sonst  einen  heimtückischen  Akt  das  Uebel 
verschuldet  hatten.  Das  war  eben  „bewiesen".  Wo- 
durch? Ja,  man  glaubte  es  einfach  oder  behauptete  es, 
und  was  ein  Christmensch  gegen  einen  Juden  be- 
hauptete, das  war  einfach  hinreichend  bewiesen  und  ge- 
nügte, über  die  Juden  herzufallen.  Nebenbei  ein  recht 
gutes  Geschäft,  denn  die  Judenverfolgungen  waren 
stets  mit  einer  großen  Plünderung  verbunden,  die  in 
der  Regel  reiche  Beute  brachte,  da  die  Juden,  die 
das  Wucherprivilegium  besaßen  und  schließlich  auch 
besitzen  mußten,  weil  man  ihnen  die  ehrlichen  Er- 
werbszweige sperrte,  trotz  allem  äußeren  Elend  doch 

17 


—     258     — 

es  trefflich  verstanden,  Schätze  zu  sammeln,  die  die 
Motten  fressen  und  die  der  Rost  verzehrt  —  falls 
man  den  chemisch-wissenschaftlich  widerlegbaren  Glau- 
ben, das  Gold  und  Silber  rosten,  einmal  nicht  so 
gründlich  auf  seine  Berechtigung  prüfen  will.  Jeden- 
falls gab  es  bei  den  Juden  immer  so  viel  zu  holen, 
daß  auch  die  Herrscher  sich  nicht  genierten,  diese 
geduldeten  und  wenig  beliebten  Untertanen  gelegent- 
lich gründlich  zu  erleichtern.  Ja,  es  fällt  nicht  ein- 
mal schwer,  wenigstens  für  einen  Teil  der  bekannten 
Judenmassakres  den  historischen  Nachweis  zu  er- 
bringen, daß  das  urspringliche  Motiv  des  Judenmordens 
lediglich  das  schon  von  Vergil  angewendete  „A  u  r  i 
sacra  fames"  war.  Durch  die  kühn  aufgestellte  An- 
schuldigung, daß  die  Juden  durch  irgend  eine  schier  un- 
mögliche Schandtat  den  Christen  den  Untergang  hätten 
bereiten  wollen,  dann  wurde  der  brutale  Raubmord 
zu  einer  heiligen  Handlung. 

Mitten  hinein  in  diese  Materie  führt  uns  ein  kirch- 
lich anerkanntes  Beispiel,  das  ich  deshalb  nicht  über- 
gehen will,  weil  es  ganz  besonders  lehrreich  ist.  Im 
Jahre  1067  hatte  der  Erzbischof  von  Trier  sich  die 
Bekehrung  der  Juden  zum  Christentum  ganz  be- 
sonders angelegen  sein  lassen.  Er  verlangte  einfach, 
daß  innerhalb  einer  bestimmten  Frist  alle  Juden 
Christen  werden  müßten;  wer  sich  weigerte,  diesem 
Befehl  zu  folgen,  der  sollte  aus  der  Stadt  fortgejagt 
oder,  was  in  damaliger  Zeit  bei  solchen  Gelegen- 
heiten so  ziemlich  dasselbe  war,  totgeschlagen  werden. 
Wenn  nun  die  Christen  stets  ihre  Märtyrer  als  Heilige 
verhert  haben,  weil  sie  weder  durch  Drohungen,  noch 
durch  Gewalt  zu  bewegen  waren,  ihren  Glauben  zu 


—    259     — 

wechseln,  so  wurde  es  mit  derselben  Inkonsequenz, 
die  auch  sonst  das  Dogma  „ausgezeichnet",  den 
Juden  als  ein  todeswürdiges  Verbrechen  angerechnet, 
daß  sie  ihrem  Glauben  treu  bleiben  wollten.  Jeden- 
falls dachten  auch  1067  in  Trier  die  Rabbiner  garnicht 
daran,  sich  dem  unberechtigten  Gebot  zu  fügen,  und 
auch  die  strenggläubigen  Juden,  die  dort  ihres  Juden- 
tums wegen  schon  soviel  zu  leiden  hatten  und  doch 
ihren  Glauben  nicht  ablegten,  waren  fest  entschlossen, 
alles  zu  dulden,  alles  zu  leiden  aber  —  Juden  zu 
bleiben,  und  wenn  es  schon  nicht  anders  sein  könne, 
als  Juden  zu  sterben.  Der  Erzbischof,  der  ein  sehr 
eifriger  und  jedenfalls  auch  ein  leicht  erregbarer  Herr 
war,  hatte  an  einem  Sabbath  eine  Taufe  zu  vollziehen, 
und  wie  die  Geschichte  behauptet,  starb  er  an  einem 
Schlaganfall,  während  er  diese  amtliche  Handlung 
ausführte.  Das  war,  wie  gesagt,  an  einem  Sabbath, 
also  an  dem  Feiertag  der  Juden,  die  wohl  zu  der- 
selben Stunde  bei  ihrem  Gottesdienst  versammelt  sein 
mochten.  Der  Tod  des  Bischofs  erfolgte  zu  einer  Zeit, 
zu  der  die  den  Juden  gewährte  Frist  fast  abgelaufen 
war.  Das  mußten  also  doch  Indizien  sein,  die  nicht 
den  leisesten  Zweifel  daran  aufkommen  ließen,  daß 
nur  die  Juden  den  Tod  des  Erzbischofs  verschuldet 
haben  konnten.  Es  war  gerade  eine  Art  Notwehr, 
die  natürlich  nur  insoweit  als  eine  Notwehr  gelten 
durfte,  wie  dieser  Begriff  als  Beweismaterial  verwendet 
werden  konnte,  d.  h.  das  Motiv  ergab,  aus  dem  die 
Juden   ihre  Verbrechen   beschlossen  hatten. 

Es  wird  nun,  wohl  als  wahrheitsgemäßer  Bericht 
der  damaligen  Vorgänge,  weiter  erzählt,  die  Rabbiner 
hätten    in    ihrer    Verzweiflung    über    die    nahebevor- 

17* 


—     260    — 

stehende  Ausweisung  resp.  Niedermetzelung,  die  sie 
nicht  durch  eine  erheuchelte  Bekehrung  abwenden 
mochten,  sich  an  einen  Zauberer  gewendet,  der  auch 
ein  Wachsbild  angefertigt  und  auf  den  Namen  des 
Erzbischofs  Eberhard  feierlich  getauft  habe.  Dieses 
Wachsbild  hätten  die  Juden  am  Sabbath  verbrannt, 
um  dadurch  den  gefährlichen  Erzbischof  zu  vernichten^ 
dem  doch  natürlich  das  geschehen  mußte,  was  seinem 
Bilde  widerfuhr,  wenn  auch  nicht  gerade  auf  die 
gleiche  Weise  die  Vernichtung  herbeigeführt  wurde. 
Die  Wirkung  sei  nicht  ausgeblieben,  denn  der  plötz- 
liche Tod  nach  einem  kurzen  Unwohlsein,  das  eben- 
falls erst  entstand,  als  die  Juden  das  Bild  anzündeten, 
konnte  keine  andere  Ursache  haben  als  die  Zauberei 
der  Juden,  die  als  eine  erwiesene  Tatsache  betrachtet 
wurde  und  den  hochwillkommenen  Vorwand  zu  einer 
Metzelei  gab,  die  zwar  ohnehin  nicht  ausgblieben 
wäre,  auf  diese  Weise  aber  noch  viel  gerechtfertigter 
erscheinen   mußte. 

Man  hatte  diesmal  also  die  Tätigkeit  des  Zauberers 
bloß  auf  das  Anfertigen  und  Taufen  des  Wachsbildes 
beschränkt,  jedenfalls  um  die  Aktivität  der  Juden  zu 
steigern.  Ob  diese  nun  wirklich  ein  solches  Wachs- 
bild besessen  und  verbrannt  haben?  Wer  sollte  das 
sagen!  Die  Beweisführung  machte  man  sich  außer- 
ordentlich leicht;  der  Tod  des  Erzbischofs  unter  immer- 
hin nicht  alltäglichen  Erscheinungen  stand  fest,  daß 
er  den  Juden  gelegen  kommen  mußte,  konnte  nicht 
bezweifelt  werden,  folglich  hatten  sie  ihn  herbeigeführt. 
Da  sie  der  heiligen  Handlung  des  Erzbischofs  weder 
beigewohnt,  noch  sonst  irgend  eine  Gelegenheit  ge- 
funden hatten,  dem  kirchlichen  Würdenträger  ein  Gift 


—    261     — 

oder  dergleichen  direkt  beizubringen,  konnten  sie  na- 
türlich nur  duch  Zauberei  den  Tod  verursacht  haben. 
Und  da  gab  es  wieder  kein  bekannteres  Mittel  als 
das  Wachsbild;  ergo  war  diese  Art  des  Zaubers  er- 
wiesen. Das  wäre  dann  wohl  der  übliche  Verlauf 
reiner  solchen  Sache  gewesen.  Möglich  wäre  es  nun 
freilich,  daß  die  Juden,  denen  das  Wachsbilzaubern 
wohl  ebenso  gut  bekannt  war  wie  den  Christen,  sich 
wirklich  ein  Wachsbild  verschafft  und  es  auf  den 
Namen  des  Erzbischofs  hätten  taufen  lassen,  es  wäre 
ferner  denkbar,  daß  sie  es  verbrannt  hätten,  als  der 
Erzbischof  dem  Herzschlag  erlag.  Das  wäre  dann 
ein  Zusammentreffen  gewesen,  wie  es  im  Menschen- 
leben nicht  allzu  selten  vorkommt,  ohne  das  deshalb 
ein  Zauber  wirksam  wäre.  Es  ist  aber,  wie  gesagt, 
absolut  nicht  die  Spur  von  einem  solchen  Zusammen- 
treffen der  einzelnen  Ergebnisse  erwiesen,  und  daß 
die  Juden  das  Bild  verbrannt  haben  sollten,  das  war 
auch  wieder  eine  hübsch  erfundene  Auslegung,  die 
es  den  Anklägern  ersparte,  das  Wachsbild  als  C  o  r  p  u  s 
delicti  zur  Stelle  zu  schaffen;  es  war  eben  ver- 
brannt! Wie  schön  hätte  man  sonst  vorgehen  und 
den  Beweis  für  alle  Zeiten  aufbewahren  können! 
Etwa  ein  mit  Nadel  durchstochenes  Wachsbild,  das 
bei  den  Juden  gefunden  worden  wäre,  als  der  Erz- 
bischof eben  verschieden  war.  Eigentlich  schade,  daß 
das  Wachsbild  verbrannt  war.  Oder  auch  nicht  schade, 
denn  daß  die  Juden  wirklich  die  feigen  Mörder  waren, 
die  den  von  ihnen  ebenso  gefürchteten  wie  gehaßten 
Erzbischof  durch  Zauberei  ums  Leben  gebracht  hatten, 
daran  zweifelte  doch  auch  so  kein  „vernünftiger" 
Mensch,   mindestens  wäre  es  unvernünftig  gewesen, 


—    262     — 

die  Anschuldigung  nicht  zu  glauben,  die  den  wunder- 
vollen Grund  zu  blutiger  Rache  bot.  Was  man  von 
ganzem  Herzen  wünscht,  das  glaubt  man  ja  stets  so 
gern  und  überredet  sich  so  gern  mit  einer  Eloquenz,  die 
einem  Demosthenes  zur  Ehre  gereicht  haben  würde, 
es  zu  glauben,  wenn  der  Verstand  sich  gegen  diesen 
Glauben  sträuben  will.  Das  letztere  war  aber  1067  zu 
Trier  wohl  ebensowenig  der  Fall  wie  an  allen  anderen 
Orten ;  die  Menschen  waren  Fanatiker,  besonders  wenn 
die  Kirche,  die  nicht  bloß  einen  guten  Magen,  son- 
dern auch  ein  ebenso  widerstandsfähiges  Gewissen 
besaß,    es   wünschte    und   für   vorteilhaft   fand. 

Daß  hohe  Geistliche  häufig  unter  dem  Bilder- 
zauber zu  leiden  hatten  oder  doch  wenigstens  zu 
leiden  behaupteten,  versteht  sich  von  selbst.  So  ein 
kleines  Attentätchen  zur  rechten  Zeit  kann  ja  auch 
die  Popularität  weltlicher  Herrscher  gewaltig  heben 
und  wird,  wie  böse  Menschen  behaupten,  auch  zu- 
weilen zur  Hebung  der  Popularität,  für  die  sich  sonst 
beim  besten  Willen  kein  Grund  entdecken  ließe,  ver- 
wendet, wie  wohl  auch  Bühnengrößen  zuweilen  die 
Geschichte  eines  bei  ihnen  verübten  Einbruchs  oder 
sonst  eines  Unfalles  ausposaunen  lassen,  damit  die  Welt 
wieder  einmal  darauf  hingewiesen  wird,  daß  wirklich 
die  Berühmtheit  noch  lebt  und  beileibe  nicht  in  Ver- 
gessenheit geraten  möchte.  Selbst  die  Päpste  haben 
derartige  Reklamen  nicht  verschmäht,  sie  sogar  zu- 
weilen offenbar  für  ganz  unerläßlich  notwendig  ge- 
halten, um  ihr  Ansehen,  das  zuweilen  gefährdet  war, 
zu   erhöhen. 

Der  Papst  Johann  XXII.,  nach  anderer  Bezeichnung 
wird   erst  sein   Nachfolger,   der  wegen   70  gemeiner 


—    263    — 

Verbrechen,  wie  Mord,  Raub,  Unzucht,  Blutschande 
usw.  abgesetzt,  dann  aber  begnadigt  und  zum  Kar- 
dinalbischof von  Tuskoli  ernannt  wurde,  als  Jo- 
hann XXII.  bezeichnet,  residierte  zu  Avignon,  wurde 
von  den  berühmtesten  Ratslehrern  wegen  seiner  völlig 
unberechtigten  Übergriffe  in  weltliche  Angelegenheiten 
hart  bekämpft,  von  den  Mönchen  der  Ketzerei  be- 
schuldigt und  war  wegen  beispiellosester  Gelderpres- 
sungen verrufen.  Dieser  Edele  behauptete  ebenfalls, 
daß  ihm  böse  Zauberer  nach  dem  Leben  getrachtet 
und  von  ihm  Wachsbilder  gefertigt  hätten.  Er  be- 
zeichnete als  Übeltäter  die  bösen  Zauberer  Brabancon 
und  Jean  d'Amant.  Der  letztere  war  ein  bekannter 
Arzt,  und  beide  mögen  wohl  Ursache  gehabt  haben, 
den  Papst  —  Johann  hatte  1316  den  päpstlichen  Stuhl 
bestiegen  —  nicht  gerade  mit  wohlwollenden  Augen 
anzusehen ;  vielleicht  hatte  auch  der  Papst  gegen  beide 
eine  private  Abneigung.  Kurz  und  gut,  —  Johann  XXII. 
beschuldigte  diese  beiden  Männer,  ihm  und  seiner 
ganzen  Umgebung  nach  dem  Leben  getrachtet  zu 
haben.  Sie  sollten  zunächst  giftige  Tränke  zubereitet 
und  versucht  haben,  diese  dem  Papste  beizubringen. 
Da  ihnen  die  schlimme  Absicht  aber  auf  keine  Weise 
gelungen  sei,  hätten  sie  Wachsbilder  angefertigt,  die 
sie  bezaubern  wollten,  um  auf  diese  Weise  dem 
Papste  den  Garaus  zu  machen.  In  dem  päpstlichen 
Bericht  über  diese  angebliche  Schandtat  ist  sehr 
salbungsvoll  betont,  daß  Gott  den  Papst  behütet  und 
drei  der  teuflischen  Bilder  in  seine  Hände  geliefert 
habe.  Diese  Bilder  sollen  schon  durchbohrt  gewesen 
sein,  so  daß  der  Papst  also  schon  mausetot  gewesen 
sein  müßte,  wenn  es  einem  solchen  Zauberer  faktisch 


-     264     — 

gegeben  hätte.  In  Wirklichkeit  hat  aber  der  Papst 
das  Alter  von  90  Jahren  erreicht,  so  daß  man  wohl 
schon  hieraus  erkennen  muß,  wie  wenig  nachteilig 
der  Zauber  auf  ihn  gewirkt  hat. 

Der  Papst  hat,  vielleicht  ohne  es  zu  wissen,  in 
seinem  Schreiben  ein  großes  Wort  gelassen,  nieder- 
geschrieben; er  hätte  damit,  wenn  er  selbst  oder  die 
Menschen,  die  es  zu  Gesicht  bekamen,  logisch  zu 
denken  vermocht  hätten,  dem  ganzen  Zauberaber- 
glauben den  Todesstoß  versetzen  müssen.  Er  sagte, 
daß  Gott  ihn  behütet  und  die  teuflischen  Zauber- 
bilder in  seine  Hände  geliefert  habe;  er  hat  damit 
doch  klipp  und  klar  gesagt,  daß  der  Zauberer  nicht 
mächtiger  sein  könne  als  Gott,  der  im  Gegenteil  all- 
mächtig und  deshalb  auch  in  der  Lage  sei,  die  Zauber- 
künste eines  Menschen  unschädlich  zu  machen,  mit 
anderen  Worten,  daß  ohne  Gottes  Willen  ein  Zauber 
überhaupt  nicht  existieren,  mindestens  doch  nicht  ge- 
lingen könne.  Das  ist  doch  aber  gerade  das  strikte 
Gegenteil  von  dem,  was  die  Kirche  —  auch  die  pro- 
testantische —  bei  ihren  Hexenverfolgungen  lehrte. 
Danach  wäre  doch  der  große  Gott,  auf  den  die  Kirche 
schwört,  in  Wirklichkeit  nicht  mehr  der  Lenker  und 
Leiter  der  Welt  und  der  Menschenschicksale,  sondern 
nur  ein  machtloser  Schemen  gewesen,  der  nicht  einen 
einzigen  Menschen  vor  der  Tücke  eines  gemeinen 
und  verkommenen  Subjekts  hätte  retten  können,  der 
erst  recht  machtlos  zusehen  mußte,  wenn  ein  schlechter 
Mensch  beliebte,  durch  irgend  einen  Zauber  ganze 
Völker  oder  deren  Wohlstand,  den  doch  Gott  gewollt 
haben  mußte,  weil  er  ihn  ihnen  sonst  nicht  gewährt 
hätte,    zu  vernichten.    Das  ist   ein   Moment,    das   an 


—     265     — 

sich  klar  beweisen  muß,  daß  eigentlich  viel  weniger 
der  Zauber  selbst  eine  Gotteslästerung  war,  als  der 
Glaube  an  den  Zauber.  Es  ist  aber  das  auch  wieder 
ein  Beweis  dafür,  daß  nichts  auf  der  Welt  so  schwer 
gegen  die  wirkliche  Gottesreligion  verstoßen  kann  als 
das  Nachbeten  all  des  Blödsinns,  den  im  Laufe  der 
Jahrhunderte  für  die  wahre  und  wirkliche  Religion 
auszugeben,  hirnverbrannte  Menschen  den  traurigen 
Mut  besessen   haben. 

Was  soll  ich  weiter  eingehen  auf  alle  die  öden 
Historien,  in  denen  berichtet  wird,  daß  Päpste  die 
Opfer  des  Bilderzaubers  werden  sollten  oder  wirklich 
geworden  seien?  Ich  will  aber  noch  einige  Große 
erwähnen,  die  dem  Bilderzauber  zum  Opfer  gefallen 
sein  sollen.  Katharina  von  Medizi  wird  nachgesagt, 
daß  sie  Carl  X.  nach  dem  Leben  getrachtet  habe. 
Sie  soll  sich  nach  dem  Orient  gewendet  haben,  dem 
Heimatlande  des  Zaubers,  um  dort  Hilfe  zu  finden, 
und  es  soll  ihr  auch  gelungen  sein,  von  einem  Orien- 
talen ein  Wachsbild  Carls  X.  zu  erhalten,  mit  dem 
sie  den  Zauber  ausführen  konnte.  Katharina  ist  aller- 
dings historisch  als  eine  der  ränkesüchtigsten  Per- 
sonen bekannt;  in  der  Erzählung  ist  aber  doch  wohl 
hinsichtlich  Carls  X.  ein  historischer  Schnitzer  ent- 
halten, auf  den  ich  hier  aber  nicht  ausführlicher  ein- 
zugehen brauche,  da  ich  nur  die  Erzählung  so  wieder- 
geben will,  wie  ich  sie  aufgezeichnet  finde.  Man  hat 
es  damals  offenbar  nicht  gewagt,  gegen  die  ränke- 
süchtige Katharina  vorzugehen,  sondern  nur  deren  be- 
vorzugten Günstling  Cosmus  Ruggieri  ergriffen.  Das 
war  im  Jahre  1574.  Ruggieri  leugnete  jede  ver- 
brecherische Absicht,  da  er  aber  der  versuchten  zauberi- 


—    266     — 

sehen  Mordtat  hinreichend  verdächtig  erschien,  machte 
man  nicht  viel  Umstände  mit  ihm,  schleppte  ihn  in 
die  Folterkammer  und  „redete"  ihm  dort  so  nach- 
drücklich zu,  daß  er  sich  zu  dem  Geständnis  be- 
quemte, er  habe  wirklich  und  wahrhaftig  die  Zauberei 
angewendet,   um   Carl  nach   dem   Leben   zu   trachten. 

Wieder  kann  diese  Erzählung  nur  beweisen,  daß 
einmal  der  Aberglaube  des  Bilderzaubers  bestand  und 
allgemein  gehegt  wurde,  ferner  aber  auch,  daß  diese 
Zauberkunst  in  Wirklichkeit  eine  recht  harmlose  und 
ungefährliche  Spielerei  war,  ungefährlich  allerdings  nur 
für  den,  dem  sie  schaden  sollte,  denn  für  den,  der 
einem  anderen  schaden  wollte  oder  auch  nur  in  den 
Verdacht  kam,  dies  gewollt  zu  haben,  war  sie  sehr 
gefährlich.  Freilich  dem  bekannten  Jesuiten  Delrio 
paßte  das  sehr  wenig.  Zweck  heiligt  das  Mittel! 
Der  Zauber  mußte  auf  alle  Fälle  rehabilitiert  werden, 
denn  was  hätte  sich  wohl  mit  einer  Zauberei  großes 
verrichten  und  anfangen  lassen,  die  dem  Fluche  der 
Lächerlichkeit  verfallen  mußte,  weil  sie  stets  wir- 
kungslos blieb?  Nach  Delrio  ist  Carl  lediglich  ge- 
storben infolge  des  Zaubers;  gestorben  ist  ja  aller- 
dings Carl  auch  wirklich,  aber  dem  braven  Delrio 
kam  es  auf  den  Zauber  an,  ergo  mußte  Carl  ein  Opfer 
der  Zauberei  werden,  und  da  es  recht  vorteilhaft 
ist,  gleich  zwei  Fliegen  auf  einen  Schlag  zu  erlegen, 
ließ  Delrio  als  Täter  protestantische  Zauberer  auf- 
treten, die  aus  Rache  für  die  Bartholomäusnacht  die 
Wachsbilder  Carls  geschmolzen  und  diesen  dadurch 
vernichtet  haben  sollten. 

Nicht  alle  Schriftsteller  besitzen  den  Mut  und  die 
Unverfrorenheit  eines  Delrio.    Wo  es  durchaus  nicht 


-     267    — 

gehen  will,  daß  der  gefährdete  Herrscher  wirklich  als 
Opfer  der  Zauberei  bezeichnet  wird,  da  findet  sich  zur 
Not  auch  ein  anderer  Ausweg,  der  das  Ansehen  der 
Zauberkunst  nicht  so  schwer  gefährdet,  den  Bedrohten 
aber  am  Leben  lassen  darf.  So  wird  von  dem  alten 
schottischen  Könige  Duffo  berichtet,  daß  er  einst  sehr 
krank  gewesen  sei.  Man  habe  sich  aber  über  die  Natur 
des  Leidens  zunächst  den  Kopf  zerbrochen,  dann  aber 
entdeckt,  daß  einige  Zauberer  ihr  Wesen  getrieben 
hatten.  Diese  böse  Herren  wollten  das  Lebenslicht 
des  Königs  durchaus  verlöschen  und  hatten  deshalb 
ihre  behexten  Wachsbilder  bei  einer  Feuersbrunst  mit 
verbrennen  lassen.  Sie  wurden  ergriffen  und  legten 
das  Geständnis  ab  —  man  wird  wohl  genügend  nach- 
geholfen haben,  —  daß  sie  durch  ihre  Zauberei  das 
Leiden  des  Königs  herbeigeführt  hätten,  und  daß  dieser 
Erfolg   von   ihnen   auch   beabsichtigt   gewesen   sei. 

Die  Festnahme  der  Zauberer  war  in  diesem  Falle 
das  Radikalmittel  für  die  Herstellung  des  Königs,  der 
von  Stund  an  wieder  gesund  wurde.  Demnach  müßte 
also  der  Zauber,  der  doch  längst  vollendet  war  und 
auch  schon  so  wunderbar  wirkte,  durch  die  nach- 
trägliche Festnahme  der  Übeltäter  wieder  aufgehoben 
worden  sein.  Das  wäre  dann  bei  der  Geschichte  eigent- 
lich das  Wunderbarste  gewesen;  es  zeigt  aber,  auf 
welche  Auswege  der  menschliche  Geist  verfiel,  wenn 
es  galt,  die  Ehre  der  Zauberei,  die  man  bekämpfen 
wollte,  wiederherzustellen. 

Auch  gegen  Ludwig  X.  war  ein  Envoutement  be- 
gangen worden.  Der  Schatzmeister  Enguerrando  de 
Marigny  war  beschuldigt,  die  Ermordung  des  Königs 
durch  Zauberei  betrieben  zu  haben  und  gestand  auch 


—     268     — 

zu,  daß  er  das  Bildnis  des  Königs  hergestellt  und  die 
Zauberei  begangen  habe.  Er  wurde  zum  Tode  ver- 
urteilt und  auch  hingerichtet.  Wieder  ein  Fall,  in  dem 
nur  der  Zauberer  selbst  den  Schaden  von  seiner  Kunst 
hatte.  Dem  König  hat  die  Sache  nichts  geschadet, 
was  freilich  nicht  dazu  führte,  daß  man  Zweifel  in 
die  Wirksamkeit  der  Zauberei  gesetzt  hätte. 

Verhältnismäßig  günstiger  schnitt  ein  anderer 
Zauberer  ab,  der  1331  nur  aus  dem  Lande  gewiesen 
wurde,  allerdings  nachdem  man  alle  seine  Güter  an- 
nektiert hatte.  Dieser  Frevler  sollte  den  König,  die 
Königin  und  außerdem  noch  den  Herzog  von  der  Nor- 
mandie  verzaubert  haben,  erfreulicherweise  wieder 
ohne  den  mindesten  Schaden  anzurichten. 

Ich  will  es  mit  dieser  Reihe  von  Beispielen  be- 
wenden lassen  und  nur  noch  des  armen  Hyacinthus 
Continus  gedenken,  der  den  Feuertod  erleiden  mußte, 
weil  er  beschuldigt  war,  den  Papst  durch  den  Bilder- 
zauber haben  töten  zu  wollen,  damit  sein  Onkel,  der 
es  bis  zur  Würde  eines  Kardinals  gebracht  hatte,  auch 
noch  die  höchste  Stufe  der  Oottähnlichkeit  erklimmen 
und  den  Stuhl  Petri  besteigen  könnte.  Daß  dieser  Weg 
nur  über  einen  Mord  führen  konnte,  das  änderte  ja 
glücklicherweise  an  der  Heiligkeit  des  Amtes  nichts. 
Auch  in  diesem  Falle  hat  dem  Papste  die  Zauberei 
nichts  geschadet.  Der  Onkel  des  Hyacinthus  Continus 
blieb  Kardinal;  aber  Continus  wurde  verbrannt.  Das 
Märchen  vom  Bilderzauber  aber  lebte  weiter  und  hat 
eine  Lebensfähigkeit  bewiesen,  die  nichts  umzubringen 
vermochte;  ja,  man  müßte  das  Märchen  sogar  für  eine 
wirkliche  und  unumstößliche  Wahrheit  halten,  wenn  es 
richtig  wäre,  daß  ein  Glaube,  der  sich  Jahrhunderte 


—    269    — 

oder  vielleicht  Jahrtausende  zu  erhalten  vermag,  schon 
durch  dieses  Alter  seine  völlige  Berechtigung  zu  er- 
weisen vermöge. 

Gerade  das  letztere  Argument  ist  in  der  Tat  von 
sonst  recht  vernünftigen  Leuten  zu  gunsten  des  Mär- 
chens angeführt  worden.  Man  hat  immer  wieder  ge- 
sagt, es  sei  doch  unmöglich,  daß  die  Menschheit  solche 
Ewigkeit  in  einem  Wahne  befangen  bleibe,  wenn  nicht 
doch  an  der  Sache  etwas  Wahres  sei.  So  dumm,  etwas 
weiterzuglauben,  was  sich  in  jedem  einzelnen  Falle 
als  ein  lächerlicher  Humbug  entlarvt  habe,  sei  die 
Menschheit   denn   doch   nicht. 

Nun,  ich  habe  mir  große  Mühe  gegeben,  an  den 
von  mir  gewählten  Beispielen  zu  zeigen,  ob  dieses 
Argument  begründet  ist.  Ich  würde  es  gern  dem  alten 
Abraham  gleichtun,  der  zum  Herrn  sagte,  als  Sodoms 
Untergang  beschlossen  war:  „Man  möchte  vielleicht 
zehn  Gerechte  drinnen  (in  Sodom)  finden!"  Ich 
würde  noch  weiter  gehen  und  sagen:  „Finde  ich  nur 
einen  einzigen  erwiesenen  Fall  des  Bildzaubers;  ich 
will  diesen  Wahn  nicht  verwerfen  um  des  einzigen 
Falles!"  Es  ist  mir  aber  leider  nicht  gelungen,  auch 
nur  einen  einzigen  Fall  zu  entdecken,  in  dem  der 
Zauber  als  wirksam  wirklich  bewiesen  worden  wäre. 
Nicht  einen  unter  tausenden!  Und  da  muß  man  sich 
trotz  alledem  immer  wieder  fragen,  wie  es  möglich 
sei,  daß  dieser  Aberglaube  nicht  allein  den  Jahr- 
tausenden getrotzt,  sondern  sich  auch  über  die  ganze 
Welt  verbreitet  haben  konnte.  Ovid  und  Horaz 
schreiben  über  den  Bilderzauber,  nicht  gerade  als 
überzeugte  Gläubige,  Horaz  sogar  in  Satyre,  aber  das 
Wunder  ist,  daß  selbst  bei  der  Entdeckung  Amerikas 


—    270     — 

dort  auch  der  Bilderzauber  bereits  entdeckt  und  ge- 
funden worden  sein  soll.  Wenn  man  annimmt,  daß 
der  Orient  die  eigentliche  Heimat  dieses  sonderbaren 
Zaubers  ist,  so  kann  man  wohl  ohne  weiteres  verstehen, 
daß  bei  dem  nun  einmal  bestehenden  Hang  zum 
Mystizismus,  bei  der  Neigung,  überall  geheimnisvolle 
Kräfte  wirkend  zu  wähnen  und  an  die  übernatürliche 
Gewalt  einzelnen  Personen  zu  glauben,  dieser  Aber- 
glaube sich  schnell  ins  Abendland  fortpflanzte.  Wie 
aber  konnte  der  Wahn  sich  bis  nach  Amerika  über- 
tragen? Es  ist  eine  direkte  Übertragung  von  der 
alten  Welt  nach  der  neuen  völlig  ausgeschlossen,  da 
man  die  neue  ja  zum  ersten  Male  betrat,  und  eine 
Gedankenübertragung  über  das  Weltmeer  in  unbe- 
kannte Welten,  deren  Dasein  niemand  ahnte,  wird 
wohl  selbst  denen  als  eine  gewagte  Erklärung  er- 
scheinen, die  an  sich  Gedankenübertragungen  als  eine 
über  jeden  Zweifel  festgestellte  wissenschaftliche  Tat- 
sache betrachten.  Es  müßten  denn  schon  die  Ge- 
danken ähnlich  wie  bei  der  drahtlosen  Telegraphie 
die  elektrischen  Wellen  überall  frei  in  den  Welten- 
raum ausstrahlen.  Selbst  wenn  man  ein  solches 
geistiges  Fluidum  aber  auch  annehmen  wollte,  so  würde 
das  noch  nichts  beweisen.  Auch  die  drahtlose  Tele- 
graphie, die  wirklich  frei  ausstrahlenden  elektrischen 
Wellen,  haben  nur  dann  einen  Wert,  wenn  sie  von 
einem  dem  Abgabeapparat  äquivalent  abgestimmten 
Empfangsapparat  aufgefangen  werden.  Ich  meine,  daß 
—  um  voll  im  Bilde  zu  bleiben  —  dieser  äquivalent 
abgestimmte  Empfangsapparat  jenseits  des  großen 
Wassers  nicht  vorhanden  war,  und  daß,  wäre  er  vor- 
handen gewesen,  —  sich  doch  wahrhaftig  nicht  nur 


—    271     — 

diese  eine  Idee  den  Weg  bis  zu  unseren  Antipoden  ge- 
bahnt haben  würde,  sondern,  daß  auf  der  bequemen 
und  einmal  entdeckten  Gedankenstraße  doch  wohl  erst 
recht  die  bedeutenderen  und  großartigeren  Ideen  ver- 
breitet sein  würden,  Ideen,  die  weltbewegende  Be- 
deutungen gehabt  haben,  nicht  die  eine  Idee,  daß  man 
durch  Mißhandlung  eines  Wachsbildes  eine  lebende 
Person  schädigen  oder  vernichten  könne.  Die  Einge- 
borenen Amerikas  haben  aber  keine  Ahnung  von  den 
großen  Gedanken  gehabt,  die  die  alte  Welt  bewegten; 
sie  haben  nicht  einmal  das  Schießpulver  und  die  Feuer- 
waffen gekannt  und  deshalb  die  Europäer,  die  Blitz 
und  Donner  gebieten  konnten,  für  Götter  gehalten. 
Wahrlich  schöne  Götter,  die  sich  benahmen,  daß  der 
leibhaftige  Teufel  sich  bis  in  die  tiefste  Tiefe  seiner 
schwarzen  Seele  hinein  geschämt  hätte,  wenn  das 
seine   offiziellen    Diener   gewesen    wären. 

Sehr  richtig,  sagen  vielleicht  einige  Spiritisten,  es 
ist  keine  Gedankenübertragung  im  Spiele,  sondern  es 
handelt  sich  um  Inspirationen  inferiorer  Intelligenzen. 
Das  klingt  bedeutungsvoll.  Die  auf  einer  niedrigen 
Stufe  stehenden  Geister,  die  quasi  zum  Schabernack 
der  Menschheit  die  Idee  des  Bilderzaubers  eingeblasen 
haben,  sind  eine  vortreffliche  Erklärung,  wenn  man 
einmal  die  spiritischen  oder  meinetwegen  die  spiritua- 
listischen  Gedanken  als  Wahrheiten  gelten  läßt,  auch 
in  ihren  weitesten  Ausdehnungen,  wobei  man  sich  dann 
freilich  wieder  darüber  wundern  müßte,  daß  weder 
gute  noch  böse  Geister  der  Menschheit  Dinge  ein- 
blasen, die  offenbar  ganz  bedeutend  wichtiger  wären 
als  ein  Unsinn,  der  doch  wahrlich  weder  im  guten, 
noch  im  schlechten  Sinne  eine  erhebliche  Bedeutung 


-     272     — 

haben  kann.  Es  ist  übrigens  auch  eine  den  logisch 
Denkenden  peinlichst  verletzende  Willkür,  die  jedes 
Streben  nach  Wahrheit  und  Erkenntnis  ersticken  müßte, 
anzunehmen,  daß  der  menschliche  Geist  nach  Be- 
lieben quasi  ausgeschaltet,  statt  dessen  aber  im  Men- 
schen irgend  ein  „Geist"  spuken  und  seine  Ideen  unter 
falscher  Flagge  der  Menschheit  aufoktroieren  sollte. 
Was  sind  denn  alle  Erfinder,  wenn  sie  sich  bloß  mit 
fremden  Federn  schmücken,  d.  h.  sich  der  Ideen  irgend 
einer  unbekannten  Intelligenz  rühmen  sollten,  die  in 
ihnen  tätig  war,  während  sie  selbst  schliefen?  Lassen 
wir  das  also. 

Viel  einfacher  würde  die  Erklärung  sein,  daß  ganz 
unabhängig  von  einander  die  Bewohner  zweier  Welt- 
teile auf  den  gleichen  Gedanken  gekommen  seien,  wie 
dies  absolut  nicht  so  selten  vorkommt,  auch  ohne 
daß  fremde  „Intelligenzen"  die  Welt  beglücken,  auch 
ohne  daß  von  einer  Gedankenübertragung  die  Rede 
sein  könnte.  Man  müßte  dann  natürlich  einen  in- 
stinktiven Hang  zum  Mysteriösen  als  bei  allen  Men- 
schen vorhanden  annehmen.  Tut  man  dies,  so  be- 
geht man  keinen  Irrtum,  denn  dieser  Hang  ist  tat- 
sächlich tief  in  eines  jedem  Menschen  Herzen  aus- 
geprägt, weil  sich  nach  den  sinnlichen  Wahrnehmungen 
die  Erkenntnis  aufdrängt,  daß  es  doch  noch  eine  große 
Anzahl  geheimnisvoll  waltender  Naturkräfte  rings  um 
uns  gibt,  für  die  wir  keine  Erklärung  finden  können, 
die  wir  als  aufgeklärte  Menschen  selbstverständlich 
nicht  für  übernatürlich  halten  dürfen,  die  wir  aber 
noch  nicht  ergründet  haben,  und  die  uns,  selbst  wenn 
wir  einen  Schritt  vorwärts  tun  in  der  Erkenntnis,  wie 
bei  der  Entdeckung  der  Röntgenstrahlen,  des  Radiums, 


—     273     — 

der  drahtlosen  Telegraphie  usw.,  doch  als  Wunder 
anmuten.  Wir  sehen  eine  Kraft,  wir  sehen  eine  Wir- 
kung und  wissen  doch  nicht  „von  wannen  sie  kommen, 
wohin  sie  gehen."  Warum  soll  der  gleiche  Hang 
zum  Mysteriösen  nicht  zu  dem  gleichen  Gedanken 
führen  können,  wenn  der  Weg  über  die  Götterbilder, 
die  man  statt  der  Gottheit  verehrt  —  übrigens  eben- 
falls eine  unabhängig  von  allen  Völkern  entwickelte 
Institution   —   so   nahe   liegt? 

Nun  läßt  sich  wohl  nicht  bestreiten,  daß  diese 
Erklärung  sehr  einfach  und  ungezwungen  ist;  es  gibt 
aber  gleichwohl  eine  noch  bedeutend  einfachere.  Als 
Amerika  entdeckt  wurde,  stand  der  Bilderaberglaube 
in  der  ganzen  alten  Welt  bereits  in  der  üppigsten 
Blüte,  ja  er  hatte  sozusagen  längst  die  kirchliche  Weihe 
erhalten  und  galt  deshalb  natürlich  auch  bei  den  „sehr 
frommen"  Eroberern  als  eine  Art  Dogma.  Ist  es  da 
nicht  außerordentlich  naheliegend,  daß  die  Europäer 
den  Bilderzauber  im  neuentdeckten  Wunderlande  tat- 
sächlich überhaupt  nicht  vorgefunden,  sondern  ihn 
lediglich  vermutet  haben,  da  sie  die  Gebräuche  des 
Landes  nicht  kannten  und  das,  was  sie  erblickten, 
deshalb  ganz  falsch  auslegten,  weil  sie  es  einfach  nach 
ihren  eigenen  Gebräuchen  und  Ansichten  bewerteten? 
Das  erscheint  mir  in  der  Tat  als  die  einfachste  Lö- 
sung der  Frage.  Es  ist  bekannt,  daß  die  Einwohner 
des  neuen  Weltteils,  soweit  sie  zuerst  mit  den  Euro- 
päern in  Berührung  kamen  und  dabei  einen  sehr 
sonderbaren  Eindruck  „höherer  Kultur"  erhielten, 
selbst  auf  einer  sehr  hohen  Kulturstufe  standen,  daß 
sie  besonders  in  der  Baukunst  und  nicht  minder  in 
der  Goldschmiedekunst   erfahren   waren.    Sie  stellten 

18 


—     274     — 

sich  nicht  bloß  ihre  großen  Götterbilder  aus  edlen 
Metallen  her,  sondern  fertigten  auch  kleine  Gott- 
heiten aus  Gold  usw.  an,  die  dem  Hausgebrauch 
dienten.  Da  ist  es  wohl  sehr  naheliegend,  daß  diese 
Götterbilder  nicht  als  das,  was  sie  wirklich  waren, 
sondern  als  Zauberbilder  angesehen  wurden.  Dazu 
kam  noch,  daß  es  die  „frommen  Eroberer"  recht 
günstig  fanden,  die  Eingeborenen  als  eine  Art  Teufels- 
knechte bezeichnen  zu  dürfen.  Die  Zauberei,  besonders 
die  Bilderzauberei  war  ihnen  als  wüste  Ketzerei  ver- 
schrieen, sie  war  ein  todeswürdiges  Verbrechen;  da 
kam  es  doch  den  Eroberern  eigentlich  ganz  gelegen, 
wenn  sie  die  Eingeborenen  auch  nach  dieser  Richtung 
hin  etwas  anschwärzen  konnten.  Das  entschuldigte 
vielleicht  eher  das  gemeine  und  perfide  Niedermetzeln 
der  friedfertigen  und  gegen  die  Waffen  der  Europäer 
geradezu  wehrlosen  Bevölkerung. 

Man  könnte  hier  vielleicht  den  Einwand  erheben, 
daß  ich  mir  die  Sache  gar  zu  leicht  mache  und  bloße 
Vermutungen  als  Widerlegung  hinstellen  möchte,  oder 
daß  einfache  Zweifel  schon  als  Widerlegung  von  Be- 
richten gelten  sollten.  Ich  möchte  aber  darauf  hin- 
weisen, daß  die  Sache  gerade  umgekehrt  liegt.  Es 
wird  doch  so  oft  die  Realität  des  Bilderzaubers  daraus 
geschlossen,  daß  dieser  über  die  ganze  Welt  verbreitet 
gewesen  sei.  Dieses  Argument  stützt  sich  auf  eine 
Annahme,  die  in  keiner  Weise  erwiesen  ist  Ich  meine 
deshalb,  daß  es  doch  wohl  lohnt,  die  Quellen,  aus 
denen  das  angebliche  Beweismaterial  fließt,  etwas  ge- 
nauer zu  prüfen,  und  daß,  wenn  man  dies  tut,  auch 
nicht  der  geringste  Beweis  dafür  vorliegt,  daß  wirk- 
lich  den    Eingeborenen   Amerikas   auch   nur   das   ge- 


—    275    — 

ringste  Detail  eines  Bilderzaubers  bekannt  gewesen  sei. 
Wenn  man  sagt,  es  stehe  fest,  daß  im  alten 
Ägypten  und  in  Assyrien  dieser  Zauber  bekannt  und 
verbreitet  gewesen  sei,  so  ist  damit  lediglich  das  be- 
stätigt, was  ohnehin  schon  feststeht,  daß  nämlich  die 
Magie  mit  Bildwerken  aus  dem  alten  Orient  stammt. 
Nun  hat  auch  der  Oberst  de  Rochas,  Direktor  der 
technischen  Hochschule  in  Paris,  sich  vielfach  mit  dem 
Phänomen  beschäftigt  und  zunächst  berichtet,  daß  auch 
in  China  und  bei  den  Eingeborenen  der  französischen 
Antillen  der  Zauber  mit  den  Bildnissen  bekannt  sei. 
Vorausgesetzt,  daß  diese  Mitteilung  buchstäblich  wahr 
ist,  daß  sie  nicht  auf  einer  falschen  Deutung  irgend 
eines  Brauches  beruht,  ist  auch  damit  nicht  viel  ge- 
sagt, denn  der  Weg  der  Ausbreitung  dieser  Magie 
des  Orients  schimmert  hier  klar  erkennbar  hindurch. 
Abgesehen  davon,  ist  es  aber  noch  sehr  die  Frage, 
ob  gerade  de  Rochas  der  objektive  Beobachter  ist, 
■der  berufen  erscheinen  könnte,  eine  solche  psycho- 
logisch doch  immerhin  hochinteressante  Frage  zu 
lösen.  Mir  erscheint  der  Mann  viel  eher  als  Partei, 
d.  h.  als  ein  Mann,  der  nicht  über  der  Sache  steht, 
sondern  der  unmittelbar  für  das  Wunder  eintritt,  es 
freilich  nicht  als  Zauberei  gelten  lassen  will,  dafür 
aber  eine  andere  Erklärung  gibt,  über  die  sich  nicht 
weniger  streiten  läßt.  De  Rochas  meint  nämlich,  daß 
es  möglich  und  ihm  tatsächlich  gelungen  sei,  die  Sen- 
sibilität bei  gewissen  hypnotisierten  Personen  exteriori- 
sieren  zu  können.  Er  will  mit  anderen  Worten  die 
Sensibilität  einer  Person  aus  dieser  herauslocken  und 
in  einen  andern  Gegenstand  laden  können.  Nimmt 
er  als  solchen  Gegenstand  z.  B.  ein  Bild  der  betreffen- 

18* 


—     276     — 

den  Person,  so  würde  diese  genau  an  derselben  Stelle, 
an  der  er  das  Bild  berühre,  die  Berührung  fühlen. 
Selbst  wenn  de  Rochas  das  mit  der  Sensibilität  der 
Person  geladene  Bild  mit  der  Nadel  steche,  so  fühle 
die  Person  selbst  an  genau  derselben  Stelle  ihres 
Körpers  deutlich  den  Nadelstich  und  greife  unwill- 
kürlich mit  der  Hand  nach  der  schmerzenden  Stelle. 
Das  Experiment  soll  in  der  Weise  vorgenommen 
worden  sein,  daß  die  Person  den  Experimentierenden 
während  des  Versuchs  nicht  einmal  sehen,  geschweige 
denn  bemerken  konnte,  was  er  tue,  oder  daß  er  etwas 
mit  ihrem  Bilde  tue.  Vorausgegangen  war  allerdings 
eine  Hypnose.  Man  wird  trotzdem  auf  des  Meisters 
Worte  nicht  schwören  dürfen. 

Daß  es  sich,  wenn  man  wirklich  jede  Silbe  in 
diesem  Bericht  für  ein  Evangelium  halten  und  jede 
„Nebenwirkung"  ausschalten  wollte,  doch  immer  nur 
um  ein  hypnotisches  Experiment,  allerdings  um  ein 
mehr  als  wunderbares,  handeln  würde,  kann  garnicht 
in  Abrede  gestellt  werden.  Dann  ist  aber  auch  keine 
Erklärung  für  den  Zauber  gegeben,  der  doch  in  allen 
Fällen  wirken  müßte,  ohne  daß  der  Bezauberte  hyp- 
notisiert werden,  und  ohne  daß  man  vorher  seine 
Sensibilität  sozusagen  auf  Flaschen  füllen  und  zu  be- 
liebiger Verwendung  getrost  nach  Hause  tragen  konnte 
wie  etwas,  das  man  schwarz  auf  weiß  besitzt.  Es 
ist  ausgeschlossen,  daß  die  „Zauberer"  älterer  Zeit 
nach  der  Methode  des  Herrn  de  Rochas  gearbeitet 
haben  sollten.  Ob  etwa  im  Orient,  als  die  Kaste  der 
medischen  Magier  noch  mit  Eifer  das  große  Geheim- 
nis der  Naturkräfte,  auf  dem  ihre  Kunst  basierte, 
hüteten,  etwas  von  Hypnose  verstanden,  wage  ich  nicht 


—     277     — 

zu  entscheiden,  halte  es  aber  auch  nicht  für  unmög- 
lich, da,  wie  ich  schon  weiter  oben  ausgeführt  habe, 
doch  auch  die  Gaukler  des  Orients  noch  heutigen  Tages 
Künste  vollbringen,  die  selbst  der  mit  allen  Natur- 
wissenschaften Vertrauteste  nicht  zu  erklären  vermag. 
Dabei  ist  zu  betonen,  daß  die  heutigen  Magier  des 
Orients  auf  keiner  wissenschaftlich  höheren  Stufe  stehen 
als  ihre  Kollegen  im  grauen  Altertum,  daß  aber  die 
Kenntnisse,  die  ihnen  die  Ausführung  ihrer  Künste 
gestatten,  in  der  Tat  uralte  Geheimnisse  sind,  die 
sich  von  Generation  zu  Generation  vererben.  Trotz- 
dem fällt  es  schwer,  hier  an  eine  Hypnose  zu  glauben. 
Vielleicht  wäre  an  Suggestion  zu  denken,  die  be- 
kanntlich die  moderne  .Wissenschaft  in  das  große  Ge- 
biet der  hypnotischen  Erscheinungen  einrechnet.  Es 
ist  da  allerdings  bei  dem  Bilderzauber  wohl  nicht  viel 
mit  der  Suggestion  zu  machen.  Immerhin  ist  aber  an- 
zunehmen, daß  im  alten  Orient  schon  etwas  ange- 
wendet wurde,  was  man  wohl  Suggestion  nennen  kann. 
Faßt  man  den  Begriff  nicht  pedantisch  eng,  dann  spielt 
im  Liebesleben  die  Suggestion  überhaupt  eine  erheb- 
liche Rolle,  und  sie  hat  dort  auch  das  dankbarste  Feld. 
Schon  das  Ansehen  der  alten  Magier  wirkte  unbe- 
dingt suggestiv,  und  das  Nestelknüpfen,  das  doch  eben- 
falls aus  dem  Orient  stammt,  ebenso  die  Liebestränke 
und  ähnliche  Dinge,  durch  die  man  im  Liebesleben 
bestimmte  Absichten  zu  erreichen  suchte,  konnten  nur 
wirken,  wenn  die  Suggestion  eine  Rolle  spielte,  meinet- 
wegen die  Autosuggestion,  die  ja  selbst  in  der  medi- 
zinischen Praxis  —  ich  möchte  sagen  —  unbewußt 
und  ungekannt  verwendet  wurde.  Bereits  Plato  hat 
auf  die  Gefahren  des  Nestelknüpfens,  d.  i.  ein  Ver- 


—    278    — 

fahren,  durch  welches  Liebende,  besonders  junge  Ehe- 
leute, impotent  gemacht  wurden,  hingewiesen.  Es 
ist  jetzt  wohl  schon  lange  kein  Geheimnis  mehr,  daß 
die  Impotenz,  sofern  sie  nicht  auf  einer  organischen 
Anomalie  basiert,  meist  auf  Suggestion  oder  richtiger 
Autosuggestion  beruht.  Die  Vorstellung,  daß  der 
sexuelle  Akt  nicht  gelingen  werde,  der  infolge  dieser 
Vorstellung  entstandene  Mangel  an  Selbstvertrauen  be- 
wirkt in  der  Tat  sehr  häufig  wirklich  das  Mißlingen, 
die  temporäre  Impotenz.  Schon  ehe  die  Suggestion 
als  solche  bekannt  war,  wurde  in  der  Medizin  von 
erfahrenen  Ärzten  das  Übel  lediglich  dadurch  gehoben, 
daß  durch  Verabreichung  völlig  indifferenter  Mittel 
der  Leidende  in  den  Glauben  versetzt  wurde,  er  mache 
eine  Kur  durch,  die  unter  allen  Umständen  in  kürzester 
Zeit  das  Übel  beseitigen  müsse.  Das  schaffte  das 
Selbstvertrauen  und  mit  ihm  die  alte  Kraft  zurück. 
Kein  Wunder,  daß  Leute,  die  sich  behext  wußten,  wirk- 
lich impotent  waren,  sofern  sie  halbwegs  sensitive  Na- 
turen waren,  sehr  verständlich  aber  auch,  daß  es  den 
Hexen  so  leicht  wurde,  den  Bann  zu  brechen.  Es  war 
das  nichts  als  die  Suggestion,  die  den  „Behexten"  so- 
fort das  Selbstvertrauen  zurückgab.  Hier  war  also  keine 
Hexerei  im  Spiele,  aber  da  man  an  sie  glaubte  und 
sich  den  Vorgang  nicht  anders  zu  denken  wußte, 
haben  wir  hier  vielleicht  den  besten  Schlüssel  zu  dem 
Rätsel,  warum  sich  der  Glaube  an  Zauberkünste  auf 
dem  Gebiete  des  Liebeslebens  so  lange  halten  konnte. 


Die  Prostitution. 

„Qui  proficit  in  artibus  et  deficit  in 
moribus,  plus  deficit,  quam  proficit."  Es 
läßt  sich  wohl  kaum  ein  passenderer  Ausspruch  an 
die  Spitze  dieses  Kapitels  stellen.  Wer  an  Wissen 
zunimmt,  an  seinen  Sitten  aber  einbüßt,  der  hat  in 
Wirklichkeit  mehr  verloren  als  gewonnen.  Gewiß,  man 
ist  wenig  geneigt,  das  heutigen  Tages  noch  gelten 
zu  lassen,  weil  jetzt  Moral  und  Tugend  weit  weniger 
hoch  im  Kurse  stehen  als  das  Wissen.  Wissen  macht 
frei.  Man  ist  nun  soweit  gegangen,  zu  behaupten, 
die  Unsittlichkeit  mache  auch  frei,  weil  jeder,  der  un- 
sittlich lebe,  sich  frei  mache  von  den  kleinlichen,  die 
persönliche  Freiheit  einschränkenden  Anschauungen 
und  Vorurteilen  rückständiger  Herdenmenschen.  Ein 
verhängnisvoller  Irrtum,  denn  wer  auf  diese  Weise 
„frei"  zu  werden  glaubt,  der  wird  bald  genug  merken, 
daß  er  in  die  schwerste  Sklaverei  gesunken  ist,  aus 
der  es  kaum  eine  Rettung  gibt,  in  die  Sklaverei 
seiner  Leidenschaften.  Es  geht  da  ähnlich  wie  mit 
dem  Menschen,  der  mit  Leib  und  Seele  an  seinem 
Besitztum  hängt  und  mit  Stolz  sagt:  „Das  alles  ge- 
hört mir!"  In  Wirklichkeit  ist  es  aber  umgekehrt, 
denn  der  Mann  gehört  allen  den  schönen  Sachen, 
ohne  die    er   nicht   leben    kann.    Nein,    Unsittlichkeit 


—     280     — 

macht  nicht  frei  wie  das  Wissen,  und  da  auch  das 
Wissen  einen  Sklaven  der  Leidenschaften  nicht  von 
diesen  frei  macht,  ist  es  richtig,  daß  der  mehr  ver- 
loren als  gewonnen  hat,  der  in  Kunst  und  Wissen- 
schaft zunimmt,  an  seinem  sittlichen  Halt  aber  Verlust 
erleidet. 

Sehen  wir  uns  nun  einmal  die  Prostitution  des 
alten  Orients  etwas  näher  an.  Man  sagt,  das  Laster 
habe  stets  dieselben  Ursachen;  auf  der  einen  Seite 
Genußsucht  und  Sinnlichkeit,  auf  der  anderen  Armut 
und  mangelhafte  Erziehung.  Ich  möchte  vorweg  be- 
haupten, daß  diese  Annahme  durchaus  nicht  zutrifft. 
Sie  mag  für  unsere  heutige  Prostitution  passen,  ob- 
wohl sie  auch  da  nicht  als  ein  Evangelium  betrachtet 
werden  darf,  weil  in  Wirklichkeit  die  Prostitution  von 
Fall  zu  Fall  geprüft  werden  muß,  wobei  sich  sehr 
oft  herausstellen  wird,  daß  wesentlich  andere  Fak- 
toren in  Frage  kommen.  Für  den  alten  Orient  aber 
und  zum  großen  Teile  auch  noch  für  heutige  orien- 
talische Verhältnisse  trifft  der  verallgemeinernde  Aus- 
spruch durchaus  nicht  zu. 

Schon  über  die  prinzipiellsten  Ansichten  herrschen 
die  erheblichsten  Widersprüche  und  Gegensätze.  Für 
uns  gilt  die  Prostituierte  als  eine  verabscheuenswürdige 
Person,  die  zu  benutzen  „dulce"  ist,  die  aber  im 
übrigen  als  so  verächtlich  gilt,  daß  es  gegen  die  Ehre 
verstößt,  mit  ihr  bloß  in  Berührung  zu  kommen.  Es 
ist  das  eine  Folge  unserer  Doppelmoral.  Nicht  so 
im  Orient,  wo  man  über  das  Liebesleben  anders, 
besser  oder  schlechter,  je  nach  dem  Standpunkt,  auf 
den  sich  der  Beurteiler  stellt,  jedenfalls  aber  natür- 
licher oder  doch  wenigstens  logischer  denkt  und  von 


—     281     — 

jeher  dachte.  Wir  sind  ja  nicht  einmal  in  dem,  was 
wir  für  eine  Prostituierte  halten,  konsequent;  der 
Orientale  ist  das  weit  mehr.  Ich  will  hier  nur  an 
das  Maitressenwesen  erinnern,  zunächst  aber  nicht 
weiter  darauf  eingehen,  da  ich  bei  meinen  weiteren 
Ausführungen  ohnehin  noch  Veranlassung  nehmen 
muß,  Vergleiche  zwischen  Orient  und  Abendland  ge- 
nauer zu  kommentieren. 

Wie  alt  die  Prostitution  ist?  Diese  Frage  präzis 
zu  beantworten,  ist  ein  Ding  der  Unmöglichkeit.  Man 
würde,  um  solche  Antwort  überhaupt  geben  zu  können, 
sich  vorher  genau  darüber  einigen  müssen,  was  man 
unter  Prostitution  zu  verstehen  habe.  Schon  das  er- 
scheint dem  Durchschnittsleser  jedenfalls  als  eine  recht 
überflüssige  und  kaum  zu  rechtfertigende  Pedanterie, 
da  doch  jeder  Mensch  wisse,  was  Prostitution  sei! 
Pardon;  gerade  eine  solche  Ansicht  ist  bedenklich; 
sie  verhütet  die  bessere  Erkenntnis,  weil  sie  das 
weitere  Nachdenken  verhütet,  und  das  ist  gegenüber 
der  Prostitution  so  bitter  notwendig,  denn  es  gibt 
auf  diesem  Gebiete  tatsächlich  so  subtile  Übergänge, 
daß  man  wirklich  die  Grenze  zwischen  der  Prostitution 
und  der  „intimen  Liebschaft"  kaum  oder  überhaupt 
nicht  zu  entdecken  vermag.  Man  kann  die  strafrecht- 
liche Definition  der  gewerbsmäßigen  Unzucht  für  das 
praktische  Leben  nicht  so  ohne  weiteres  gelten  lassen, 
sie  wenigstens  nicht  als  die  allein  seligmachende  be- 
trachten. Wenn  man  das  aber  auch  wollte,  würde 
man  doch  nicht  zum  Ziele  gelangen,  weil  dabei  das, 
was  man  als  gewerbsmäßig  zu  betrachten  hat,  auch 
wieder  Auslegungssache  ist.  Schon  im  Altertume  ist 
es  wohl  Sitte  gewesen,  ein  weibliches  Wesen  durch 


—    282    — 

Geschenke  seinen  Wünschen  geneigter  zu  machen, 
denn  überall  ging  es  doch  nicht  zu  wie  bei  den 
Mastageten,  von  denen  ich  in  einem  früheren  Kapitel 
mitgeteilt  habe,  daß  bei  ihnen  der  sexuelle  Verkehr 
sich  ohne  jede  Schwierigkeit  und  ohne  jede  be- 
sondere Formalität  abspielte,  es  fehlte  dabei  das,  was 
man  das  einleitende  Verfahren  nennen  darf.  Es  be- 
darf keiner  besonderen  Interpretationskunst,  den  Be- 
griff der  gewerbsmäßigen  Unzucht  so  weit  auszu- 
dehnen, daß  einfach  jeder  sexuelle  Verkehr,  zu  dem 
ein  Mädchen  durch  Gaben,  die  einen  Erwerb  darstellen 
können  —  das  trifft  ja  eigentlich  stets  zu,  als  gewerbs- 
mäßige Unzucht  erscheinen  muß,  besonders  wenn  sich 
die  Sache  wiederholt,  so  daß  die  Geschenke  schon 
für  den  Lebensunterhalt  von  Erheblichkeit  sind.  Wir 
sprechen  nun  allerdings  selbst  da,  wo  ein  weibliches 
Wesen  von  einem  Manne  völlig  erhalten  wird  und 
als  Gegenleistung  sich  selbst  gibt,  nicht  von  einer  Pro- 
stitution, nehmen  diese  aber  an,  wenn  das  liederliche 
Leben  nur  ab  und  zu  kleinere  „Aushilfen"  einbringt. 
Das  zeigt  am  besten,  wie  schwer  es  ist,  klar  zu  defi- 
nieren, denn  es  versteht  sich  doch  von  selbst,  daß  ich 
hier  nur  den  großen  Rahmen  gezeichnet  habe,  inner- 
halb dessen  sich  zahllose  Abstufungen  finden  lassen, 
ohne  daß  man  erst  nötig  hätte,  sie  mit  dem  Mikros- 
kop  aufzusuchen. 

Man  kann  auch  nicht,  wie  es  die  Päpste  taten, 
willkürlich  eine  bestimmte  Anzahl  von  Männern  an- 
nehmen, mit  denen  das  Weib  sexuellen  Verkehr  unter- 
halten haben  müsse,  ehe  man  berechtigt  sei,  von  einer 
Prostitution  zu  reden.  Ich  meine  vielmehr,  daß  es 
schon   der   rein   sprachlichen  Bedeutung   des   Wortes 


—     283     — 

Gewalt  antun  hieße,  wollte  man  überhaupt  einen  Plural 
von  Liebhabern  verlangen.  Mit  Begriffen  zu  jonglieren, 
ist  eine  Kunst,  die  jetzt  allerdings  zu  gedeihlicher  Höhe 
gefördert  worden  ist,  aber  sicherlich  sehr  wenig  dazu 
beitragen  kann,   eine  Frage  zu  lösen. 

Ich  bin  nun  wirklich  nicht  in  der  Lage,  zu  sagen, 
seit  wann  es  eine  Prostitution  gibt,  möchte  aber  wohl 
behaupten,  daß  sie  nicht  viel  jünger  sein  kann  als  das 
Menschengeschlecht.  Nur  darf  man  nicht  nach  heu- 
tigen Anschauungen  urteilen  wollen,  und  vor  allen 
Dingen  darf  man  nicht  etwa  deduzieren  wollen,  daß 
es  eine  Prostitution  erst  in  dem  Augenblick  gegeben 
haben  könne,  in  dem  die  Menschen  sich  über  diesen 
Begriff  klar  geworden  seien,  in  dem  sie  das  Verwerf- 
liche einer  solchen  Hingabe  erkannt  hätten,  denn  unter 
dieser  Voraussetzung  gäbe  es  an  vielen  Orten  des 
Orients  heute  noch  keine  Prostitution,  hätte  es  nie- 
mals eine  geben  können.  Und  doch  berichtet  uns 
schon  die  Bibel  von  einer  solchen,  und  dennoch  ist  die 
Prostitution  in  manchen  orientalischen  Ländern  auf 
das  höchste  entwickelt,  wenn  es  auch  den  Weibern  an 
ihrer  Ehre  nicht  den  mindesten  Abbruch  tat,  dieses 
Gewerbe  betrieben  zu  haben,  ja  wenn  die  Prostitution 
niemals  die  Prostituierte  hindert,  jede  Minute  in  das 
bürgerliche  Leben  zurückzukehren  und  alle  die  Ehre 
in  Anspruch  zu  nehmen,  die  jede  andere  „anständig" 
gebliebene  Frauensperson  auch  genießt. 

Auch  das  Alte  Testament  erzählt  uns  zu  Zeiten, 
in  denen  von  einem  geordneten  Gemeinwesen  noch 
kaum  die  Rede  sein  konnte,  schon  von  Prostituierten 
und  läßt  keinen  Zweifel  darüber,  daß  nach  altorien- 
talischer Auffassung  auch  diese  Personen  nicht  miß- 


—    284     — 

achtet  gewesen  sein  können.  Davon,  daß  sie  etwa 
rechtlos  und  ehrlos  gewesen  wären  wie  die  fahrenden 
Weiber  und  die,  die  sich  zu  eigen  gaben,  im  alten 
Deutschen  Rechte,  steht  keine  Andeutung  da;  man 
muß  vielmehr  unbedingt  aus  allen  den  Erzählungen 
das  Gegenteil  schließen.  Ich  bin  sicherlich  der  Letzte, 
der  die  Bibel  als  Quelle  für  ein  Loblied  der  Meretrices 
benutzen  wollte,  aber  ich  darf  mich  auf  sie  wohl  als 
eine  historische  Bestätigung  dafür  berufen,  daß  in  der 
Tat  der  Orient  über  das  Gewerbe  einer  Prostibula 
wesentlich  anders  dachte  als  unsere  Zeit,  und  ich  freue 
mich,  zugleich  dabei  feststellen  zu  können,  daß  die 
Bibel,  die  so  viel  angefeindet  und,  was  noch  mehr 
sagen  will  —  angezweifelt  wird,  daß  man  schon  für 
einen  Banausen  gilt,  wenn  man  sich  überhaupt  auf 
sie  beruft,  selbst  das  Milieu  für  ihre  Erzählungen 
korrekt  und  richtig  zu  malen  weiß.  Ich  will  mich 
hier  nur  auf  zwei  Beispiele  berufen:  die  Erzählung 
des  listigen  Zwanges,  durch  den  Thamar  verstand, 
sich  ihr  uns  allerdings  unverständliches  Recht  zu 
sichern  und  zweitens  die  Geschichte  der  Kundschafter 
in  Jericho.  Sie  wußte,  daß  ihr  Schwiegervater  Juda 
des  Weges  gen  Timmath  ziehen  würde,  verkleidete 
sich  als  Meretrix  und  lockte  ihn  an  sich.  Schon  der 
Umstand,  daß  sie  einen  solchen  Plan  fassen  konnte, 
darf  als  Beweis  dafür  gelten,  das  dieses  Gewerbe  nicht 
allein  nicht  Abscheu  erweckte,  sondern  daß  auch  sehr 
würdige  und  hochbetagte  Männer  nichts  darin  fanden, 
sich  zu  einem  solchen  Weibe  zu  gesellen.  Thamar 
hätte  sonst  nicht  darauf  rechnen  dürfen,  daß  der  alte 
Juda  sich  mit  ihr  abgeben  würde,  weil  sie  sich  als 
eine  Hure  verkleidet  hatte.    Der  Plan  erwies  sich  aber 


—    285    — 

als  durchaus  frei  von  jedem  Rechenfehler.  Juda  gesellte 
sich  wirklich  zu  ihr,  und  der  Verkehr  blieb  nicht  ohne 
Folgen.  Thamar  hatte  sich  als  Lohn  ihres  Dienstes 
einen  Ziegenbock  versprechen  und  zur  Sicherheit 
dafür,  daß  sie  diesen  auch  wirklich  erhielt,  ein  Pfand 
geben  lassen.  Juda  war  ein  ehrlicher  Mann,  der  sein 
Versprechen  halten  wollte;  deshalb  schickte  er  seinen 
Freund  Adullam  aus,  der  das  Pfand  einlösen  sollte, 
dies  aber  nicht  konnte,  da  Thamar  nach  dem  Abenteuer 
ihre  Verkleidung  abgelegt  und  ihre  Witwentracht 
wieder  angezogen  hatte.  Die  ganze  Geschichte  war 
von  Niemandem  bemerkt  worden;  deshalb  konnte 
Adullam  auch  nur  erfahren,  daß  überhaupt  keine  Hure 
in  der  Gegend  gewesen  sei.  Er  berichtete  das  dem 
Juda,  der  antwortete:  Sie  mags  behalten  (das  Pfand); 
sie  kann  uns  doch  nicht  Schande  nachsagen,  denn  ich 
habe  den  Bock  gesandt,  nur  hast  du  sie  nicht  gefunden. 
Man  darf  diese  Worte  nicht  mißverstehen.  Sie 
wollten  nicht  etwa  besagen,  daß  es  als  eine  Schande 
für  den  alten  Mann  hätte  gelten  können,  sich  mit  der 
ersten  besten  Prostituierten,  die  er  am  Wege  fand, 
eingelassen  zu  haben,  sondern  die  Schande  hätte  nur 
darin  bestehen  können,  daß  er  den  vereinbarten  Lohn 
nicht  gezahlt  habe.  Das  also  beweist  doch  wieder, 
daß  die  Prostituierten  keineswegs  rechtlos  waren, 
sondern  darauf  rechnen  durften,  daß  ihnen  das,  was 
ihnen  für  ihr  Entgegenkommen  als  Lohn  versprochen 
worden  war,  auch  unter  allen  Umständen  als  ein 
ehrlich  verdientes  Äquivalent  zugebilligt  werden  mußte. 
Das  ist  aber  schon  ein  Beweis  dafür,  daß  man  diese 
Geschöpfe  nicht  blos  zur  augenblicklichen  Befriedigung 
seiner  Lüste  ausnutzen  durfte,  sondern  daß  das  Ver- 


—    286     — 

hältnis     als    ein     reines    Rechtsverhältnis     anerkannt 
wurde. 

Nun  kommt  allerdings  ein  weiteres  Moment  in 
die  Erzählung.  Als  Juda  schließlich  hört,  daß  seine 
Schwiegertochter  Thamar  durch  Hurerei  schwanger 
geworden  war,  verlangte  er,  daß  sie  vor  ihn  geführt 
werde,  damit  er  sie  verbrennen  lassen  könne.  Das 
sieht  wohl  auf  den  ersten  Blick  so  aus,  als  ob  die 
Prostitution  als  ein  so  schweres  Laster  verabscheut 
worden  sei,  daß  darauf  die  grausame  Strafe  des  Ver- 
brennens  angedroht  gewesen  sei.  Dieser  Schein  kann 
freilich,  wie  gesagt,  nur  auf  den  ersten  oberflächlichen 
Blick  erweckt  werden.  Wäre  er  begründet,  dann 
hätte  Juda  nicht  die  Schande,  die  ihm  unbekannte 
Meretrix  nicht  bezahlt  zu  haben,  fürchten  müssen, 
denn  die  Dirne  wäre  ja  dem  Feuertode  verfallen 
gewesen,  wenn  sie  ihr  Tun  zugegeben  hätte.  Das 
Verbrechen  hätte  vielmehr  nur  darin  bestanden,  daß 
Thamar  als  Witwe  —  sie  war  die  Schwiegertochter 
des  Juda  —  nicht  das  einer  Ledigen  erlaubte  und  eine 
Ledige  nicht  schändende  Gewerbe  einer  Prostituierten 
betreiben  durfte. 

Das  zweite  Beispiel  betrifft  die  Rahab  in  Jericho, 
die  direkt  als  Hure,  also  als  Prostituierte  bezeichnet 
wird.  In  deren  Haus  kamen  die  Kundschafter,  die  Josua 
nach  Jericho  gesendet  hatte,  damit  sie  eine  Gelegen- 
heit ausfindig  machen  sollten,  die  es  den  Kindern 
Israel  gestattete,  diese  Stadt  zu  erobern.  Der  Besuch 
bei  der  Rahab  war  nicht  unbemerkt  geblieben.  Der 
König  selbst  schickte  zu  dem  Weibe  und  ließ  um  die 
Herausgabe  der  fremden  Männer  bitten.  Wäre  die 
Prostitution  damals  in  Jericho,  wo  sie  übrigens  stark 


—    287     — 

verbreitet  war,  für  ein  großes  Übel  gehalten  worden, 
so  würde  der  König  wohl  keine  Umstände  mit  dieser 
Person  gemacht  haben;  er  tat  es  aber  und  tat  es  mit 
demselben  Respekt,  den  er  dem  besten  seiner  Unter- 
tanen erwiesen  haben  würde.  Rahab  war  also  der 
Meinung,  daß  gegen  die  Kinder  Israel,  die  schon  so 
wunderbar  aus  den  schwierigsten  Lagen  befreit  worden 
waren,  doch  nicht  zu  kämpfen  sei,  daß  ihnen  viel- 
mehr auch  bei  einem  Unternehmen  gegen  die  Stadt 
das  Glück,  das  sie  durch  große  Wunder  bisher 
begünstigt  hatte,  wohl  treu  bleiben  werde.  Deshalb 
beschützte  sie  die  beiden  Israeliten,  versteckte  sie  in 
ihrem  Hause  und  erklärte  den  Boten  des  Königs,  die 
beiden  Männer  seien  wohl  bei  ihr  gewesen,  sie  hätten 
sich  aber,  als  die  Tore  der  Stadt  geschlossen  wurden, 
bereits  wieder  entfernt.  Man  möge  ihnen  nur  schnell 
Reiter  nachsenden,  die  sie  wohl  auf  jeden  Fall  noch 
erreichen  würden,  da  die  Fremdlinge,  die  zu  Fuß  nicht 
so  schnell  vorwärts  kommen  könnten  wie  die  Reiter, 
noch  keinen  allzu  großen  Vorsprung  haben  könnten, 
Man  glaubte  diesen  Worten  und  befolgte  den  Rat. 

Rahab  aber  ließ  dann  am  späten  Abend  die 
Kundschafter  aus  ihrem  Hause,  das  auf  der  Stadt- 
mauer stand  —  die  alten  Stadtmauern  waren  in  der 
Regel  außerordentlich  breit  angelegt  — ,  an  einem 
Seile  ins  Freie  und  ließ  sie  einen  andern  Weg  ein- 
schlagen, nachdem  ihr  die  Männer  gelobt  hatten,  daß 
bei  der  Eroberung  der  Stadt  ihr  Haus  und  ihre  ganze 
Familie  geschützt  werden  sollte,  möchten  auch  die 
übrigen  Häuser  und  die  ganze  Einwohnerschaft  ver- 
nichtet werden.  Als  dann  Jericho  wirklich  von  den 
Israeliten    erobert  worden    war,    da   verbanneten  die 


—     288     — 

Israeliten  alles,  was  in  der  Stadt  war,  mit  der  Schärfe 
des  Schwertes,  Mann  und  Weib,  jung  und  alt,  Ochsen, 
Schafe  und  Esel. 

Der   Schwur,    den   die   Kundschafter   der    Rahab 

getan  hatten,  wurde  auf  Befehl  Josuas  gehalten.    Die 

Stadt  wurde  verbrannt.    „Rahab  aber,  die  Hure,  samt 

dem  Hause  ihres  Vaters  und  alles,  was  sie  hatte,  ließ 

Josua  leben.    Und  sie  wohnet  in  Israel  bis  auf  diesen 

Tag,  darum,  daß  sie  die  Boten  verborgen   hielte,  die 

Josua  zu  verkundschaften  gesandt  hatte  gen  Jericho." 

Es  könnte  ja  nun  freilich   so  aussehen,  als  habe  es 

sich   hier  um   eine  große  Ausnahme  gehandelt,  d.  h. 

als  habe  man  die  Rahab  nur  deshalb  leben  lassen,  um 

sie  für  den  Dienst  zu  belohnen,  den  sie  den  Israeliten 

erwiesen  hatte.     Das  trifft  aber  keineswegs  zu.     Man 

hätte  ja,    wenn    es    darauf    angekommen    wäre,    den 

Schwur  zu  halten,  die  Rahab  und  ihre  Familie  einfach 

leben  und  laufen   lassen   können.    Es  wird  aber  mit 

offenbarem    Behagen    und    breiter    Betonung    erzählt, 

daß   sie  bei   Israel  wohnte  bis  auf  diesen  Tag,  also 

für  ihr  ganzes  Leben.    Das  war  ihr  weder  zugeschworen, 

noch  hätte  die  Rahab  diese  Gastfreundschaft  auch  nur 

annehmen    können,    wenn   es    wahr  wäre,    daß  jede 

Prostituierte    als    ein    verlorenes,    verkommenes    oder 

gar  als   ein   verabscheuenswertes   Geschöpf  gegolten 

hätte.    Wäre  dies  der  Fall  gewesen,  dann  hätten  die 

Kundschafter  erstens  überhaupt  wohl  nicht  das  Haus 

der  Rahab  aufsuchen,  zweitens  aber  ihr  nicht  einen  so 

weitgehenden   Schwur  leisten   dürfen.     Dazu  möchte 

ich  doch  auch  besonders  betonen,  daß  die  Bibel  doch 

wahrlich   nicht   den   Sieg   der   Kinder  Israels   als   ein 

Werk    der  „Hure  Rahab"  ansieht,    sondern  als   eine 


—     289     — 

Fügung  Oottes,  der  ja  auch  bei  der  Eroberung  dieser 
Stadt  in  wunderbarer  Weise  den  Sieg  herbeiführte, 
der  die  ganze  Sache  von  Anfang  leitete  und  der  doch 
schließlich,  da  seine  Hand  die  Geschicke  der  Völker 
führte,  auch  die  beiden  Kundschafter  geführt  und 
gerettet  hatte,  geführt  ins  Haus  der  Rahab,  gerettet 
durch  die  Rahab.  Ich  meine,  die  ganze  Geschichte 
zeigt,  daß  die  Prostibula  nicht  nur  in  Jericho,  sondern 
auch  in  Israel  nicht  als  eine  Persona  mala  angesehen 
wurde,  ja  daß  sie  wohl  nicht  einmal  zu  der  Sorte  von 
Menschen  gerechnet  wurde,  denen  man  im  alten  Rom 
die  Worte  „levis  notae  maculae"  anhängte,  d.  h.  die 
zu  den  anrüchigen  Leuten  gezählt  wurden. 

Es  verdiente  auch  Beachtung,  daß  die  Rahab  mit 
ihrer  ganzen  Familie,  Vater  und  Mutter  usw.  geschont 
wurde,  daß  die  Familie  die  „Hure"  duldete  und  mit 
dieser  geduldet  wurde.  Es  ist  allerdings  nicht  gesagt, 
daß  auch  diese  Familie  mit  in  Israel  gelebt  habe;  man 
darf  dies  aber  doch  wohl  annehmen.  Davon  aber, 
daß  die  Familie  durch  den  Erwerb  der  Tochter 
geschändet  oder  durch  die  Duldung  dieses  Erwerbes 
strafbar  geworden  wäre,  ist  garnicht  die  Rede,  im 
Gegenteil.  Wir  ahnden  dagegen  eine  solche  Duldung 
von  den  Eltern  mit  Zuchthausstrafen. 

Schon  Moses,  der  doch  an  sich  gegen  die  Prosti- 
tution geeifert  und  die  Unsittlichkeit  verabscheut  und 
verboten  hatte  —  gerade  nach  dem  schönen  Spruch, 
den  ich  an  die  Spitze  dieses  Kapitels  gestellt  habe  — , 
sah  selbst  ein,  daß  nach  dieser  Richtung  hin  sein  Eifer 
resultatlos  blieb  und  auch  schließlich  bleiben  mußte, 
weil  die  Natur  orientalischer  Völker  sich  noch  viel 
weniger    einschnüren    und    in    Enthaltsamkeitsgebote 

19 


—     290     — 

fügen  läßt  als  die  der  sog.  „kühlen  Abendländer".  Man 
versuche  es  nur  gefälligst,  den  „kühlen"  Abendländern 
den  sexuellen  Verkehr  zu  verbieten  oder,  was  für  viele 
Leute  auf  dasselbe  hinauslaufen  würde,  ihn  nur  in  der 
Ehe  zu  gestatten.  Wer  dieses  Verbot  mit  vollem 
Erfolg  ergehen  lassen  könnte,  der  hätte  eine  Leistung 
vollbracht,  gegen  die  alle  Großtaten  der  Welt  zusammen- 
genommen klein  erscheinen  würden.  Ich  meine  damit 
nicht  etwa,  daß  ich  diese  Tat  für  die  verdienstlichste 
oder  selbst  nur  für  eine  nützliche  halten  würde,  son- 
dern ich  will  nur  sagen,  daß  sie  in  meinen  Augen  etwas 
völlig  Unmögliches  darstellt.  Zu  dieser  Überzeugung 
ist  aber  Moses  auch  gekommen,  ja  er  hat  sich  wohl 
gesagt,  daß  ein  striktes  Verbot  nicht  einmal  nützlich, 
sondern  im  Gegenteil  viel  eher  schädlich  sei.  Des- 
halb bequemte  er  sich  doch  dazu,  den  Verkehr  jüdischer 
Männer  mit  fremden  Dirnen  zuzulassen;  er  hat  ihn 
erlaubt,  und  es  ist  deshalb,  wie  ich  auch  aus  anderen 
Stellen  des  Alten  Testamentes  z.  B.  über  die  Opfer 
nachweisen  kann,  ganz  entschieden  nicht  göttliche 
Inspiration,  was  in  den  Büchern  Mose  steht  und  sich 
teilweise  nicht  halten  lässt,  teilweise  durch  andere 
Stellen  widerlegt  ist.  Daß  Moses  sonst  gerade  den 
Verkehr  zwischen  Juden  und  heidnischen  Weibern 
nicht  dulden  wollte,  weil  er,  übrigens  mit  vollem 
Rechte  fürchtete,  daß  der  Glaube  der  Seinen  erschüttert 
werden  könnte,  wie  dies  ja  sehr  oft  wirklich  geschah, 
habe  ich  schon  an  anderer  Steile  betont.  Jedenfalls  liegt 
die  Sache  so,  daß  Moses  den  Besuch  der  israelitischen 
Männer  bei  heidnischen  Völkern  nicht  leiden  wollte, 
daß  er  aber  gegen  den  Besuch  heidnischer  Meretrices 
in  Israel  nichts  hatte.    Die  Episode  von  Jericho  spielte 


-     291     — 

aber  nach  Moses.  Ich  betone  dieses  noch  aus- 
drücklich, damit  mir  der  Einwand,  ich  kenne  etwa  das 
ältere  mosaische  Gesetz  nicht  genügend,  von  Anfang 
an  erspart  bleibt.  Ich  kann  nun  wohl  die  biblischen 
Nachweise  verlassen,  obwohl  sie  noch  keineswegs 
erschöpft  sind. 

Daß  im  Altertum  die  Prostitution  im  Orient  nicht 
als  schändend  oder  anrüchig  galt,  beweist  die  Tat- 
sache, daß  sie  bei  einigen  Völkern  geradezu  zum  reli- 
giösen Kult  gehörte,  so  daß  also  viel  eher  das  für 
eine  Ehre  galt,  was  wir  für  die  tiefste  Schande  halten. 
Das  gilt  natürlich  nur  mit  der  Einschränkung,  daß 
lediglich  die  religiöse  Prostitution  dabei  in  Frage 
kommen  kann,  neben  der  es  noch  eine  profane  gab, 
die  gewiß  ihre  „Priesterinnen"  nicht  adelte,  sie  aber 
auch  nicht  herabsetzte. 

Im  alten  Babylon  forderte  der  Mylitta-Kult  die 
Prostitution  der  Töchter  Babels.  Mylitta  war  eine 
Naturgottheit,  etwa  das,  was  bei  den  Griechen  Aphro- 
dite, bei  den  Römern  Venus  war.  Das  assyrische 
Wort  ,,mu'  allidat",  das  so  viel  heißt,  wie  die  Gebärende, 
läßt  darauf  schließen,  daß  man  die  Liebe  in  Babel 
außerordentlich  realistisch  auffaßte,  und  es  ist  deshalb 
kein  Wunder,  daß  auch  der  Kult  der  Mylitta  nicht 
bloß  in  einer  platonischen  Verehrung  und  ehrfurchts- 
vollen Anbetung  bestand,  sondern  daß  man,  wie  dies 
ja  auch  in  Griechenland  und  Rom  der  Fall  war,  den 
Kult  etwas  drastischer  und  der  Bedeutung  der  Göttin 
entsprechend  gestaltete.  Herodot  überliefert  uns,  daß 
im  alten  Babylon  jedes  Weib  gezwungen  gewesen 
sei,  sich  einmal  im  Tempel  der  Mylitta  zu  prostituieren. 
Es  mag  dahingestellt  bleiben,  ob  dies  „einmal"  bedeuten 


—     292      - 

sollte,  einmal  im  Leben,  oder,  wie  andere  Autoren 
meinen,  einmal  in  jedem  Jahre.  Jeder  Fremde  hatte 
das  Recht,  in  den  Tempel  zu  gehen  und  ein  solches 
Opfer  zu  verlangen.  Er  mußte  dafür  natürlich  bezahlen, 
was  die  Priesterschaft  des  Tempels  verlangte,  und  wir 
haben  bereits  gesehen,  daß  in  Babel  die  Priester  ausge- 
zeichnete Geschäftsleute  waren.  Die  gezahlte  Summe 
erhielt  aber  nicht  das  Weib,  das  sich  prostituiert  hatte, 
sondern  sie  kam  dem  Tempel  zu,  vielmehr  wieder 
den  Priestern,  die  deshalb  wohl  eifrigst  bemüht  gewesen 
sein  werden,  aus  der  Tempel  der  Mylitta  eine  Art 
Bordell  zu  machen.  Jedenfalls  haben  diese  Priester 
mit  feuriger  Beredsamkeit  dem  Volke  gepredigt,  daß 
eine  fleißige  Religionsübung  Segen  bringe,  und  daß  es 
deshalb  verdienstlich  sei,  der  Göttin  Mylitta  zu  hul- 
digen. Diese  Ermahnungen  scheinen  denn  auch  auf  recht 
fruchtbaren  Boden  gefallen  zu  sein,  kein  Wunder, 
wenn  es  verdienstlich  und  fromm  war,  das  Nützliche 
mit  dem  Angenehmen  in  eine  so  schöne  Harmonie 
zu  bringen. 

Einer  Göttin  der  Liebe  und  der  Fortpflanzung  ein 
Opfer  zu  bringen,  das  gerade  in  dieses  Ressort  hinein- 
paßte, ihr  die  Keuschheit  als  das  höchste  Gut,  das 
ein  Weib  besitzen  konnte,  zu  opfern,  das  ist  bei  aller 
scheinbaren  Absurdität  doch  in  Wirklichkeit  ein  außer- 
ordentlich naheliegender  Gedanke.  Daß  er  mindestens 
dem  Orientalen  sehr  natürlich  vorkommen  mußte, 
beweist  seine  gewaltige  Verbreitung.  Es  war  allerdings, 
da  zu  einem  solchen  Opfer  immer  zwei  Personen 
gehören,  wenn  es  nicht  in  der  Weise  der  Bewohner 
von  Goa  gebracht  werden  sollte,  die  ihre  Jungfrauen 
einer  Elfenbeinfigur  vermählten,  die  Frage,  ob  die  Priester 


—     293     — 

allein  die  Opfer  „annehmen"  sollten,  oder  ob  es  an- 
gängig sei,  daß  im  Tempel  die  opferlustigen  Weiber 
sich  profanen  Männern  hingäben,  um  der  Göttin  die 
Keuschheit  zu  opfern,  wie  dies  die  geschäftsgewandten 
und  klugen  Priester  der  Mylitta  zuließen,  vielleicht 
auch  zulassen  mußten,  weil  ihnen  die  Opferfreudigkeit 
der  babylonischen  Damen  über  den  Kopf  wuchs. 

In  Persien  kannte  man  diesen  Liebesgöttinnenkult 
ebenso  wie  in  Babylon.  Dort  hieß  die  Göttin  Anäitis. 
Der  Kult  war  derselbe,  und  die  Laien  waren  den 
berufenen  Dienern  der  Göttin,  den  Priestern,  völlig 
gleich  in  dem  regen  Eifer,  beim  Opfer  den  Admini- 
strantenposten  auszufüllen,  nur  daß  der  Laie  für  seinen 
religiösen  Eifer  „bluten"  mußte,  während  der  Priester 
nur  seine  Bemühungen  in  die  Wagschale  warf  und 
nicht  nötig  hatte,  sich  von  irdischen  Gütern  zu  trennen. 
Es  mußte  doch  wenigstens  einen  Unterschied  zwischen 
Laien  und  Priestern  geben,  sonst  wäre  die  ganze  Religion 
nicht  wertgewesen,  daß  ein  Sterblicher  sich  in  ihren 
Dienst  stellte. 

Gehen  wir  weiter  durch  die  einzelnen  Gebiete 
des  Orients,  so  finden  wir  fast  überall  die  gleiche 
fromme  Sitte,  die  allerdings  der  orientalischen  Lüstern- 
heit besonders  zusagte.  Das,  was  des  Herzens  Neigung 
diktiert,  in  ein  religiöses  Dogma  als  Vorschrift  zu  fügen, 
das  ist  stets  die  vornehmste  Taktik  aller  derer  gewesen, 
die  bemüht  waren,  einem  religiösen  Kult  Anhänger  zu 
gewinnen,  oder  Anhänger  zu  erhalten.  Es  ist  deshalb 
schon  ein  Akt  der  Klugheit  gewesen,  einen  Brauch, 
der  an  einem  Orte  große  Begeisterung  erweckte,  auch 
in  die  eigene  Gemeinde  zu  verpflanzen.  Ich  habe  die 
Wichtigkeit  dieser  weisen  Vorsicht  schon  bei  der  Be- 


—     294     — 

sprechung  der  Dionysien  und  des  Phalluskults  gezeigt. 
Sie  konnte  auch  bei  dem  Kult  der  Göttinnen  der  Liebe 
nicht  ausbleiben,  wollte  man  nicht,  daß  z.  B.  die 
Perser  lieber  der  Mylitta  als  der  Anäidis,  die 
Phönizier  lieber  diesen  beiden  als  ihrer  Astarte  dienten 
usw. 

So  haben  dann  auch  die  Griechen  und  Römer  ihrer 
Aphrodite  und  Venus  treu  und  rastlos  gedient  und 
zwar  ziemlich  genau  nach  babylonisch-orientalischer 
Schablone.  Es  ändert  sich  der  Name  der  Göttin,  der 
Kult  ist  derselbe  und  bleibt  derselbe.  Ich  komme 
wohl  auf  Rom  und  Griechenland  noch  zurück;  vorher 
möchte  ich  noch  tiefer  in  den  Orient  eindringen  und 
feststellen,  daß  es  auch  in  Indien  mit  der  religiösen 
Prostitution  nicht  anders  bestellt  war  als  in  den  bisher 
erwähnten  orientalischen  Ländern.  Indien  ist  gerade 
deshalb  das  für  dieses  Thema  interessanteste  Land, 
weil  dort  der  alte  Brauch  sich  am  längsten  gehalten 
hat.  Das  Babylon  des  Altertums,  das  Phönizische 
Reich,  Persiens  alte  Herrlichkeit  —  alles  ist  hin- 
gesunken in  den  Staub,  und  die  alten  Kulturen  gehören 
einer  Vergangenheit  an,  die  soweit  zurückliegt,  daß 
der  Blick  kaum  bis  in  jene  Fernen  heranreicht.  An- 
dere Völker,  andere  Sitten  und  besonders  andere 
Religionen  herrschen  heute  in  jenen  Gebieten,  in 
denen  einst  die  Göttinnen  der  Liebe  ihre  begeisterten 
Verehrer  und  Verehrerinnen  fanden.  Man  huldigt  zwar 
auch  jetzt  noch  in  jenen  Ländern  der  Liebe,  bringt 
ihr  Opfer  und  weiht  ihr  das  Leben,  aber  die  Göttinnen 
der  Liebe,  an  die  man  glaubte  und  denen  man  zu 
dienen  meinte,  wenn  man  das  tat,  was  nach  unserer 
Ansicht  Sünde  oder  eher  eine  Beleidigung  der  Gott- 


—    295    - 

heit  als  ein  Dienst  ist,  die  sind  vergangen  und  wohl 
auch  vergessen.    Sie  transit  gloria  mundi. 

Anders  in  Indien,  wo  weder  das  Christentum 
noch  der  Prophet  die  alte  Religion  des  Landes  über 
den  Haufen  zu  rennen  vermochten,  weil  die  indische 
Religion  in  der  Tat  wesentlich  reichere  geistige  Schätze 
und  befriedigende  Lehren  bietet  als  das  alte  Heidentum 
mit  seinen  doch  geradezu  sündhaft  menschlich  ge- 
dachten Göttern  und  Gottheiten.  Indien  ist  konserva- 
tiver, es  ist  auch  vor  allen  Dingen  —  weil  abseits  vom 
Schusse  —  nicht  so  intensiv  in  die  Händel  dieser 
Welt  hineingezogen  worden  und  hat  schon  deshalb 
seine  Eigenart  und  seine  Sitten  viel  besser  bewahren 
können.  Nun,  und  Indien  hatte  und  hat  noch  die 
Dewedaschies,  diese  Dienerinnen  der  Gottheiten,  die 
von  den  Portugiesen  Bajaderen  benannt  wurden  und 
unter  dieser  Bezeichnung  auch  für  das  übrige  Europa 
bekannt  geworden  sind.  Diese  Dewedaschies  hatten 
ebenfalls  die  Pflicht,  sich  im  Tempel  preiszugeben; 
das  erforderte  der  Kult,  ja  das  war  ein  Teil  des  religi- 
ösen Kults  selbst,  und  deshalb  war  diese  Prostitution 
so  ähnlich  wie  Wagner  den  Spaziergang  mit  Dr.  Faust 
bezeichnet,  sie  war  nämlich  auch  ehrenvoll  und  brachte 
Gewinn.  Gewinn  freilich  nur  für  die  Seele  oder  für 
den  Tempel,  nicht  für  die  —  ich  will  mich  an  den 
bekannten  Ausdruck  halten  —  Bajadere.  Mindestens 
waren  diese  leiblichen  Opfer  bei  den  Bajaderen,  die 
dem  Kaam,  dem  tückischen  Gotte  der  Liebe,  dienten, 
geradezu  selbstverständlich.  Ebenso  wie  man  in 
Babylon  der  Mylitta  Opfer  brachte,  die  völlig  deren 
Wirken  entsprachen,  konnte  man  auch  bei  den  Hindus 
dem  Gotte  der  Liebe  nur  Liebesopfer  darbringen.    Der 


—     296     — 

Unterschied  war  nur  der,  daß  in  Babylon,  auch  in 
anderen  Orten  des  Orients,  alle  weiblichen  Wesen 
verpflichtet  waren,  sich  zu  Ehren  der  Gottheit  hinzu- 
geben, während  in  Indien  nur  die  berufenen  Dienerinnen 
der  Gottheit  zu  solchen  Opfern  die  Befugnis  hatten. 
In  Indien  waren  es  deshalb  auch  nur  die  Priester, 
die  bei  derartigen  Opfern  die  Rolle  des  Mitwirkenden 
übernehmen  durften.  Das  erklärt  sich  wieder  aus 
dem  Umstand,  daß  die  verhältnismäßig  geringe  Anzahl 
von  Bajaderen  wohl  an  die  Priester  keine  allzugroßen 
Anforderungen  stellte,  wie  die  gesamte  weibliche 
Bevölkerung  einer  Riesenstadt  sie  gestellt  haben  wird. 
Wenn  man  schlechthin  von  Bajaderen  spricht  und 
damit  alle  die  versteht,  die  sich  durch  Tanzen  usw. 
ihren  Unterhalt  erwerben,  gleichviel  ob  sie  Tempel- 
dienerinnen oder  profane  Tänzerinnen  waren,  so  ist 
es  wohl  erklärlich,  daß  daraus  eine  Begriffsverirrung  ent- 
stehen mußte,  die  völlig  die  Bedeutung  der  einzelnen 
Berufsgruppen  übersehen  läßt.  Die  erste  Klasse 
bildeten  sicherlich  nur  die  eigentlichen  Dewedaschies, 
also  die  weiblichen  Götterdienerinnen.  Die  vornehm- 
sten Dewedaschies  erfreuten  sich  ganz  besonderer 
Auszeichnungen,  sie  galten  als  edle  Damen  und  standen 
unter  dem  Schutze  des  Publikums.  Sie  waren  von 
der  Außenwelt  abgeschieden  und  durften  niemals  für 
profane  Feierlichkeiten  Tänze  ausführen.  Dagegen 
war  es  ihnen  gestattet,  sich  einen  Geliebten  zu  wählen, 
der  aber  den  ersten  beiden  Hindukasten  angehören 
mußte.  Wohl  stets  war  der  Geliebte  ein  Tempel- 
bramine,  der  täglich  die  Auserkorene  in  ihrer  Zelle 
besuchen  und  sich  nach  Herzenslust  mit  ihr  erfreuen 
durfte.    Es  scheint    dieser  sexuelle  Verkehr  nicht  nur 


—     297     — 

ein  Recht  sondern  sogar  eine  religiöse  Pflicht  der 
Dewedaschies  gewesen  zu  sein,  also  eine  religiöse 
Prostitution.  Die  zweite  Klasse  der  Dewedaschies 
war  noch  günstiger  gestellt,  sie  galt  aber  wohl  nicht 
für  so  heilig  wie  die  erste  Klasse.  Diese  Dewedaschies 
waren  in  der  Auswahl  ihrer  Liebhaber  unbeschränkt. 
Sie  durften  wählen,  soviele  sie  wollten,  und  sie  waren 
auch  nicht  gezwungen,  nur  bestimmte  Kasten  zu 
bevorzugen.  Dann  aber  ließen  sie  sich  gut  bezahlen. 
Sie  durften  auch  öffentliche  Lustbarkeiten  und  private 
Festlichkeiten  durch  ihre  Künste  verschönen  und  sich 
für  diese  Leistungen  gut  bezahlen  lassen.  Die  Dewe- 
daschies durften  schließlich  bei  keinem  Feste  fehlen, 
und  sie  sollen  nicht  selten  geradezu  Reichtümer  ge- 
sammelt haben.  Daß  sie  dabei  zu  wirklichen  Freuden- 
mädchen wurden,  das  tat  ihrem  Ansehen  nicht  den 
geringsten  Abbruch.  Wie  sollte  es  auch?  Das,  was 
als  eine  religiöse  Pflicht  der  Bajaderen  galt,  das  konnte 
doch  nicht  plötzlich  als  ein  schändendes  Laster  gelten, 
bloß  weil  nicht  der  Tempelbramine  sondern  irgend 
ein  Privatmann  die  Früchte  des  „Opfers"  brach.  Man 
dachte  gar  nicht  daran,  in  der  Hingabe  etwas  Unsitt- 
liches oder  gar  etwas  Schändendes  zu  sehen,  und  der 
Umstand,  daß  die  Bajaderen  Zahlung  heischten,  was 
sie  ja  wiederum  mit  Erlaubnis  der  Priester  taten, 
konnte  nach  der  Ansicht  der  Hindus  bei  der  Beur- 
teilung ihres  Handelns  gar  keine  Bedeutung  haben. 

Nun  gab  und  gibt  es  aber  auch  noch  einfache, 
ich  möchte  sagen,  private  Bajaderen,  die  in  gar  keinem 
Verhältnis  zum  Tempel  standen,  sondern  auf  eigene 
Rechnung  tanzten  und  buhlten.  Ob  auf  eigene 
Rechnung,   das   möchte   ich   nicht   einmal   behaupten, 


—    298     — 

denn  in  der  Regel  standen  die  Mädchen  im  Dienste 
einer  älteren  Dewedaschie,  die  ihnen  Kleidung  und 
Beköstigung  gab,  die  Einnahmen  aber  für  sich  behielt 
und  die  Bajaderen  nicht  selten  geradezu  als  Sklavinnen 
betrachtete.  Es  sind  da  eine  ganze  Reihe  von  Ab- 
stufungen zu  verzeichnen,  die  aber  alle  die  prinzipielle 
Übereinstimmung  hatten,  daß  ihr  Treiben  niemals  ihrer 
Ehre  Abbruch  tat. 

Ich  bin  der  Ansicht,  daß  die  profane  Prostitution, 
die  im  Orient  gewaltige  Ausdehnung  genommen  hat, 
meist  aus  der  religiösen  Prostitution  hervorgegangen 
ist.  Damit  erklärt  es  sich  dann  auch  ganz  unge- 
zwungen, daß  dies  Gewerbe  nicht  als  schändend 
betrachtet  wurde.  „Sie  duo  idem  faciunt,  non  est 
idem."  Das  gilt  zwar  sonst  von  der  Prostitution  in 
erster  Linie.  Es  ist  derselbe  Akt,  den  der  Mann  und 
die  Prostituierte  gemeinschaftlich  verrichten  und  doch 
soll  es  nicht  dasselbe  sein.  Dem  Manne  erwächst  an 
seiner  Ehre  aus  einem  derartigen  Verkehr  kein  Ab- 
bruch; das  Mädchen  aber  wird  dadurch  zum  ver- 
worfensten Geschöpf,  das  man  mit  einem  Fußtritt 
zur  Tür  hinausbefördern  kann,  wenn  man  es  nicht 
mehr  braucht.  Der  Orientale  denkt  in  diesem  Punkte 
anders;  er  ist  gerechter,  das  kommt  aber  auch  wohl 
daher,  daß  er  an  sich  von  den  Weibern  eine  noch 
geringere  Meinung  hat  als  der  Abendländer.  Ihm  ist 
das  Weib  weiter  nichts  als  ein  Werkzeug  seiner  Lüste, 
mag  er  es  nun  für  immer  in  seinen  Harem  sperren, 
oder  mag  er  es  nur  gelegentlich  für  seine  Zwecke 
ausnutzen.  In  dem  einen  wie  in  dem  andern  Falle 
muß  er  zahlen,  in  dem  einen  wie  in  dem  anderen 
Falle  ist  ihm  das  Weib  nur  Mittel  zum  Zwecke.     In 


—     299     — 

der  Regel.  Die  Fälle  einer  wirklichen  Liebe,  die  etwa 
das  ist,  was  wir  im  besten  Falle  darunter  verstehen, 
sind  Ausnahmen  von  der  Regel. 

Ich  habe  von  einer  religiösen  und  einer  profanen 
Prostitution  gesprochen  und  der  Vermutung  Ausdruck 
gegeben,  daß  die  profane  wohl  an  verschiedenen  Orten 
sich  aus  der  religiösen  entwickelt  habe.  Daß  dies 
nicht  überall  der  Fall  gewesen  ist,  liegt  auf  der  Hand, 
einmal  schon  weil  es  nicht  überall  eine  religiöse  Prosti- 
tution gegeben  hat,  ferner  weil  die  Entstehung  der 
profanen  gewissermaßen  aus  sich  selbst  heraus  sich 
so  außerordentlich  leicht  erklären  läßt,  daß  man  wohl 
sagen  darf,  sie  hätte  auf  alle  Fälle  entstehen  müssen. 
Der  Sinnenrausch  fragt  nichts  nach  menschlichen  Insti- 
tutionen; er  ist  unabhängig  von  der  Ehe,  die  selbst  auch 
eine  menschliche  Institution  ist,  die  deshalb  je  nach 
der  örtlichen  Auffassung  und  den  örtlichen  Verhält- 
nissen stark  variiert.  Der  Sinnenrausch  ist  da,  ehe  eine 
Eheabsicht  entsteht,  oft  genug  ohne  solche  oder  sogar  mit 
der  festen  Absicht,  keine  Ehe  zu  schließen.  Da  ist 
es  denn  sehr  naheliegend,  daß  der  sexuelle  Verkehr 
auch  ohne  Ehe  gesucht  und  gewährt  wird,  besonders 
wenn  kleine  oder  größere  Geschenke  den  weiblichen 
Teil  geneigter  machen,  auf  die  Wünsche  des  Mannes 
einzugehen.  Das  erzieht  dann  —  mutatis  mutandis 
—  die  Prostitution  ganz  von  selbst. 

Als  eine  Art  Übergang  denke  ich  mir  die  grie- 
chische Aphrodite-  und  die  römische  Venusverehrung. 
Es  war  das  nicht  in  dem  Maße  religiöse  Prostitution 
wie  in  Babylon  beim  Mylittakult;  aber  auch  nicht 
Prostitution  im  weltlichen  Sinne.  Einen  starken  reli- 
giösen Hintergrund  hatte  die  Sache  doch,  wenigstens 


—     300     — 

zweifellos  im  Entstehungsstadium.  Ich  habe  schon 
die  Dionysien  und  Bacchanalien  beschrieben  und  dar- 
getan, daß  diese  auch  Götterdienste  waren,  die  natürlich, 
wie  man  dies  übrigens  bei  jedem  Götter-  und  Gottes- 
dienst beobachten  kann,  mehr  und  mehr  entarteten. 
Würde  Christus  heute  auf  unsere  Erde  zurückkehren, 
er  würde  die  Kirche  säubern,  wie  er  einst  mit  der 
Geißel  den  Tempel  reinigte.  Er  würde  auch  heute 
den  schwersten  Kampf  nicht  mit  der  „sündigen  Mensch- 
heit" zu  kämpfen  haben,  sondern  -  ?  Ja,  das  ist  das 
alte  Lied.  Die  gesunde  Idee  eines  Kults  gleicht  der 
schönen,  zarten  Wunderpflanze,  die  in  den  Garten  ver- 
setzt wird,  und  die  schließlich  im  Unkraut  ersticken 
muß.  Äußerliche  Form,  Menschendogma  und  schlimmere 
Dinge  wie  Selbstsucht,  Herrschsucht  usw.  ersticken  die 
Wunderblume  des  reinen  Glaubens  und  anstelle  der 
innigen  Gottesverehrung  tritt  ein  hohles  Gespenst, 
daß  durch  den  äußerlichen  Prunk  und  Pomp,  durch 
die  formelle  Feierlichkeit,  mit  der  es  in  die  Erscheinung 
tritt,  blendet,  aber  keine  innerliche  Befriedigung,  keine 
innerliche  Erhebung  mehr  gestattet,  weil  ihm  die  inner- 
liche Wahrheit  und  Reinheit  fehlt. 

So  war  es  bei  den  Dionysien  und  Bacchanalien 
des  griechischen  und  römischen  Altertums,  so  war  es 
bei  dem  Aphrodite-  und  Venusdienst.  Man  soll  sich 
nicht  dadurch  täuschen  lassen  oder  selbst  täuschen, 
daß  man  die  Achseln  zuckt  und  geringschätzig  über 
das  Heidentum  lächelt,  das  doch  so  gar  keine  Berechti- 
gung gehabt  habe  und  dem  denkenden  Menschen  nur 
ein  Lächeln  habe  abgewinnen  können.  Wer  das  sagt, 
der  hat  damit  das  Geständnis  abgelegt,  daß  er  von 
dem  rein  innerlichen,    d.  h.  an  keine   Form,    an   kein 


—     301     — 

Dogma  gefesselten  religiösen  Empfinden  eines  Volkes 
keine  Ahnung  hat.  Daß  die  naive  Religiosität  der 
Alten  viel  inniger,  viel  mehr  Sache  des  Herzens  war 
als  jede  andere,  das  ist  nicht  in  Abrede  zu  stellen. 
Kein  Unternehmen  gab  es,  mochte  es  für  die  arm- 
selige Privathäuslichkeit  des  Einzelnen,  mochte  es  für 
das  öffentliche  Staatswesen  geplant  sein,  zu  dem  nicht 
die  Hilfe  der  Götter  angefleht  und  durch  Opfer  erreicht 
werden  mußte.  In  der  Regel  holte  man  Orakelsprüche 
ein,  die  von  Priesterinnen,  wie  es  die  Pythia  des 
berühmten  Delphi-Orakels  war,  vermittelt  wurden,  wobei 
diese  Priesterinnen  etwa  dieselbe  Rolle  spielten,  die 
die  heutige  „okkulte  Wissenschaft"  den  Medien  zu- 
weist. 

Auch  der  Dienst  der  Venus  und  Aphrodite  wurde 
zunächst  sehr  ernst  genommen;  er  wirkte  keineswegs 
entsittlichend,  wenn  wir  dies  Wort  nicht  mit  dem 
Maße  messen  wollen,  mit  dem  die  moderne,  heuchle- 
rische Prüderie  jede  wirkliche  Sittlichkeit  totzuschlagen 
bemüht  ist,  so  daß  auch  hier  die  Wunderblume  reinen 
Empfindens  durch  Disteln,  die  Hauptnahrung  der 
Esel,  und  anderes  garstiges  Unkraut  erstickt  werden 
würde,  wenn  die  Bemühungen  gewisser  Kreise,  was 
erfreulicher  Weise  nicht  der  Fall  sein  wird,  dauernde 
Erfolge  haben  könnten.  Die  gesunde  Sinnlichkeit  des 
Altertums  —  ich  will  gleich  vorweg  betonen,  daß  sie 
nicht  lange  sich  dieser  Gesundheit  erfreuen  durfte  — 
war  nichts  weniger  als  Unsittlichkeit.  Wenn  das 
Altertum  den  Göttinnen  huldigte,  die  ihnen  die  seligsten 
Freuden  des  Liebeslebens  gewährte,  die  für  die  Er- 
haltung der  Art  sorgte,  so  war  dies  durchaus  natürlich 
und    —    vom    Standpunkte    jener    Anschauung    aus 


—     302     — 

betrachtet  —  vernünftig.  Daß  dieser  Kult  entartete, 
und  daß  mit  ihm  die  „gesunde"  Sinnlichkeit  entarten 
mußte,  das  versteht  sich  für  jeden  objektiven  Beur- 
teiler von  selbst,  weil  leider  nichts  in  der  Welt  seine 
ursprüngliche  Reinheit  und  Klarheit  behalten  kann. 
Die  Menschheit  strebt  ständig  der  Vervollkommnung 
entgegen,  sie  sucht  zu  verbessern,  zu  veredeln  und 
das,  was  sie  für  das  Heiligste  und  Schönste  hält, 
noch  feierlicher  und  schöner  zu  gestalten.  Das  ist 
das  leitende  Prinzip.  Daß  der  Erfolg  nicht  dem  Wollen 
entspricht,  das  hat  wieder  darin  seinen  Grund,  daß 
niemals  das  Heiligste  und  Schönste  einer  künstlichen 
Steigerung  fähig  ist,  weil  das  Vollkommene  eben  nicht 
vollkommen  wäre,  wenn  es  auch  den  Komparativ  oder 
Superlativ  vertrüge.  Man  soll  nun,  so  tief  man  es 
auch  bedauern  muß,  daß  menschlicher  Aberwitz  so 
viel  verdirbt,  wenn  er  es  verbessern  will,  doch  immer 
an  das  alte  römische  Wort  denken:  „Si  absunt  vires, 
voluntas  est  laudanda."  Niemals  sind  sich  die 
Weltverbesserer  bewußt  gewesen,  daß  ihre  Idee 
Schaden  bringen  könne;  niemals  ist  ein  Dogma  von 
Allen,  die  ihm  das  Wort  redeten  als  eine  Verschlechte- 
rung empfunden  worden.  Man  soll  deshalb  den  guten 
Willen  der  „Verbesserer"  annehmen,  mag  man  ihr  Tun 
auch  noch  so  bedauern.  Selbst  ein  Goethe  hat  den 
weisen  Rat  erteilt,  an  den  Busen  der  Natur  zurückzu- 
kehren, und  doch  hat  er  selbst  sich  ebenso  wie  die 
übrigen  Menschen  immer  mehr  von  der  Natur  ent- 
fernt. Und  hat  es  jemals  Menschen  gegeben,  die  diesen 
Rat  befolgen  wollten,  nicht  etwa  weil  er  von  Goethe 
erteilt  war,  was  sie  ja  meist  nicht  einmal  wußten, 
sondern  weil  sie  selbst  in  ihrem  Herzen  die  Notwendig- 


—     303     — 

keit  empfanden,  so  sind  sie  gewöhnlich  Fantasten 
gewesen,  die  völlig  übersehen  hatten,  daß  der  Weg, 
den  die  Menschheit  Jahrtausende  lang  gewandelt  ist, 
nicht  mit  einem  kühnen  Sprung  in  einigen  Sekunden 
rückwärts  getan  werden  kann,  und  die  auch  nur  in 
äußerlichen  Formen  parodierten  und  deshalb  mit  vollstem 
Rechte  Gegenstand  des  Spottes  und  Gelächters  wurden. 
Vor  allen  Dingen  soll  man  nicht  glauben,  daß  es  ein 
Ideal  sein  könnte,  auf  das  Niveau  der  Höhlenbewohner 
zurückzukehren.  Das  sind  Utopien.  Da  es  lächerlich  wäre, 
den  Segen  einer  gesunden  Kultur  und  Vervollkomm- 
nung zu  leugnen,  da  aber  jede  Kultur  und  jeder  Fort- 
schritt uns  von  der  Natur  entfernen  müssen,  sofern 
wir  in  der  Natur  nur  das  verstehen  wollen,  was  die 
Menschheit  war,  als  sie  noch  „in  Kinderschuhen"  steckte 
—  in  Wirklichkeit  gab  es  natürlich  keine  Schuhe  -, 
so  sind  das  Probleme,  die  niemals  der  Lösung  mit 
Erfolg  entgegengebracht  werden  können. 

Kommen  wir  also  zum  Kult  der  Liebesgöttinnen 
zurück,  und  machen  wir  uns  mit  dem  Gedanken  ver- 
traut, daß  dieser  Kult,  jemehr  er  entwickelt  wurde, 
desto  mehr  entarten  mußte,  so  finden  wir  unschwer 
die  Überleitung  zur  weltlichen,  profanen  und  abscheu- 
lichsten Prostitution.  Ich  möchte  einen  weiteren 
Schritt  in  dem  griechischen  Hetärenwesen  sehen.  Das 
war  nicht  Prostitution  in  des  Wortes  übelster  Bedeutung. 
Es  ist  nicht  gut  möglich,  die  vulgäre  Straßendirne  und 
die  Hetäre  des  alten  Griechenlandes  in  einen  Topf  zu 
werfen,  mag  dies  auch  für  enragierte  Sittlichkeitsfexe 
ein  Kinderspiel  sein.  Das  Hetärenwesen  war  in  seinen 
Anfängen  eine  Institution,  der  ein  gewisser  Idealismus 
nicht  abgesprochen  werden  darf.    So  hoch  die  grie- 


—     304     — 

chische  Kultur  auch  über  die  anderen  Länder  empor- 
ragte; sie  war  doch  —  das  möchte  ich  den  orienta- 
lischen Ballast  nennen  —  dadurch  beeinträchtigt,  daß 
sie  der  Frau  eine  zu  niedrige  Rolle  im  öffentlichen,  ja 
sogar  im  häuslichen  Leben  zuteilte.  Die  Frau  war  da, 
dem  Manne  Nachkommen  zu  schaffen,  die  als  legitime 
zu  gelten  hatten,  sonst  hatte  sie  weder  eine  gesellschaft- 
liche, noch  sonst  eine  Bedeutung.  Das  in  einem 
Lande  des  frohen  Genießens,  in  dem  doch  wahrlich 
das  ewig  Weibliche  etwas  mehr  sein  mußte  als  das 
bloße  Instrumentum  pollutionis,  denn  sonst  wäre 
die  Kultur,  der  hohe  Geistesschwung  wohl  menschlich 
nicht  verständlich  gewesen,  mindestens  nicht  mit  der 
heiteren  Lebenslust  der  Griechen,  die  ihre  Göttinnen 
ebenso  verehrten  wie  die  Götter,  in  Einklang  zu 
bringen.  Die  griechische  Frau  war  allerdings  ihrer 
Bildung  nach  durchaus  nicht  geeignet,  dem  Manne 
eine  geistige  Anregung  zu  bieten.  Daß  man  in 
Griechenland  diesen  Mangel  nicht  beseitigt  hat,  daß 
man  ausschließlich  auf  die  körperliche  Ausbildung 
und  Gesundheit  der  Frauen  Gewicht  legte  und  bemüht 
war,  kräftige  und  gesunde  Mütter  als  die  Garantie  für 
ein  künftiges  kräftiges  und  gesundes  Geschlecht  zu 
schaffen,  würden  wir  nach  heutiger  Ansicht  sehr  wohl 
die  Neigung  haben,  als  schweren  Vorwurf  zu  erheben. 
Zwar  nicht  ganz  mit  Recht,  wenn  anders  man  Jeman- 
dem nicht  etwa  noch  daraus  einen  Vorwurf  machen 
will,  daß  er  nicht  die  Fähigkeit  besitzt,  nach  Belieben 
aus  seiner  Haut  herauszuschlüpfen.  Das  Altertum 
kannte  es  eben  nicht  besser  und  das  orientalische 
Altertum  ganz  besonders  nicht.  Es  kam  eben  der 
Ehefrau   nicht    zu,    durch    ihre    geistigen   Gaben   die 


—     305     — 

Gesellschaft  zu  fesseln  und  mit  anderen  Männern  zu 
flirten  —  um  dies  abscheuliche  Dictum  nun  einmal  zu 
gebrauchen.  Es  konnte,  mit  einem  Worte  gesagt  — 
die  Ehefrau  nicht  Mittelpunkt  des  geistigen  Lebens 
sein,  denn  das  wäre  mit  den  Ansichten  über  Pflichten 
und  Aufgaben  einer  Ehefrau  nicht  vereinbar  gewesen, 
wiederum  nach  dem  Status  jener  Zeit  mit  vollstem 
Rechte. 

Wollte  man  aber  die  Frau  wirklich  in  den 
Mittelpunkt  des  geistigen  Lebens  treten  lassen,  so 
konnte  sie  sicher  nicht  Ehefrau  sein;  sie  war  nur  als 
Freundin,  nicht  als  Frau  vorstellbar.  Als  Freundin, 
—  als  Hetäre  —  war  dem  weiblichen  Individuum 
Gelegenheit  geboten,  gesellschaftliche  Triumphe  zu 
feiern.  Das  läßt  nun  wieder  mit  Notwendigkeit  den 
Schluß  zu,  daß  es  unbedingt  den  Frauen  auch  im  Altertum 
schon  möglich  war,  sich  eine  glänzende  Bildung  zu 
erwerben,  denn  diese  war  für  die  Hetäre  unerläßlich. 
Sie  fesselte  durch  ihren  Geist  und  ihre  Unterhaltungs- 
kunst, die  immer  etwas  höhere  Anforderungen  stellte 
als  der  übliche  Gesellschaftsschliff,  der  es  ermöglicht, 
angenehm  und  anziehend  über  die  hohlsten  und 
nichtigsten  Dinge  des  Lebens  hinwegzutänzeln.  Die 
Hetäre  konnte  den  geistig  hochstehenden  Griechen 
genügen.  So  war  die  Hetäre  ursprünglich  eine  Prie- 
sterin des  geistigen  Verkehrs.  Ich  habe  aber  schon 
wiederholt  gesagt,  dass  jedes  Ding,  jede  Institution 
durch  ihre  weitere  Entwicklung  entartete  und  ein- 
büßte. Auch  das  Hetärentum  wurde  zu  nichts  als  zu 
einer  verfeinerten  Prostitution  und  die  Hetäre  lernte 
außer  anderen,  der  Unterhaltung  dienenden  Künsten, 
vor  allen  Dingen  die,  ihre  Freunde  in  der  unerhörtesten 

20 


—     306     — 

Weise  auszunutzen  und  auszuplündern.  Sie  wurden 
dabei  allerdings  reich,  und  da  der  Reichtum  besticht 
und  adelt,  so  tat  dies  ihrem  Ansehen  und  ihrer  Be- 
deutung zunächst  keinen  Abbruch,  es  war  aber  doch 
der  wichtigste  Schritt  zur  profanen  Prostitution  in  ihrer 
widerlichsten  Bedeutung.  Daß  die  Hetären  in  der 
Tat  eine  Rolle  spielten,  die  weit  über  die  einer  gewöhn- 
lichen Prostituierten  hinausging,  beweist  wohl  schon 
die  Tatsache,  daß  Perikles,  obwohl  er  verheiratet  war, 
mit  der  Hetäre  Aspasia  in  dauernde  Verbindung  trat 
und  diesen  Verkehr  in  keiner  Weise  zu  bemänteln  suchte. 
Ich  nenne  den  Perikles  nicht  allein  deshalb,  weil  sein 
Name  bis  auf  den  heutigen  Tag  als  einer  der 
bedeutendsten  bekannt  geblieben  ist,  sondern  auch 
deshalb,  weil  Perikles  der  erste  Ehemann  war,  der 
öffentlich  mit  einer  Hetäre  verkehrte,  aber  bald  so  viele 
Nachahmer  fand,  daß  Nietzsche  mit  Recht  schreiben 
konnte,  im  alten  Griechenland  seien  die  Ehefrauen 
dazu  da  gewesen,  dem  Manne  Kinder  zu  schenken; 
die  viel  edlere  Aufgabe,  den  Mann  zu  unterhalten  und 
zu  vergnügen,  habe  die  Hetäre  zu  erfüllen  gehabt. 
Perikles  war  in  der  Tat  die  geeignetste  Person,  eine 
solche  Neuerung  einzuführen.  Er  bekämpfte  die 
Aristokratie,  damit  zugleich  eine  Menge  Vorurteile. 
Er  setzte  es  durch,  daß  dem  Volke  aus  dem  Staats- 
schatze Schenkungen  gewährt  wurden.  Er  tat  viel  für 
Kunst  und  Wissenschaft,  war  der  glänzendste  Redner, 
der  je  gelebt  hat,  und  schwang  sich  geradezu  zum 
Alleinherrscher  über  das  so  unabhängige  Athen  auf. 
Perikles  wurde  natürlich  viel  von  seinen  Landsleuten 
angefeindet,  und  man  suchte  ihn  noch  dadurch  zu 
verletzen,   daß  man  seine   Freundin  Aspasia  beschul- 


—     307     — 

digte,  sie  habe  ihm  eine  ganze  Anzahl  freier  Weiber 
verkuppelt.  Er  selbst  übernahm  mit  seiner  glänzenden 
Beredsamkeit  die  Verteidigung  der  Hetäre  und  erzielte 
auch  ihre  Freisprechung. 

Gerade  die  Geschichte  des  Perikles  —  ich  meine 
nicht  die  seiner  politischen  Bedeutung  —  ist  für  mein 
Thema  von  hervorragender  Wichtigkeit.  Schon  der 
Umstand,  daß  ein  solcher  Mann,  der  beste  Kopf  seiner 
Zeit  —  seine  höchste  Blüte  fällt  in  die  Zeit  von  Cimons 
Tod  ab  (449  v.  Chr.)  und  hielt  eigentlich  bis  zu  seinem 
Tode  (429)  an  — ,  überhaupt  eine  Hetäre  seines  ver- 
trauten Umganges  würdigte,  daß  er  die  Freundschaft 
mit  ihr  nicht  allein  aufrecht  erhielt,  sondern  sie  auch 
vor  aller  Welt  bekannte,  beweist  klar  und  deutlich, 
eine  wie  wichtige  und  doch  sicherlich  nicht  verächt- 
liche Stellung  die  Hetären  in  jener  Zeit  einnahmen. 
Die  Anklage  gegen  die  Hetäre  Aspasia  selbst  ist 
wiederum  für  die  kulturhistorische  Forschung  erheblich 
wertvoller,  als  dies  auf  den  ersten  Blick  erscheinen 
will.  Nicht  daraus  machten  ihr  die  rachsüchtigen 
Athener  einen  Vorwurf,  daß  sie  Hetäre  oder  daß  sie 
öffentlich  als  Freundin  des  Perikles  bekannt  war,  und 
Perikles  selbst  betonte  dieses  Verhältnis  noch  dadurch 
ganz  besonders,  daß  er  öffentlich  mit  Feuer  und  Begei- 
sterung als  Verteidiger  der  Aspasia  auftrat.  Es  ist  also 
weder  in  dem  Stande  der  Aspasia,  noch  in  ihrem 
Freundschaftsbunde  etwas  Anstößiges  gefunden  wor- 
den. Strafbar  sollte  die  Hetäre  sich  nur  dadurch  ge- 
macht haben,  daß  sie  ihrem  Freunde  Frauen  in  kupp- 
lerischer Absicht  zugeführt  habe.  Wenn  man  dies 
annahm,  mußte  man  eigentlich  wohl  von  dem  Gedan- 
ken ausgehen,  daß  der  Verkehr  einer  Hetäre  mit  einem 

20* 


—     308     — 

Manne  an  sich  eine  harmlose  Sache  sei,  denn  hätte 
man  einen  sexuellen  Verkehr  als  den  wesentlichen 
Zweck  des  Verkehrs  betrachtet,  so  würde  doch  wohl 
schwerlich  damit  die  Annahme  vereinbar  gewesen  sein, 
daß  Aspasia  für  ihren  Geliebten  auch  andere  Frauen 
bereit  gehalten  haben  sollte.  Viel  wahrscheinlicher 
wäre  diese  Anklage  gewesen,  wenn  festgestanden 
hätte,  daß  das  ganze  Verhältnis  nichts  weiter  gewesen 
sei,  als  ein  harmlos  freundschaftlicher  Verkehr,  in  dem 
Perikles  lediglich  geistige  Genüsse  suchte  und  fand, 
sodaß  Aspasia  ihm  ohne  Eifersucht  und  ohne  sonstige 
Bedenken  für  seine  sexuellen  Begierden  andere  Frauen 
zuführen  konnte. 

Man  ersieht  weiter  daraus,  daß  die  Kuppelei 
als  eine  sehr  ernste  Straftat  angesehen  wurde,  die 
aber  nicht  dem  zur  Last  fiel,  der  sich  der  Kupplerin 
bedient  hatte,  sondern  lediglich  für  die  Kupplerin  ver- 
hängnisvoll werden  konnte.  Wäre  Perikles  als  Mit- 
schuldiger angesehen  worden,  so  würde  er  nicht  in 
der  Lage  gewesen  sein,  die  Hetäre  zu  verteidigen, 
sondern  er  hätte  dann  mindestens  sich  selbst  mit  ver- 
teidigen müssen.  Es  kann  nach  alledem  mindestens 
zu  jener  Zeit  die  Hetäre  nicht  in  einem  so  üblen  Rufe 
gestanden  haben,  wie  oft  angenommen  wird.  Das 
ist  auch  aus  anderen  historischen  Daten  zu  entnehmen 
und  wird  weniger  befremden,  wenn  man  erwägt,  zu 
welcher  Machtfülle  bis  in  die  neueste  Geschichte  hinein 
zuweilen  fürstliche  und  königliche  Maitressen  gelangten, 
die,  wie  einst  die  Hetären  des  alten  Griechenlands,  die 
rechtmäßige  Gattin  ihrer  Galane  bis  in  das  dunkelste 
Nichts  zurückdrängten,  ihr  die  Rolle  der  legitimen 
Spenderin  des  Thronerben  überließen,  selbst  aber  den 


—     309     — 

Herrscher  und  damit  zugleich  das  Land  regierten, 
gefeiert  und  verehrt  von  der  Schar  der  Höflinge,  die 
allerdings  eigentlich  noch  feiler  war  als  die  Maitresse, 
umworben  und  verhätschelt  von  den  Würdenträgern 
und  den  Großen  des  Reiches,  die  nur  mit  dem  Willen 
und  der  Genehmigung  des  Buhlweibes  ihr  Amt  be- 
halten und  dessen  Pflichten  ausüben  konnten. 

Das  Altertum,  das  von  dem  Vorurteil  der  Eben- 
bürtigkeit noch  nicht  angekränkelt  war,  konnte  sogar 
einen  großen  Schritt  weiter  gehen  als  das  zeremonielle 
Zeitalter  z.  B.  der  französischen  Ludwigs-Monarchien. 
Die  Hetäre  Thais  war  die  Geliebte  Alexanders.  Ihre 
diesem  Bund  entstammenden  Kinder  wurden  als  voll- 
berechtigte Erben  Alexanders  angesehen,  so  daß  ihr 
Sohn  Erbe  des  Ptolemäischen  Thrones,  ihre  Tochter 
Königin  von  Cypern  werden  konnten.  Das  ist  ein 
Beispiel  unter  vielen.  Nicht  selten  wurden  Hetären 
von  den  Herrschern  geradezu  königliche  Ehren  er- 
wiesen. Bekannt  ist  die  Stellung  der  Myrina  am  Hofe 
des  Demetrius.  Welche  Reichtümer  eine  Lais,  eine 
Phryne  erwarben,  ist  bekannt,  und  besonders  von  der 
Lais  werden  Geschichten  der  Nachwelt  überliefert,  die 
lebhaft  an  die  Schrullen  und  Capricen  einer  modernen 
Welt-  oder  auch  meinetwegen  Halbweltdame  erinnern. 
Die  Phryne  machte  von  ihren  Schätzen  —  ich  meine 
natürlich  nicht  die  lebenden  —  einen  edleren  Gebrauch 
als  die  Lais.  Als  Theben  zerstört  worden  war,  bot 
sie  den  Thebanern  an,  die  Stadtmauern  auf  ihre  Kosten 
wieder  aufbauen  zu  lassen,  gewiß  ein  hochherziges 
Anerbieten,  das  wohl  ebenfalls  nicht  hätte  gemacht  werden 
können,  wenn  die  Hetäre  gar  so  verachtet  gewesen 
wäre.    Es  kam  übrigens  durchaus  nicht  so  selten  vor, 


—     310     — 

daß  Hetären  sich  als  patriotisch  fühlende  Wesen  er- 
wiesen.   In  Korinth  wurden  die  Hetären  geradezu  als 
Retterinnen  der  Stadt  gefeiert  und  verewigt.    Als  die 
Perser  das  kleine  Griechenland  mit  ihren  Riesenheeren 
bedrohten    und    auch    der    unerschrockene   Mut    des 
tapferen  Volkes  nicht  die  bangen  Sorgen  um  den  Aus- 
gang des  ungleichen  Kampfes  zu   bannen  vermochte 
da  taten  die  korinthischen  Hetären  ein  Gelübde,  be- 
gaben sich  in  den  Tempel  der  Aphrodite  und  beteten 
für  das  Wohl  der  Stadt,  die  auch  wirklich  gut  fortkam, 
so  daß  man  diese  günstige  Wendung  auf  das  Gebet 
und  das  feierliche   Gelübde  der   Hetäre  zurückführte. 
Das  „dankbare  Vaterland",  das  in  Griechenland  wirk- 
lich dankbar  war  und  sich  auf  diese  Pflicht  der  Dankbar- 
keit nicht  erst  immer  hundert  Jahre  nach  dem  Tode 
des  verdienstvollen  Mitbürgers  usw.  besann,  widmete 
der  Göttin   eine  Gedenktafel,   die  aber  zugleich   den 
Dank  an  die  Hetären  enthielt,  denn  diese  waren  auf 
der  Tafel  bildlich  dargestelt.     Es   haben   auch   sonst 
Künstler   und   Schriftsteller   es   nicht  verschmäht,   die 
einzelnen  Hetären  der  Nachwelt  zu  erhalten,  oder  doch 
wenigstens    deren   Angedenken.     Auch    das    beweist 
wieder  klar  und  deutlich,  welche  hervorragende  Rolle 
diese  oder  doch  wenigstens   eine  große  Anzahl   von 
ihnen   im  öffentlichen   Leben  des  griechischen   Alter- 
tums spielten,  und  daß  es  falsch  ist,  die  gewöhnlichen 
Lustdirnen  mit  den  Hetären  in  einen  Topf  werfen  zu 
wollen.    Die  gefeiertsten  Hetären  waren  auch  durchaus 
nicht  für  jeden  beliebigen  Mann  zugänglich;  es  wird 
von  einigen  sogar  berichtet,  daß  die  Freundschaft  für 
ihren   Freund   bis   über   dessen  Tod   hinaus   dauerte. 
So  werden  die  Hetären  Timandra  und  Theodola,  die 


—    311     — 

dem  großen  Alcibiades  das  Leben  verschönten,  als 
sehr  getreue  und  ergebene  Personen  geschildert,  die 
ihrem  Freunde  auch  nach  dessem  Tode  ergeben  und 
treu  blieben. 

Wenn  man  gleichwohl  das  Hetärenwesen  als  eine 
Art  Prostitution  gelten  lassen  will,  so  ist  es  mindestens  die 
verfeinerte  Prostitution  bei  einem  geistig  hochentwickelten 
Volke  gewesen.    Man  verwechselt  übrigens  sehr  leicht 
das  Hetärenwesen  mit  der  brutaleren  Form  der  Prosti- 
tution, die  es  in  Griechenland  ebenfalls  gab,   und  die 
schon  zeigt,  daß  in  Wirklichkeit  die  Hetäre  doch  etwas 
wesentlich  anderes  war  als  die  eigentliche  Lustdirne, 
die   nach   bestimmtem    gesetzlichen   Reglement    lebte. 
Für  die  Lustdirne  gab  es  besondere  Häuser,  die  sog. 
Dikterien.     Die  Einrichtung  des  Dikterion   wird  dem 
weisen    Solon    zugeschrieben,    der    diese    Institution 
geschaffen  haben  soll,  um  der  sittlichen  Verwilderung 
vorzubeugen    oder  diese    mindestens    in   Bahnen    zu 
lenken,  die  dem  öffentlichen  Wohle  möglichst  wenig 
schaden  konnten.    Wenn  es  wahr  ist,  daß  Solon  das 
Dikterion  geschaffen  und  gesetzlich  geregelt   hat,  so 
ist  diese  Institution   erheblich   älter  als  die  Glanzzeit 
des    griechischen    Hetärenwesens,    die  ich   von   dem 
Zeitpunkt  an  rechne,  an  dem  Perikles  durch  sein  Bei- 
spiel den   freien  Verkehr  zwischen    angesehenen  und 
verheirateten  Bürgern  und  Hetären  sanktionierte.   Solon 
ist  schon  639  v.  Chr.  geboren.     Es  ist  nun  allerdings 
nicht  zu   bestreiten,    daß  Solon   recht   guten    Grund 
hatte,   die  abscheuliche  Verwilderung,    die    in   Athen 
um    sich    griff,    zu    bekämpfen    und   unschädlich   zu 
machen,    denn    die   Zustände    arteten   dergestalt   aus, 
daß  in  der  Tat  ein  besonnener  und  kluger  Staatsmann 


—     312     — 

von  ihnen  den  schließlichen  Zusammenbruch  des 
Staatswesens  befürchten  konnte.  Das  Dikterion  war 
ein  Bordell,  das  nach  bestimmtem  Reglement  geleitet 
werden  mußte,  und  in  das  nur  Sklavinnen  aufgenommen 
werden  durften.  Die  Besucher  hatten  eine  festgesetzte 
Summe  zu  zahlen  und  durften  nicht  ausgebeutet  werden. 
Nach  den  Bestimmungen  Solons  sollten  die  Töchter 
der  Athenienser  überhaupt  nicht  ins  Dikterion  gebracht 
werden  dürfen.  Solon  selbst  ließ  die  Sklavinnen  für 
diese  Häuser  im  Auslande  kaufen;  die  Kosten  wurden 
durch  die  Zahlungen  der  Besucher  gedeckt. 

Ähnlich  war  das  Prostitutionswesen  im  alten  Rom 
geregelt.  Auch  dort  war  die  Prostitution  erlaubt,  aber 
die  Dirnen  standen  in  tiefer  Mißachtung.  Man  hatte, 
wohl  nach  griechischem  Muster  Freudenhäuser  ge- 
schaffen, die  sog.  Lupanarien,  die  unter  der  Aufsicht 
der  Ädilen  standen,  und  die  wohl  ähnlich  organisiert 
waren  wie  das  vorbildliche  Dikterion  in  Athen.  Wie 
es  scheint,  ist  in  Rom  das  „notwendige  Übel"  nicht 
allzustreng  beaufsichtigt  gewesen.  Neben  den  Dirnen, 
die  in  den  Lupanarien  untergebracht  waren  und  diese 
nicht  verlassen  durften,  gab  es  auch  eine  „wilde  Prosti- 
tution", d.  h.  es  trieben  viele  Weiber  das  Gewerbe 
auf  „eigene  Rechnung  und  Gefahr".  Sie  hatten  keine 
bestimmte  Wohnung,  waren  mindestens  nicht  an  ein 
beaufsichtigtes  Haus  gebunden,  sondern  trieben  sich  um- 
her und  machten  ihre  Eroberungen,  so  gut  und  so 
schlecht  es  gehen  wollte.  Es  scheint  allerdings  mehr 
gut  als  schlecht  gegangen  zu  sein,  denn  die  Prosti- 
tution nahm  gewaltig  zu  und  überflutete  nicht  selten 
die  ewige  Stadt  in  geradezu  erschreckender  Weise. 
Die    vagabundierenden    Dirnen     —    Meretrices    und 


—     313     — 

Prostibulae  —  bildeten  eine  nicht  zu  unterschätzende 
Gefahr.     Ich   meine  nicht   gerade  für  die  öffentliche 
Sittlichkeit,  denn  an  der  war  eigentlich  herzlich  wenig 
zu  verderben,  wohl  aber  für  die  öffentliche  Sicherheit, 
denn  die  Meretrices  und  Prostibulae  hatten  einen  ähn- 
lichen Anhang,  wie  ihn  die  moderne  Dirne  an  ihrem 
Zuhälter  hat.    Besonders  unter  den  Kaisern  nahm  die 
Prostitution  in  einer  Weise  zu,  die  wohl  kaum  wieder 
erreicht,  auf  keinen  Fall  aber  übertroffen  werden  kann. 
Die  Lupanarien  waren  stets  überfüllt,  nicht  allein  die 
gewerbsmäßigen  Lustdirnen  drängten  sich  dahin,  son- 
dern   es    wurde   ihnen    auch    seitens   der   römischen 
Damen  eine  starke  Konkurrenz  gemacht.    Man  würde 
es   wohl    nicht    für  möglich    halten,    wenn   es   nicht 
historisch    festgestellt    wäre,    daß    die    vornehmsten 
römischen    Damen,    ja   selbst    die   Kaiserinnen   einen 
förmlichen  Sport  trieben,  die  Lupanarien  aufzusuchen 
und   sich   dort   den   Männern   preiszugeben.     Gerade 
von  einigen  Kaiserinnen  wird  berichtet,  daß  sie  uner- 
sättlich in  ihren  Lüsten  gewesen  seien.   Ich  will  hierfür 
nur  einen  Satz  von  Jakob  Döpler  zitieren,  der  wörtlich 
lautet:  „Kayser  Claudius  war  mit  seinen  Gemahlinnen 
gar  unglücklich,  weil  sie  alle  Huren  waren.    Die  erste 
Nahmens  Aemilia  stieß  er  von  sich,  ehe  er  sich  noch 
völlig    mit    ihr    vermählete.      Der    andern,    so    Livia 
Medullina  hieß,  hatte  er  schon  am  ersten  Hochzeits- 
Tage   satt.     Die  Dritte,   Plautia  Horculanilla,  und  die 
vierte,    Älia    Petina,    wurden    Ehebruchs    bezüchtiget, 
darum  stieß  er  sie  beyde  von  sich.    Die  fünfte  aber, 
Nahmens    Valeria    Messalina,    war  die  ärgste:   Denn 
ihre  Unersättlichkeit   in  der  Wollust  trieb  sie  dahin, 
daß   sie  sich  vermasquieret  ins  Hur-Hauß  begab  und 


—     314     — 

sich  Lycina  nennen  ließ  und  da  sie  es  daselbst  mit 
25  Männern  versucht,  eignete  sie  sich  dadurch  vor 
andern  einen  großen  Ruhm  zu,  ungeachtet  sie  gleich- 
wohl noch  meinte,  daß  sie  zwar  müde,  aber  nicht  satt 
worden."  Es  war  eine  Kaiserin,  die  diesen  denk- 
würdigen Ausspruch  tat.  Es  kommt  ja  natürlich  ganz 
auf  die  individuelle  Veranlagung  an,  welches  Maß  an 
sexueller  Befriedigung  erforderlich  ist,  die  Begierde  zu 
stillen,  und  es  mag  Herrn  Döpler  wohl  darin  beigestimmt 
werden,  daß  ein  Verkehr  mit  25  Männern  selbst  in 
einem  solchen  Milieu,  wie  es  das  Lupanarium  ist,  zu 
besonderem  Ruhm  gereichen  muß.  Jedenfalls  stand 
aber  die  Kaiserin  Valeria  Messalina  im  alten  Rom  nicht 
vereinzelt  in  Bezug  auf  ihre  sittlichen  „Grundsätze" 
da,  und  gerade  in  den  vornehmsten  Kreisen  liebten 
es  die  Damen,  sich  alle  nur  erdenklichen  Extravaganzen 
zu  erlauben,  so  daß  wohl  den  guten  Kaiser  Claudius, 
dem  alle  seine  Gattinnen  ein  stattliches  Geweih  auf- 
steckten, —  vor  und  besonders  nach  der  Hochzeit  — 
die  recht  bedenklich  geäußerte  Lebenslust  der  Messa- 
lina arg  verdrossen  hat  —  Döpler  sagt:  „Ist  deswegen 
von  Claudio  umgebracht  worden"  — ,  im  allgemeinen 
war  aber  die  Verwilderung  so  weit  gediehen,  daß  man 
selbst  einer  Kaiserin  die  Gastrolle  in  dem  Lupanarium 
garnicht  so  sehr  verübelte. 

Die  Lustdirnen  —  ich  muß  zu  ihnen  auch  die 
vornehmen  Damen  zählen  —  traten  mit  immer  größerer 
Frechheit  auf  und  machten  sich  überall  breit,  wo  sie 
hoffen  konnten,  einen  Anhang  zu  finden.  In  den  Bädern, 
in  denen  meist  allerdings  das  Baden  nicht  die  Hauptsache 
sondern  oft  nur  Mittel  zum  Zwecke  war,  wimmelte  es 
von  Lustdirnen,  die  dort  natürlich  reiche  Ernten  hielten 


—     315     — 

und  stets  willkommen  waren.  Das  stolze  Rom  benutzte 
die  Unsittlichkeit  geradezu  als  Grabscheit  für  das 
eigene  Grab,  denn  daß  dieses  verkommene  und  ver- 
weichlichte Volk  sich  nicht  die  Kraft  und  Energie 
bewahren  konnte,  die  erforderlich  waren,  die  Welt- 
machtstellung dauernd  zu  erhalten,  das  liegt  doch 
wohl  klar  am  Tage.  Rom  und  die  alten  Weltreiche 
sollten  nur  auch  nach  dieser  Richtung  hin  in  ihrer 
Geschichte  etwas  sorgfältiger  studiert  werden.  Das 
wäre  vielleicht  für  die  jetzt  so  begeistert  empfohlene 
sexuelle  Aufklärung  eins  der  lehrreichsten  Kapitel,  das 
übrigens  auch  für  den  Geschichtsunterricht  bestens 
empfohlen  werden  kann,  schon  deshalb,  weil  es  in  das 
öde  Einerlei  des  einseitigen  Schlachten-  und  Kriegs- 
memorierens  eine  gute  Abwechslung  bringen  und 
etwas  mehr  Verständnis  dafür  erwecken  würde,  warum 
die  Schicksale  der  Kriege  und  Völker,  die  eine  niemals 
überwindbare  Macht  besaßen,  doch  so  kläglich  aus- 
fielen. Erst  dieses  Studium  zeigt,  daß  die  Weltgeschichte 
wirklich  das  Weltgericht  ist,  das  niemals  sittliche 
Verfehlungen  der  Völker  dauernd  ungestraft  geschehen 
läßt.  Es  ist  immer  interessanter,  zu  erfahren,  warum 
einem  Übeltäter  der  Kopf  abgeschlagen  worden  ist, 
als  die  bloße  Tatsache  zu  vernehmen,  daß  das  Richt- 
schwert einmal  zwischen  Kopf  und  Leib  irgend  eines 
Hinz  oder  Kunz  „einen  Unterschied  gemacht  habe". 
Auch  Hinz  und  Kunz  treten  aus  dem  Nebeldunst 
absoluter  Gleichgiltigkeit  heraus,  wenn  feststeht,  daß 
sie  eine  Reihe  von  Verbrechen  begangen  haben,  für 
die  die  irdische  Gerechtigkeit  den  Ausgleich  des  Kontos 
dem  braven  Meister  Hans  überlassen  mußte.  So  will 
man    denn    auch    in    der  Weltgeschichte    nicht   bloß 


—     316     — 

wissen,  daß  irgend  ein  Ereignis  eingetreten  ist,  sondern 
man  wird  sich  viel  mehr  angezogen  und  interessiert 
fühlen,  wenn  man  den  Nachweis  führen  kann,  warum 
dieses  Ereignis  eintreten  mußte,  und  daß  nicht  blind 
der  Zufall  waltet,  sondern  stets  eine  logische  Not- 
wendigkeit aufzufinden  ist. 

Es  ist  nicht  etwa  mit  diesen  Ausführungen  zum 
Ausdruck  gebracht,  daß  gerade  die  gewerbsmäßige 
Prostitution  das  sittliche  Übel  sei,  an  dem  ein  Volk 
hinsiechen  müsse.  Ich  möchte  viel  eher  behaupten, 
daß  sie  in  keiner  Weise  verhängnisvoll  zu  werden 
braucht.  Nach  Solons  Rezept  ist  die  Prostitution  viel- 
mehr das  beste  Mittel,  einer  allgemeinen  Verwilderung 
entgegenzuarbeiten,  so  lange  natürlich  nur,  wie  die 
Prostitution  in  die  richtige  Bahn  gebettet  wird.  Wohl- 
tätig ist  des  Feuers  Macht,  wenn  sie  der  Mensch 
bezähmt,  bewacht.  Das  gilt  von  der  Prostitution  erst 
recht.  Sie  ist  dann  wie  der  Blitzableiter  im  tobenden 
Gewitter.  Es  ist  ein  verhängnisvoller  Irrtum,  die 
Sittlichkeit  eines  Volkes  nach  dem  Status  der  Prosti- 
tution ganz  einseitig  in  der  Weise  bemessen  zu  wollen, 
daß  man  sagt,  es  gibt  dort  viele  Dirnen,  ergo  ist  die 
Unsittlichkeit  bedeutend.  Man  könnte  vielleicht  mit 
mehr  Recht  von  einer  Gegend,  in  der  es  gar  keine 
Prostitution  gibt,  sagen,  das  ist  die  unsittlichste  Gegend 
der  Welt,  dort  bleibt  nicht  einmal  für  die  Lustdirnen 
etwas  übrig.  In  der  Tat  erreichen  —  prozentualiter  — 
in  solchen  prostitutionsfreien  Gegenden  zuweilen  die 
unehelichen  Geburten  die  höchste  Ziffer,  während  in 
Gegenden  mit  starker  Prostitution  die  Bürgertöchter 
so  unnahbar  sind,  daß  gerade  die  Prostituierten  die  Rolle 
des  Blitzableiters  spielen  und,   wie  dies  schon  Solon 


—     317     — 

erkannte,  die  Angriffe  und  Verführungen  anständiger 
Mädchen  absorbieren. 

Vorausgesetzt,  daß  die  Prostitution  in  ihren  zweck- 
entsprechenden Grenzen  gehalten  wird,  ist  sie  keines- 
wegs verwerflich  oder  —  ich  möchte  dies  ausdrücklich 
betonen  —  auch  nur  entbehrlich.  Es  sind  Gründe 
sozialer  Art,  die  sie  notwendig  machen  und  die  sich 
nicht  mit  einigen  schönen  Phrasen  von  der  verletzten 
Menschenwürde  usw.  aus  der  Welt  schaffen  lassen, 
weil  streng  genommen  gar  manche  Dienstbarkeit  eine 
Verletzung  der  Menschenwürde  darstellt  und  selbst 
die  Ehe  zuweilen  weit  mehr  gegen  die  Menschenwürde 
verstößt  als  die  Prostitution.  Ich  sage,  daß  diese  ein 
Produkt  sozialer  Verhältnisse  sein  kann  und  aus  diesem 
Grunde  für  eine  Notwendigkeit  gehalten  werden  muß. 
Die  Möglichkeit,  sich  zu  verheiraten,  ist  für  viele  Männer 
nicht  gegeben,  das  resultiert  aus  zu  geringer  Bezahlung, 
zu  großer  Unsicherheit  der  Existenz,  —  der  Wett- 
bewerb der  Frauen  ist  hier  eine  schlimme  Gefahr  — 
und  der  Erziehung  der  Mädchen,  die  im  Durchschnitt 
viel  zu  anspruchsvoll  sind  und  für  die  Ehe  zu  wenig 
gelernt  haben,  nur  Rechte  verlangen,  ohne  Pflichten 
zu  kennen.  Ich  will  nicht  zu  weit  von  meinem  Thema 
abschweifen.  Jedenfalls  ist  die  Prostitution  für  die 
sehr  zahlreichen  Männer,  denen  die  Heirat  versagt 
bleibt  —  ich  verabscheue  prinzipiell  den  Gedanken,  daß 
die  Ehe  nichts  sein  soll  als  die  gesetzlich  erlaubte 
Form  des  sexuellen  Verkehrs,  auf  das  Tiefste  — ,  die 
einzige  Möglichkeit  den  sexuellen  Trieb,  den  man  um 
Gotteswillen  nicht  für  etwas  Unsittliches  halten  soll, 
zu  befriedigen.  Es  ist  falsch,  jeden  sich  außerhalb 
der   Ehe    abspielenden    Geschlechtsverkehr   ungeprüft 


—     318     — 

als  eine  Unsittlichkeit  perhorrescieren  zu  wollen.  Ich 
bin  auf  diese  Gesichtspunkte  schon  in  meinem  Werke 
„Das  Liebesleben  im  alten  Deutschland"  näher  einge- 
gangen und  möchte  das  dort  Gesagte  auch  dem  Sinne 
nach  hier  nicht  wiederholen;  denn  für  jetzt  kommt  es 
doch  nur  darauf  an,  welche  moralische  Beurteilung 
eines  ganzen  Volkes  das  Vorhandensein  oder  die 
Häufigkeit  der  Prostitution  gestattet.  Ich  möchte  also 
besonders  hervorheben,  daß  weder  Rom  noch  Griechen- 
land noch  ein  Volk  des  orientalischen  Altertums  daran 
sittlich  zu  Grunde  gegangen  sind,  daß  die  Prostitution 
bestand,  sondern  nur  daran,  daß  die  allgemeine  Un- 
sittlichkeit zu  einer  wirklichen  Verwahrlosung  und  Ver- 
weichlichung ausartete,  und  daß  diese  Entartung  nicht 
durch  das  Vorhandensein  einer  Prostitution  sondern 
an  der  Teilnahme  von  Weib  und  Kind,  an  dem  Umsich- 
greifen auch  der  widernatürlichen  Unzucht,  die  immer 
eine  Folge  der  sittlichen  Entartung  ist,  abhing.  Ich 
will  dabei  nicht  in  Abrede  stellen,  daß  auch  das 
Überhandnehmen  der  Prostitution  dazu  beitragen  kann, 
den  sittlichen  Verfall  zu  beschleunigen;  man  soll  nur 
nicht  Ursache  und  Wirkungen  verwechseln.  Die 
Hypertrophie  eines  Gliedes  ist  niemals  Ursache  eines 
Leidens  sondern  immer  Folge;  auch  das  Überhand- 
nehmen der  Prostitution  ist  niemals  die  Ursache  einer 
Entsittlichung,  sondern  eine  Folge,  weil  dieses  Über- 
handnehmen sonst  nicht  möglich  ist,  nicht  geduldet 
werden  kann. 

Man  würde  im  alten  Rom  die  Meretrices  und 
Prostibulas  sehr  wohl  und  sehr  nachdrücklich  von 
Orten,  an  denen  sie  nichts  zu  schaffen  hatten,  fort- 
gewiesen haben,  wenn  man  nicht  die  moralische  Kraft 


—     319    — 

hierzu  schon  eingebüßt  gehabt  hätte.  Die  Dirnen 
haben  es  getrost  gewagt,  sich  überall  einzudrängen,  weil 
sie  wußten,  daß  sie  willkommen  waren,  und  daß  auch 
die  sonst  so  straffe  Staatsgewalt  garnicht  daran  dachte, 
das  widerliche  Treiben  zu  verhindern,  da  ihr  schon 
längst  jedes  Gefühl  für  wirklichen  Anstand  und  Sitte 
verloren  gegangen  war  und  schlließlich  auch  verloren 
gehen  mußte,  wenn  selbst  die  vornehmen  Damen 
ungestraft  sich  einem  Lasterleben  in  die  Arme  werfen 
durften,  das  jeden  noch  nicht  völlig  moralisch  ver- 
sumpften Menschen  anekeln  mußte.  Wo  gab  es  denn 
im  alten  Rom  noch  einen  Ort  öffentlicher  Lustbarkeit, 
der  nicht  völlig  von  dem  Treiben  geiler  Weiber  ver- 
seucht gewesen  wäre? 

Auch  das  wäre  nicht  möglich  gewesen,  wenn 
man,  um  zu  erfahren,  was  sich  schickt,  noch  bei 
„edlen"  Frauen  hätte  anfragen  können.  Wir  haben 
aber  gesehen,  wie  selbst  die  Kaiserinnen  über  diesen 
Punkt  dachten,  und  wie  sie  ihre  Gedanken  in  die  Tat 
umsetzten.  So  waren  die  öffentlichen  Rennen,  selbst 
der  Zirkus,  der  sonst  den  Charakter  eines  nationalen 
Festes  gehabt  hatte,  zum  Rendezvous  für  liederliche 
Subjekte  —  gewerbsmäßige  Dirnen  und  Amateusen  — 
herabgesunken.  Aus  diesem  Sumpfe  konnten  sich 
natürlich  nur  giftige  Gase  entwickeln,  die  das  Volk  siech 
und  hinfällig  machten.  Das  lag  aber  nicht  an  der 
Prostitution  der  Gewerbsdirnen,  denn  wer  wollte  wohl 
sagen,  daß  die  Damen  der  vornehmsten  Gesellschaft 
jemals  dadurch,  daß  eine  Prostitution  sich  breit  macht, 
bewogen  werden  könnten,  noch  tiefer  zu  sinken  als 
die  Prostibulae?  Das  Dirnenwesen  hat  doch  gerade 
dadurch,  daß  das    Laster  ein  Beruf  und   Erwerb  ist, 


—     320     — 

eine,  wenn  auch  sehr  fadenscheinige,  Entschuldigung. 
Es  ist  nicht  so  tief  gefallen,  weil  seine  Mitglieder 
niemals  hochgestanden  und  niemals  eine  Pflicht  gehabt 
haben,  der  Standesehre  Opfer  zu  bringen.  Schon  die 
Rücksicht  auf  die  Standesehre,  die  zu  allen  Zeiten  so 
eifrig  betont  worden  ist,  mag  sich  auch  dagegen  vom 
Standpunkt  der  reinen  Vernunft,  nach  dem  es  nur  eine 
Ehre  geben  kann,  noch  so  viel  einwenden  lassen, 
verpflichtet  die  Damen,  mit  Ekel  und  Verachtung  auf 
das  widere  Treiben  zu  sehen. 

Im  alten  Rom  waren  die  Meretrices  und  Prosti- 
bulae  geduldet,  aber  doch  sehr  verachtet.  Sie  mußten 
sich  sogar  durch  ihre  Kleidung  von  den  wirklichen 
Damen  unterscheiden,  damit  sie  nicht  etwa  einmal  zu 
viel  Ehre  erlebten.  Während  die  sog.  ehrbaren  Frauen 
lange  Gewänder  trugen,  durften  die  Prostibulae  nur 
kurze  Röcke  anlegen,  die  kaum  bis  zum  Knie  reichten 
und  die  Beine  frei  ließen.  Es  heißt  darüber  bei  einem 
alten  Schriftsteller,  der  sich  auf  Horatius  beruft:  „daß, 
wenn  etwan  eine  erbare  Frau  krumme  Beine,  oder 
sonst  Mangel  an  Füßen  hätte,  sie  solches  verhehlen 
und  mit  dem  langen  Rock  bedecken  könnte,  welches 
aber  eine  Hure  nicht  zu  thun  vermöchte,  als  deren 
man  wegen  des  kurtzen  Rockes  die  Beine  über  und 
über  sehen  und  anschauen  könnte.  Es  wahren  auch 
der  Huren  Röcke  bunt,  von  allerhand  Farben."  Nicht 
allein  in  den  Kleidern  wurde  aber  ein  Unterschied 
vorgeschrieben,  sondern  auch  die  Haartracht  war  ver- 
schieden; es  war  den  Dirnen  nicht  erlaubt,  den  Kopf 
zu  bedecken,  sondern  sie  mußten  das  Haar  frei  tragen. 
Rechte,  die  den  ehrbaren  Frauen  zustanden,  blieben 
den  Dirnen  untersagt;  sie  mußten  zu  Fuße  gehen  und 


—    321     — 

hatten  nicht  die  Erlaubnis  sich  in  Sänften  usw.  tragen 
zu  lassen.  Es  gab  also  Vorschriften  genug,  die  es 
den  Dirnen  verleiden  konnten,  sich  an  öffentliche  Orte 
zu  begeben,  und  vor  allen  Dingen  war  viel  mehr,  als 
dies  heutigen  Tages  möglich  ist,  den  ehrbaren  Frauen 
Gelegenheit  geboten,  jede  Berührung  mit  dem  Gesindel 
zu  vermeiden.  Die  Gefahr,  daß  etwa  eine  Dirne  sich 
unerkannt  hätte  in  bessere  Kreise  mischen  können, 
oder  daß  es  ihr  gelungen  wäre,  sich  unerkannt  dort 
zu  bewegen,  wo  anständige  Leute  verkehrten,  bestand 
garnicht,  während  doch  heutigen  Tages  die  „bessere" 
Prostitution,  also  die,  die  in  der  Kunst,  ihre  Opfer  zu 
schröpfen,  die  Stufe  der  Virtuosität  erreicht  haben,  sehr 
leicht  sich  in  Theater,  Restaurants,  Badeorte  usw.  usw. 
eindrängen,  dort  die  Dame  spielen  und  wohl  gar  die 
allgemeine  Bewunderung  erregen,  bis  man  sie  endlich 
in  ihrem  wahren  Charakter  erkannt  hat.  Es  hätte  also 
bei  einigem  guten  Willen  auch  nicht  schwer  fallen 
können,  die  Dirnen  in  die  ihnen  gebührenden  Grenzen 
zurückzuweisen,  wenn  es  eben  nicht  an  diesem  guten 
Willen  völlig  gefehlt  hätte.  Jedenfalls  hat  dann  auch 
Niemand  mehr  danach  gefragt,  ob  die  Kleiderordnung 
und  all  die  schönen  Vorschriften  auch  nur  im  minde- 
sten befolgt  wurden.  Da  nun  aber  solche  Bestim- 
mungen einmal  da  sind,  erinnert  man  sich  ihrer  zu- 
weilen doch  und  wendet  sie  gelegentlich  einmal  an, 
wenn  man  eine  Handhabe  sucht,  gegen  ein  einzelnes 
Individuum,  das  sich  vielleicht  gegen  eine  einflußreiche 
Person  besonders  mißliebig  gemacht  hat,  vorgehen 
und  ihm  das  Handwerk  legen  zu  können.  Dadurch 
wurde  aber  der  Willkür  Tür  und  Tor  geöffnet,  und 
Willkür    in   der   Rechtspflege    hat   noch    niemals    die 

21 


—     322     — 

Sittlichkeit  gehoben,  sondern  ihr  stets  mehr  geschadet 
als  alles,  was  auf  sittlichem  Gebiete,  ich  meine  dies 
in  engerem,  sexuellem  Sinne,  gesündigt  worden  ist. 
Man  wird  wohl  auch  annehmen  können,  daß  es  vor- 
nehme Damen  mitunter  nicht  verschmäht  haben,  die 
Gewandung,  die  für  die  Dirnen  vorgeschrieben  war, 
anzulegen,  weil  sie  auf  diese  Weise  alle  Garantieen 
hatten,  ungestraft  ihren  wüsten  Abenteuern  nachgehen 
zu  dürfen,  ebenso  wie  die  Kaiserin  Messalina  es  nicht 
verschmähte,  in  den  Lupanarien  Gastrollen  zu  geben. 
Eine  weitere  Form  der  Prostitution,  die  im  Altertum 
nicht  allzu  ungewöhnlich  gewesen  zu  sein  scheint, 
will  ich  in  einem  besonderen  Kapitel  besprechen,  da 
sie  zu  eigenartig  ist,  um  mit  dem  Dirnentum  zugleich 
behandelt  zu  werden.  Ich  komme  nun  auf  die  Prosti- 
tution im  Orient  zurück,  die  nicht  religiöser  Natur, 
gleichwohl  aber  auch  nicht  entehrend  war. 

Daß  der  Venuskult  zur  Prostitution  sehr  leicht 
überleiten  konnte  und  auch  wohl  den  Übergang 
gebildet  hat,  beweist  am  besten  die  Geschichte  der 
Insel  Cypern.  Die  außerordentlich  wechselnden  Schick- 
sale dieser  im  Altertum  ebenso  wegen  ihrer  paradie- 
sischen Schönheit,  wie  auch  wegen  ihrer  Üppigkeit 
und  frechen  Leichtfertigkeit  bekannten  Insel  wiederzu- 
geben, lohnt  nicht.  Die  Insel,  auf  der  sich  der  Olymp 
befindet  —  Monte  Croce  —  war  das  Heiligtum  der 
Aphrodite  —  Venus,  und  der  „Schaumgeborenen" 
wurde  dort  gehuldigt  wie  kaum  an  einem  andern 
Orte  der  Welt.  Das  will  schon  etwas  heißen.  Jeden- 
falls tat  aber  der  weitestgehende  Venusdienst  den 
Weibern  an  ihrer  Ehre  keinen  Abbruch.  Ich  habe 
schon   früher    darauf  hingewiesen,    daß    es   geradezu 


—     323     — 

Landessitte  war,  die  Töchter  an  den  Strand  gehen  zu 
lassen,  damit  sie  dort  mit  den  reichen  Kaufleuten 
sexuellen  Verkehr  suchten  und  reiche  Schätze  sammelten, 
die  sie  den  späteren  Gatten  mit  in  die  Ehe  brachten, 
ohne  daß  darin  die  Insulaner  oder  auch  die  Gatten 
selbst  etwas  Anstößiges  gefunden  hätten.  Daß  man 
vom  Gelde  sagte  „Non  ölet",  wenn  es  auf  unsaubere 
Weise  verdient  war,  das  ist  wohl  auch  andern  Ortes  vor- 
gekommen, und  das  „Non  ölet"  tröstet  ja  auch  jetzt 
noch  manchen  Edlen,  der  sein  Geld  auf  eine  Weise 
erworben  hat,  die  er  selbst  nicht  gern  beim  rechten 
Namen  nennen  hört.  Warum  sollte  man  in  Cypern 
entrüstet  darüber  sein,  daß  die  Braut  den  Reichtum 
ihres  zukünftigen  Gatten  begründete?  Nun  war  ja  aber 
die  Art  dieses  Verdienens  nicht  einmal  anrüchig.  Im 
Gegenteil,  es  war  ein  Dienst  der  Venus,  die  oberste 
Göttin  der  Insel  war,  und  was  der  Lokalgöttin  heilig 
und  angenehm  war,  warum  sollte  es  den  sie  besonders 
verehrenden  Bewohnern  ehrlos  erscheinen?  Glückliches 
Cypern!  Wo  die  Luft  so  rein,  die  Natur  so  hehr  und 
lieblich,  die  Menschheit  aber  so  unglaublich  unsauber, 
frech  und  verkommen  war. 

Ich  habe  schon  gesagt,  daß  die  indischen  Baja- 
deren, soweit  sie  Tempeldienerinnen  —  wir  könnten 
vielleicht  geneigt  sein,  sie  noch  eher  als  Priesterinnen 
zu  bezeichnen  —  waren,  sich  aus  religiösem  Kult 
prostituierten,  und  daß  die  zweite  Klasse  von  Bajaderen 
hieraus  auch  ein  äußerst  lohnendes  Geschäft  machte, 
ohne  dabei  an  ihrer  Ehre  Schaden  zu  leiden.  Es  gab 
aber  dort  Weiber,  die  garnichts  mit  dem  religiösen 
Kult  sondern  lediglich  mit  der  Prostitution  zu  tun 
hatten,    von   diesem   Gewerbe    nicht   allein    sehr  gut 

21* 


—     324     — 

lebten,  sondern  auch  ihre  Musikanten,  die  sie  mit  sich 
führten,  weil  die  Prostituierten  zugleich  als  Tänzerinnen 
auftraten,  als  solche  überhaupt  zu  den  Lustbarkeiten 
und  in  Privatkreise  gezogen  wurden,  erhielten.  Selbst 
diese  Tänzerinnen  waren  nicht  anrüchig  und  sind  es 
wohl  auch  heute  noch  nicht. 

Oanz  ähnlich  liegen  die  Verhältnisse  in  China 
und  auch  in  Japan.  In  diesen  Ländern  sind  es  die 
Theehäuser,  die  im  Effekt  etwa  das  darstellen,  was 
wir  Bordelle  nennen.  In  Wirklichkeit  ist  aber  doch 
ein  gewaltiger  Unterschied,  denn  diese  Theehäuser 
sind  frei  von  dem  Makel,  der  —  sehr  berechtigter 
Weise  —  auf  den  Bordellen  lastet.  Die  Mädchen,  die 
sich  an  die  Theehäuser  vermieten  —  man  bezeichnet 
sie  als  Geishas  — ,  haben  die  Aufgabe,  die  Gäste 
durch  Tanz  und  Gesang  zu  unterhalten.  Es  ist  dort 
so  wie  in  Indien;  Gesang  und  Tanz  fesseln  die  Sinne 
der  Zuhörer,  die  sich  mehr  und  mehr  in  die  graziösen 
und  gewandten  Tänzerinnen  vergaffen  und  schließlich 
nicht  eher  ruhen,  ehe  sie  den  sexuellen  Verkehr  voll- 
zogen haben.  Es  ist  dabei  allerdings  zu  berücksich- 
tigen, daß  diese  Tänze  ganz  darauf  berechnet  und 
zugeschnitten  sind,  die  Sinnlichkeit  stark  anzuregen, 
und  daß  die  sinnlich  veranlagten  Orientalen  dazu  wohl 
noch  nicht  einmal  eines  allzu  kräftigen  Anstoßes  bedürfen. 
Gesang  und  Tanz  sind  aber  auch  dort  nur  die  Lock- 
mittel, sie  bilden  das  Präludium  für  die  eigentliche 
Unterhaltung,  die  lediglich  der  sexuelle  Verkehr  ist,  der 
natürlich  von  der  einen  Seite  aus  überschäumender 
Leidenschaft,  von  der  andern  aus  Berechnung  angestrebt 
wird.  Daß  dabei  die  Gäste  kräftig  zahlen  müssen,  ehe 
ihnen  der  Gipfel  des  Glückes  eröffnet  wird,   das  ist 


—     325     - 

bekannt  und  bei  dem  Charakter  eines  chinesischen 
Theewirts  selbstverständlich.  Man  pflegt  die  Chinesen 
als  die  Krone  aller  Gauner  zu  bezeichnen  und  hat, 
soweit  es  sich  darum  handelt,  die  Habgierde,  die  jedes 
Mittel  den  Zweck  heiligen  läßt,  zu  treffen,  auch  sicher- 
lich nicht  unrecht.  Es  ist  aber  das  merkwürdige 
Phänomen  sittlicher  Anschauung,  daß  der  Theewirt 
im  allgemeinen  richtig  moralisch  bewertet  wird,  daß 
aber  die  Geishas  durch  ihre  Tätigkeit  in  keiner  Weise 
an  ihrer  Ehre  Schaden  leiden,  ebenso  wenig  wie  die 
indischen  Bajaderen. 

Dafür  gibt  es  zwei  Erklärungen:  die  Entstehung 
der  Prostitution  aus  religiösem  Kult  habe  ich  bereits 
eingehend  besprochen;  ferner  aber  ist  die  allgemeine 
Bewertung  des  Weibes  anzuführen.  Es  kommt  ganz 
darauf  an,  welchen  Rang  das  weibliche  Geschlecht  im 
öffentlichen  Leben  spielt,  das  ist  allein  der  Maßstab, 
der  an  die  Prostitution  gelegt  werden  kann.  Stellt 
das  Weib  nach  der  allgemein  anerkannter  Theorie  — 
die  Praxis  sieht  im  Einzelfalle  sehr  oft  gründlich  anders 
aus  —  das  Symbol  der  Reinheit  und  Keuschheit  dar, 
darum  muß  selbstverständlich  jedes  Gebahren,  das 
mit  diesem  Ideal  in  starkem  Widerspruch  steht,  Schande 
und  Verachtung  erzeugen.  Wo  also  die  Frau  geehrt 
und  angesehen  ist,  kann  folgerichtig  die  Prostituierte 
nur  als  eine  garstige  Abart  verachtet  werden;  es  ist 
garnicht  vorstellbar,  daß  sie  nach  der  allgemeinen 
Anschauung  als  ein  gleichwertiges  Mitglied  der 
Gesellschaft  betrachtet  werden  könnte.  Wird  aber 
das  weibliche  Wesen  als  nichts  weiter  denn  als  die 
Dienerin  des  Mannes  angesehen,  die  in  erster  Linie 
die  Aufgabe  hat,  seine  sinnlichen  Lüste  zu  befriedigen, 

t 


—     326     — 

dann  ist  kaum  noch  einzusehen,  warum  sich  durch 
die  Prostitution,  die  doch  diesem  Zwecke  dient,  ein 
Weib  so  besonders  stark  herabsetzen  sollte.  Der 
Abendländer  sieht  in  der  Frau  sein  Ideal,  das  er  rein 
und  jungfräulich  haben  will,  wenn  er  sich  für  das 
ganze  Leben  mit  ihr  vereinigen  will.  Der  Orientale 
achtet  die  Jungfräulichkeit  durchaus  nicht  hoch;  sie 
ist  ihm  sogar  in  manchen  Ländern  eine  lästige  Eigen- 
schaft, die  er  beseitigen  läßt,  ehe  er  das  Weib  zu  sich 
nimmt.  Daß  nach  der  Heirat  die  Ansicht  wechselt, 
d.  h.  daß  dann  auch  der  Orientale  das  Weib  für  sich 
allein  beansprucht  und  jede  Möglichkeit  eines  Verkehrs 
mit  andern  Männern  beseitigt,  das  steht  mit  dieser 
Tatsache  durchaus  nicht  im  Widerspruch,  weil  hier 
ganz  andere  Momente  in  Frage  kommen,  auf  die  ich 
an  dieser  Stelle  nicht  einzugehen  brauche. 

Je  höher  die  Frau  geachtet  ist,  desto  verachteter 
wird  die  Prostituierte  sein,  die  alles  von  sich  wirft, 
was  der  Frau  die  Achtung  verschafft;  je  niedriger  das 
Weib  bewertet  wird,  desto  weniger  wird  die  Prostitu- 
ierte mißachtet  sein.  Das  ist  die  Quintessenz  aller 
moralischen  Betrachtungen  über  das  Wesen  der  Prosti- 
tution. Ob  diese  Quintessenz  richtig  ist,  das  ergibt 
sich  wohl  am  besten,  wenn  wir  die  Geschichte  der 
Prostitution  nicht  allein  der  verschiedenen  Völker  mit- 
einander vergleichen,  sondern  wenn  wir  sie  bei  einem 
und  demselben  Volke  die  Jahrhunderte  hindurch  ver- 
folgen, vorausgesetzt,  daß  feststeht,  der  sittliche  Wert 
der  Frauen  und  deren  Ansehen  sei  nicht  zu  allen 
Zeiten  gleich  gewesen.  Ich  will  hier  auf  die  Geschichte 
Roms  verweisen,  weil  sie  wohl  die  bis  in  ihre  Details 
am  besten   bekannte   ist.     Ich   habe  nun  oben  schon 


—     327     - 

angedeutet,    daß   die   Prostituierten    ziemlich   scharfen 
Vorschriften  unterworfen  waren,  daß  diese  Handhabe 
aber  zu  Zeiten  der  allgemeinen  Verwilderung  niemals 
öder  doch  nur  in  Ausnahmefällen  angewendet  wurden. 
Diese  Tatsache  kann  leicht  falsch  gedeutet  werden;  in 
Wirklichkeit    bestätigt   sie    glänzend   meinen   Leitsatz. 
Die  Frau  galt  im  alten  Rom  weit  mehr  als   z.  B.   in 
China,  Indien  usw.,   deshalb  war  die  Prostituierte  ein 
verachtetes   Geschöpf,  das  man   wohl  benutzte,   dann 
aber  von  sich  stieß.    Als  nun  die  römischen  Damen 
sich  einem   Lebenswandel   in   die  Arme   warfen,   der 
jede    Achtung    vor    ihnen    ohne    weiteres    beseitigen 
mußte,  verringerte  sich  der  Abstand  von  den  Meretrices 
immer  mehr,  denn  wie  konnte  man  die  letzteren  etwa 
so  viel  geringer  achten,  als  die  Damen,  die  doch  schon 
deshalb  viel  strafbarer  handelten,  weil  sie  die  Pflichten 
der  Ehe  verletzten?  Es  war  ganz  natürlich,  daß  dabei 
die   Mißachtung    der   Prostituierten    mehr    und    mehr 
schwand,    bis   man   sie    schließlich   fast    unbehindert 
oder    ganz    unbehelligt    gewähren    ließ.     Je    weniger 
Achtung   die  Frauen  genossen,  je  niedriger  also  das 
Weib   im  allgemeinen  bewertet  wurde,   desto  weniger 
ward   die  Prostituierte  verachtet.     Deshalb  kommt  es 
vor,    daß   zuweilen   Männer    aus    guter   Familie    sich 
sogar  entschließen,  eine  Prostituierte  zu  heiraten.    Die 
gesellschaftlichen  Kreise,  die  gewohnt  sind,  nach  den 
traditionellen    Vorurteilen    zu    entscheiden    und    sich 
dadurch    die   Mühe  des   Denkens    ersparen,    sind   in 
solchem    Falle    „schnell   fertig   mit   dem   Wort".     Sie 
können    es    nicht    begreifen,    wie    ein   Mensch    ihres 
Standes  so  unglaublich  tief  sinken,  sich  soweit  ver- 
gessen könne.    Es  ist  völlig  richtig,  daß  ein  gebildete 


—     328    — 

Mann  sich  schon  sehr  weit  vergessen  und  überwinden 
muß,  ehe  er  sich  entschließen  kann,  eine  Prostituierte 
zu  heiraten;  aber  ein  solcher  Fall  sollte  doch  viel  mehr 
zum  objektiven  Nachdenken  anregen.  Man  würde  da 
wohl  immer  auf  Seiten  des  Mannes  eine  gründliche 
Verachtung  der  „anständigen"  Damen  und  nicht  selten 
auch  einen  ausreichenden  Grund  für  eine  solche  fest- 
stellen können,  so  daß  auch  hier  der  Grundsatz,  die 
Prostituierten  gewinnen  in  demselben  Maße,  in  dem 
die  Frauen  an  Achtung  verlieren,  durchaus  bestätigt 
wird. 

Da  nun  in  Indien,  China  und  ähnlichen  Ländern 
des  Orients  das  Weib  an  sich  gar  keine  Achtung  zu 
genießen  pflegte,  war  es  kein  Wunder,  daß  die  Buhl- 
dirnen auch  nicht  viel  anders  bewertet  wurden,  d.  h., 
daß  sie  nicht  weniger  galten  als  die  „ehrbaren"  Frauen 
und  daß  vor  allen  Dingen  ihr  Gewerbe  es  ihnen  nicht 
unmöglich  oder  auch  nur  schwierig  machte,  die 
Prostitution  aufzugeben  und  in  die  bürgerliche  Gesell- 
schaft zurückzukehren,  sich  zu  verheiraten  oder  sonst 
etwas  zu  tun.  Das  „bischen  Prostitution"  blieb  aber 
völlig  außer  Acht  und  gab  noch  weniger  Veranlassung 
zu  einer  ungünstigen  Meinung,  als  sie  in  gewissen 
Kreisen  heute  noch  einem  Mädchen  bei  uns  begegnet, 
das  sich  ehrlich  und  einwandfrei  durch  irgend  eine 
anständige  Stellung  ernährt.  Man  sieht,  daß  der  Orient 
in  seinen  Anschauungen  wenigstens  konsequenter  war 
als  das  Abendland,  das  zwar  an  sich  wohl  die  Prosti- 
tution richtig  bewertet,  aber  leider  so  von  unlogischen 
Vorurteilen  beherrscht  ist,  daß  man  sich  wundern 
muß,  wenn  gleichwohl  Wert  darauf  gelegt  wird,  das 
Volk  der  Denker  zu  heißen. 


—    329     — 

Der  Orient  war  nicht  allein  konsequenter,  sondern 
ist  es  auch  heute  noch.  Äußerst  konservativ  hält  man 
am  Althergebrachten  und  dem  durch  mehrals  2000  jährigen 
Bestand  geheiligten  Brauch  fest.  Es  ist  das  weniger 
wunderbar,  wenn  man  bedenkt,  daß  dieser  Brauch 
durch  den  religiösen  Kult  sanktioniert  ist,  daß  gerade 
die  Länder,  die  am  wenigsten  ihre  Anschauungen 
geändert  haben,  am  wenigsten  dem  Einflüsse  des 
Abendlandes  ausgesetzt  gewesen  sind,  und  daß  die 
Anschauungen  in  den  örtlichen  Verhältnissen  und  der 
ganzen  Veranlagung  des  Orientalen  wurzeln. 

Jetzt,  wo  auch  orientalische  Reiche  wie  China  die 
feste  Mauer  nicht  so  unübersteiglich  um  das  Land 
erhalten  können,  wo  doch  der  Fremdenzufluß  nicht  mehr 
ferngehalten  werden  kann,  wo  man  selbst  die  besten 
Köpfe  des  Landes  in  deutsche  Universitäten  entsendet, 
wo  selbst  das  unzugängliche  Tibet  nicht  mehr  unzugäng- 
lich bleibt,  wird  sich  in  den  alten  Anschauungen  wohl 
vieles  ändern,  wie  sich  jetzt  auch  bereits  vieles  geändert 
hat.  Die  Prostitution  wird  schließlich  anders  beurteilt, 
damit  aber  keineswegs  etwa  beseitigt  werden.  Im 
Gegenteil,  das  Abendland  bringt  ihr  frisches  Blut  und 
neues  —  Geld.  In  China  sind  die  Theehäuser  noch 
die  besten  Gelegenheiten  für  den  sexuellen  Verkehr; 
sie  werden  mehr  und  mehr  den  Charakter  abend- 
ländischer Bordelle  annehmen,  und  damit  wird  auch 
im  Morgenland  der  poetische  Mantel  der  Romantik 
entfernt,  das  Laster  in  seiner  nacktesten  Gemeinheit 
freigelegt  werden.  Das  ist  ein  Stück  zweifelhafter 
Kulturarbeit  des  Abendlandes  im  Morgenlande. 


Der  Ehebruch. 

Es  gibt  wohl  kaum  ein  Delikt;  das  so  verschieden 
beurteilt  worden  wäre  wie  der  Ehebruch.  Wahrlich 
kein  Wunder,  wenn  man  bedenkt,  daß  doch  auch  die  Ehe 
nicht  annähernd  mit  gleichem  Maße  gemessen,  sondern 
überall  verschieden  bewertet  wird,  so  daß  an  einem 
Orte  das  als  eine  mit  dem  Tode  zu  sühnende  Schandtat 
galt,  was  an  anderen  Orten  als  legitime  und  geheiligte 
Ehe  geachtet  und  gesetzlich  geschützt  wurde.  Daß 
dabei  auch  der  Ehebruch  nicht  überall  gleich  beurteilt 
werden  kann,  daß  dem  Anhänger  der  Monogamie 
die  gesetzlich  gestattete  Polygamie  schon  als  ein  Ehe- 
bruch erscheinen  muß,  ist  selbstverständlich,  es  ist 
aber  ebenso  selbstverständlich,  daß  der  Mann,  der  die 
Vielweiberei  als  ein  gesetzlich  anerkanntes  Eheverhältnis 
betrachtet,  über  den  Ehebruch  überhaupt  nicht  so 
urteilen  kann  wie  der  Monogame.  Ich  sage  ausdrück- 
lich „kann",  denn  daß  auch  der  Monogame  keineswegs 
notwendig  die  jetzt  bei  uns  gesetzlich  sanktionierte, 
praktisch  aber  nur  sehr  wenig  befolgte  Auffassung 
des  Ehebruchs  zu  haben  braucht,  daß  tatsächlich  auch 
das  Gesetz  zeitweilig  eine  völlig  abweichende  Auf- 
fassung gehabt  hat,  ist  historisch  erwiesen. 

Der  prinzipielle  Unterschied  besteht  darin,  daß 
nach  einer  Auffassung  Mann  und  Frau  völlig  gleich- 


—     331     — 

gestellt  sind,  daß  dagegen  nach  der  anderen  Auffassung 
eine  solche  Rechtsgleichheit  nicht  besteht  und  auch 
gar  nicht  bestehen  kann  Der  Mann,  der  beliebig 
viele  oder  auch  nur  eine  beschränkte  Anzahl  von  Frauen 
heiraten  darf,  kann  selbstverständlich  diese  multiple 
Ehe  nicht  dadurch  verletzen,  daß  er  außer  mit  den 
legitimen  Frauen  auch  noch  mit  weiblichen  Individuen 
sexuell  verkehrt,  die  er  nicht  zu  legitimen  Frauen 
erhebt.  Es  wäre  geradezu  ein  Unsinn,  das  Gegenteil 
behaupten  zu  wollen,  da  natürlich  von  mehreren  Frauen 
keine  den  Anspruch  darauf  erheben  kann,  daß  der 
Gatte  nur  mit  ihr  allein  den  sexuellen  Akt  ausübt.  Es 
haben  im  Gegenteil  die  übrigen  Frauen  den  gleichen 
Anspruch  an  ihn,  und  es  ist  in  der  Regel  auch  sein 
gesetzlich  ausdrücklich  verbrieftes  Recht,  außer  den 
legitimen  Frauen  noch  Dienerinnen  in  seinem  Harem 
zu  halten,  die  ohne  Ausnahme  zu  seiner  Verfügung 
leben.  Das  steht  in  keiner  Weise  im  Widerspruch 
damit,  daß  ein  Teil  der  Haremsdamen  legitime  Gattinnen 
sind,  denn  die  legitime  Gattin  hat  eine  völlig  andere 
Rechtsbedeutung  als  die  bloße  Dienerin.  Dieser  Unter- 
schied setzt  aber  doch  nicht  voraus,  daß  nur  die 
legitime  Gattin  auch  die  sexuellen  Bedürfnisse  des 
Mannes  zu  decken  habe.  Es  ist  ja  auch  im  mosaischen 
Rechte,  von  dem  gelehrt  wird,  daß  es  durch  direkte 
göttliche  Inspiration  entstanden  sei,  ein  ganz  gleiches 
Rechtsverhältnis  gegeben.  Abgesehen  vom  mosaischen 
Rechte  tritt  uns  dieses  Verhältnis  auch  in  biblischen 
Erzählungen  entgegen.  Jakob  heiratete  die  Schwestern 
Lea  und  Rahel.  Das  waren  also,  wenn  man  diesen 
Ausdruck  auf  alttestamentliche  Verhältnisse  anwenden 
will,  seine  legitimen  Gattinnen.    Diese  gaben  ihm  aber 


—     332      - 

zum  Kinderzeugen  noch  ihre  Mägde  Bilha  und  Silpa, 
die  nicht  Gattinnen  des  Jakob  wurden  sondern  Mägde 
blieben  und  die  Kinder  nur  in  Vertretung  ihrer 
Herrinnen  und  für  diese  zur  Welt  brachten.  Daß  in 
solchem  Verhältnis  nichts  Unsittliches  oder  auch  nur 
Bedenkliches  gesehen  wurde,  das  geht  aus  der  ganzen 
Fassung  und  noch  mehr  aus  der  Stellung  hervor,  die 
darauf  Jakob  Gott  und  seinem  Volke  gegenüber  ein- 
geräumt wird.  Es  wäre  geradezu  ausgeschlossen,  daß 
Jakob  als  Gottesmann  und  Stammvater  des  Judentums 
noch  heute  geehrt  und  gepriesen  werden  könnte, 
wenn  die  orientalische  Art  seines  Ehebruchs  auch  nur 
im  mindesten  anrüchig  erschienen  wäre. 

Aber  auch  da,  wo  die  Einzelehe  Vorschrift  und 
Sitte  ist,  kann  noch  keineswegs  ohne  weiteres  gefolgert 
werden,  daß  dem  Manne  jeder  sexuelle  Verkehr,  den 
er  außerhalb  einer  Ehe  pflegt,  als  ein  Ehebruch  oder 
gar  als  eine  strafwürdige  Tat  zugerechnet  werden 
müsse.  Es  ist  vielmehr  ein  solcher  Verkehr  „extra 
muros"  gesetzlich  durchaus  erlaubt  gewesen.  Die 
Ehe  begründet  Rechte  und  Pflichten;  sie  ist  ein  Ver- 
trag, der  gehalten  werden  muß  wie  jeder  andere 
Vertrag.  Man  darf  sogar  annehmen,  daß  er  noch 
strikter  eingehalten  werden  muß  als  jeder  andere 
Vertrag.  Es  ist  dabei  aber  zu  prüfen,  welche  Rechte 
und  Pflichten  den  beiden  Kontrahenten  obliegen  und 
zustehen.  Zweifellos  sind  die  Pflichten  und  Rechte 
der  beiden  Eheleute  ihrer  ganzen  Natur  nach  nicht 
völlig  die  gleichen.  Der  Mann  hat  für  den  Unterhalt 
der  Frau  zu  sorgen,  die  Kinder  zu  ernähren  und  zu 
erziehen,  er  hat  nicht  den  Anspruch  darauf,  sich  von 
der  Frau  ernähren  zu  lassen,  wenigstens  ist  dies  bei 


—     333     — 

der  Einzelehe  in  der  Regel  so  wenig  der  Fall  wie  bei 
der  Vielweiberei.  Nach  dem  Brauch  vieler  Völker  hat 
der  Mann  die  Frau  direkt  zu  kaufen;  sie  wird  dadurch 
sein  Eigentum,  ein  Eigentum  allerdings,  das  mit 
bestimmten  Rechten  ausgestattet  wird,  das  aber  unter 
allen  Umständen  die  Pflicht  hat,  dem  Manne  die  Treue 
zu  wahren,  d.  h.  vor  allen  Dingen  auch,  sich  keinem 
anderen  Manne  hinzugeben.  Der  Mann  erfüllt  die 
vertragliche  Ehepflicht  vollkommen,  wenn  er  der  Frau 
die  ihr  zustehenden  Rechte  getreulich  gewährt.  Zu 
diesen  Rechten  gehört  aber  nicht  der  Anspruch,  daß  er 
sich  anderen  sexuellen  Verkehrs  enthalten  müsse.  Ich 
meine  hier  natürlich  nicht  die  bei  uns  giltige  Ehe  nach 
der  bei  uns  herrschenden  Auffassung,  sondern  eine 
Ehe  nach  rein  rechtlichen  Grundideen  ohne  jede  reli- 
giöse oder  sentimentale  Zutat. 

Wir  haben  ja  auch  bei  der  Vielweiberei  gesehen, 
daß  es  neben  den  legitimen  Gattinnen  sehr  wohl 
auch  Dienerinnen  geben  kann,  die  zu  dem  Mann  in 
einem  bloßen  Konkubinatsverhältnis  stehen,  das  durch- 
aus nicht  durch  den  sexuellen  Verkehr  zu  einem  ehe- 
lichen wird.  Schon  das  zeigt  klar  den  Unterschied 
zwischen  der  vertraglichen  Ehe  und  dem  Konkubinat. 
Auch  das  letztere  kann  ein  Vertragsverhältnis  sein, 
ist  es,  streng  genommen,  sogar  eigentlich  stets.  Es 
ist  nun  auch  nach  Rechten,  die  den  Ehebruch  streng 
untersagten,  dem  Manne  doch  erlaubt  gewesen,  sich 
Konkubinen  zu  halten,  ohne  daß  dies  als  eine  Ver- 
letzung der  ehelichen  Pflichten  hätte  angesehen  werden 
dürfen.  Selbst  unter  der  eisernen  Herrschaft  der 
christlichen  Kirche  ist  es  nicht  als  Ehebruch  angesehen 
worden,  wenn  ein  Ehemann  das  „Frauenhaus"  besuchte 


—     334     — 

und  dort  mit  den  Dirnen  sexuell  verkehrte.  Man  hat 
darin  keinen  Treuebruch  gesehen,  weil  der  Mann  seine 
häuslichen  Pflichten  trotz  diesen  Besuchen  erfüllte,  die 
Familie  nichts  entbehren  ließ  und  der  Frau  ihren  Rang 
und  ihre  Rechte  einräumte,  sich  wohl  auch  nicht 
weniger  liebenswürdig  im  Hause  zeigte,  als  er  dies 
ohne  solche  Besuche  zu  sein  pflegte.  Es  wurde,  mit 
einem  Worte  gesagt,  der  Familie  nichts  entzogen  und 
da  diese  Extravaganz  sich  öffentlich  und  ebenso  un- 
geniert abspielte  wie  beim  Hetärenwesen  im  alten 
Griechenland,  so  hatte  die  Sache  wenigstens  den  einen 
Vorteil  für  sich,  daß  die  abscheuliche  Heuchelei  und 
der  direkte  Betrug  völlig  vermieden  wurden.  Warum 
ich  dies  so  besonders  hervorhebe,  wird  sich  ohne 
weiteres  aus  der  Besprechung  der  zweiten  Auffassung 
erklären. 

Nach  dieser  zweiten  Auffassung  ist  in  Bezug  auf 
den  Ehebruch  eine  völlige  Gleichstellung  von  Mann 
und  Weib  gegeben.  Es  leuchtet  aber  sofort  ein, 
daß  dies,  rein  natürlich  betrachtet,  nicht  berechtigt  sein 
kann,  weil  schon  die  Stellung  von  Mann  und  Weib  in 
der  Ehe  naturgemäß  niemals  die  gleiche  sein  kann. 
Selbst  wenn  man  den  bereits  erwähnten  Umstand,  daß 
der  Mann  die  Familie  zu  ernähren  hat,  nicht  gelten 
lassen  oder  als  eine  willkürliche  Einrichtung  betrachten 
wollte,  würde  man  doch  nicht  übersehen  können, 
daß  der  Ehebruch  der  Frau  die  Familie  und  die  Rechte 
des  Gatten  ganz  anders  tangiert  und  verletzt  als  die 
Extravaganz  des  Mannes.  Die  Frau  ist  stets  sexuell 
der  empfangende  Teil,  wie  sie  es  unter  gesunden 
Verhältnissen  durch  die  Ehe  auch  wirtschaftlich  ist. 
Es  beweist  dies,   daß   es   nicht  angängig  ist,  bei  der 


—     335     — 

Prävalenz  des  Mannes  in  der  Ehe  von  einer  willkür- 
lichen Einrichtung  zu  sprechen.  Man  muß  diese  Ver- 
hältnisse an  der  Hand  ihrer  Entwicklungsgeschichte 
prüfen  und  kann  nicht  einfach  den  jetzigen  Status 
nach  jetzigen  Phrasen  zu  Grunde  legen.  Tut  man 
dies,  dann  wird  man  finden,  daß  überall  die  Frau 
gekauft  wurde,  in  die  Gewalt  des  Mannes  überging 
und  seiner  Gewalt  mit  Leib  und  Leben  unterlag.  Das 
ist  ein  instinktiv  gefühltes  und  überall  als  richtig 
anerkanntes  Rechtsverhältnis  gewesen,  für  dessen 
Natürlichkeit,  oder  besser  gesagt,  natürliche  Berech- 
tigung die  Natur  selbst  die  Belege  liefert.  Wir  finden 
in  der  gesamten  Tierwelt  dasselbe  Verhältnis,  überall 
prävaliert  das  männliche  Geschlecht,  denn  Ausnahmen 
bestätigen  ja  erfahrungsmäßig  nur  die  Regel.  Was  die 
Kultur  künstlich  ändert,  das  ist  noch  lange  kein  Beweis 
dafür,  daß  die  Kulturschöpfung  naturgemäßer  sein 
müsse;  es  kann  vielmehr  vom  natürlichen  Standpunkt 
aus  der  Kulturfortschritt  als  eine  krankhafte  Entartung 
erscheinen.  Ich  bin  keineswegs  der  Ansicht,  daß  der 
Frauenkauf  etwa  die  naturgemäße  Vereinigung  der 
Geschlechter  zur  Ehe  gewesen  sei;  aber  das  beweist 
nicht  contra,  sondern  pro,  denn  dieser  Frauenkauf 
war  eben  ein  „Kulturfortschritt",  wie  der  Kauf  an  sich 
immer  nur  da  denkbar  ist,  wo  die  Kultur  sich  soweit 
entwickelt  hat,  daß  der  pekuniäre  Vorteil  aus  Hand- 
lungen und  Überlassungen  von  Rechten  gesucht  wird. 
In  Bezug  auf  die  Ehe  kann  man  jeden  Kauf  sehr 
wohl  als  eine  krankhafte  Entartung  betrachten.  Daß 
dieser  Kauf  sich  milderte  und  schließlich  ganz  ver- 
schwand, ist  eine  Korrektur,  den  die  Kultur  an  einem 
selbstbegangenen  Fehler  vornahm.   Ich  will  nicht  weiter 


—     336     — 

auf  diese  Entwicklung  eingehen,  da  schon  das  Gesagte 
genügen  dürfte,  um  darzutun,  daß  die  kulturelle  Ent- 
wicklung viel  willkürlicher  waltet,  als  dies  für  den 
Beobachter  aus  einer  einzigen  Kulturperiode  in  die 
Erscheinung  treten  kann.  Jedenfalls  hat  das,  was  die 
Kultur  aus  der  Ehe  gemacht  hat,  für  die  Frage  der 
natürlichen  Stellung  von  Mann  und  Weib  keine  Be- 
deutung. 

Mag  man  nun  die  Ehe  auffassen,  wie  man  will, 
so  wird  doch  die  völlige  Gleichstellung  von  Mann 
und  Weib  als  eine  krankhafte  Entartung  des  natür- 
lichen Verhältnisses  erscheinen  müssen.  Eine  völlig 
andere  Frage  ist  es  aber,  ob  die  natürliche  Ungleichheit 
auch  dahin  führen  müsse,  eine  doppelte  Moral  zu 
schaffen,  oder,  was  dasselbe  sagen  will,  die  sog. 
Herrenmoral  als  etwas  ganz  Besonderes  zu  sanktio- 
nieren. Hier  ist  der  Punkt,  der  dem  Hebel  als  Stütze 
zu  dienen  hat,  wenn  man  das  ganze  Gewölbe  Jahr- 
tausende langer  Vorurteile  freilegen  will.  Ich  behaupte, 
daß  es  nur  eine  Moral  geben  kann,  daß  niemals  die- 
selbe Tat  beim  Manne  rühmlich,  bei  der  Frau  aber 
verdammenswert  sein  kann.  Wohl  verstanden :  dieselbe 
Handlung.  Man  kann  wohl  sagen,  daß  hierin  gerade 
das  Altertum  konsequenter  gewesen  ist  als  unsere  Zeit. 
Wenn  man  annahm,  daß  die  Frau  in  der  Ehe  anders 
gestellt  sei  als  der  Mann,  dann  mußte  man  notwendig 
dahingelangen,  anzunehmen,  daß  jeder  sexuelle  Verkehr 
einer  Frau  anders  zu  beurteilen  sei  als  der  des  Mannes, 
daß  aber  der  Mann,  der  sich  mit  einer  Frau  verging, 
wieder  anders  zu  beurteilen  sei,  als  der,  der  mit  einem 
Mädchen  sich  einließ. 

Wenn  man  nun  gleichwohl  mit  der  Zeit  eine  völlig 


—     337     — 

andere  Auffassung  gewann  und  annahm,  daß  jede 
verheiratete  Person  —  gleichviel  ob  Mann  ob  Frau  — 
die  Ehe  breche,  wenn  sie  mit  einer  anderen  Person 
außerhalb  der  Ehe  sexuell  verkehrte,  so  entsprang 
dies  lediglich  einer  veränderten  Ansicht  über  die  Ehe 
selbst.  Man  hielt  diese  nicht  mehr  für  ein  bloßes 
privatrechtliches  Vertragsverhältnis,  sondern  für  ein 
Sakrament,  das  als  solches  verletzt  werde,  wenn  das 
vor  Gott  abgelegte  Gelübde  der  gegenseitigen  Treue 
verletzt  würde.  Ich  will  hier  auf  die  sakramentale 
Eigenschaft  der  Ehe  nicht  eingehen,  da  diese  im 
orientalischen  Liebesleben  nur  eine  untergeordnete 
Rolle  spielen  kann.  An  sich  aber  wird  man  die 
Gleichheit  der  Treuepflicht  bei  beiden  Gatten  moralisch 
als  einen  Fortschritt  betrachten  dürfen,  mindestens  rein 
theoretisch  gedacht.  In  der  Praxis  sieht  die  Sache 
—  leider  —  in  der  Regel  erheblich  anders  aus,  und 
das  ist  dennoch  kein  Wunder,  weil  sich  die  natürliche 
Verschiedenheit  der  Geschlechter  nicht  hinwegdekre- 
tieren läßt,  und  weil  man  ferner  um  die  Tatsache,  daß 
die  Frau  dem  Manne  die  Kinder  ins  Haus  bringt  und 
das  absolute  Recht  des  Mannes,  nur  für  die  eigenen 
Kinder  Vaterpflichten  übernehmen  zu  wollen,  nicht 
herumkommen  kann.  Was  helfen  dagegen  alle  Phrasen 
über  die  Gleichberechtigung  der  Frauen? 

Gleichwohl  wird  gesagt,  daß  die  zweite  Ansicht  über 
den  Ehebruch  ein  moralischer  Fortschritt  sei,  daß  er 
es  aber  nur  theoretisch  wäre.  Das  trifft  zu,  denn  der 
moralische  Fortschritt  sieht  praktisch  ganz  anders  aus, 
weil  er  im  allgemeinen  nicht  befolgt  wird  und  am 
wenigsten  von  denen  befolgt  worden  ist,  die  ihn  in 
scharfen  Gesetzen  festlegten,  ihn  selbst  öffentlich  und 

22 


—     338     — 

geheim  verletzten  und  die  Untertanen  köpfen  ließen, 
wenn  sie  dem  bösen  Beispiel  derer  folgten,  die  ihnen 
doch  eigentlich  ein  Vorbild  hätten  sein  müssen.  Es 
ist  eine  ungeheure  Heuchelei  förmlich  in  Reinkultur 
gezüchtet  worden,  und  das  trifft  doch  wahrlich  auf 
unsere  Zeit  genau  so  zu  wie  auf  alle  Zeiten.  Der 
Wille  ist  stark,  aber  das  Fleisch  ist  schwach;  sehr  oft 
ist  aber  auch  der  Wille  nicht  stark  oder,  um  dem 
Zitat  näher  zu  kommen,  der  Geist  nicht  willig.  Hier 
liegt  aber  auch  der  wundeste  Punkt  des  Systems; 
man  verlangt  den  willigen  Geist  und  das  starke 
Fleisch  bei  der  Frau,  setzt  aber  beides  bei  dem  Manne 
nicht  voraus,  obwohl  man  sich  nach  außen  hin  zu 
dem  Grundsatz  bekennt,  daß  weder  der  Mann  noch 
die  Frau  extravagieren  dürfe.  Ja,  trotz  dieses  Grund- 
satzes tut  es  dem  Manne  nicht  einmal  viel  Abbruch, 
wenn  er  die  Ehe  bricht;  die  Frau  ist  geschändet. 

Man  ist  dann  aber  auch  noch  weiter  gegangen 
und  hat  das,  was  naturgemäß  nur  für  die  Ehe  an- 
wendbar sein  kann,  auch  auf  junge  und  alte  ledige 
Leute  ausgedehnt.  Es  ist  sogar  der  Ehebruch  vor 
der  Ehe  konstruiert  worden,  und  man  darf  mit  vollstem 
Rechte  sagen,  mehr  Zerfahrenheit,  mehr  Konfusion, 
Heuchelei  und  Verwirrung  als  auf  diesem  Gebiete  hat 
es  auf  keinem  anderen  gegeben,  selbst  nicht  auf  dem 
des  religiösen  Dogmas,  und  das  will  doch  wahrlich 
viel  sagen. 

Für  das  orientalische  Liebesleben  kommt  fast  nur 
die  alte  Ansicht  über  den  Ehebruch  in  Frage,  d.  h.  die, 
nach  der  nur  die  verheiratete  Frau  die  Ehe  brechen 
kann.  Da  nun  aber  die  Frau  allein  die  Ehe  auch 
nicht  brechen  kann,  wenn  sie  nicht  einen  Mitschuldigen 


—    339    — 

findet,  so  ist  konsequenter  Weise  der  Genosse  dann 
als  Mitschuldiger  gleich  bewertet  und  gleich  bestraft 
worden.  „Wer  die  Ehe  bricht  mit  jemands  Weibe, 
der  soll  des  Todes  sterben,  beide,  Ehebrecher  und 
Ehebrecherin,  darum  daß  er  mit  seines  Nächsten  Weib 
die  Ehe  gebrochen  hat."  „Wenn  jemand  erfunden 
wird,  der  bei  einem  Weibe  schläft,  die  einen  Ehemann 
hat,  so  sollen  sie  beide  sterben,  der  Mann  und  das 
Weib,  bei  dem  er  geschlafen  hat;  und  sollst  das  Böse 
von  Israel  thun."  So  heißt  es  im  mosaischen  Rechte, 
und  so  dachte  und  denkt  im  allgemeinen  der  Orient. 
Immer  ist  die  verheiratete  Frau  beim  Ehebruch 
die  beteiligte  Person,  denn  nur  der  Familienstand  des 
weiblichen  Teiles  entscheidet.  Nach  mosaischem 
Rechte  wurde  bis  zu  einem  gewissen  Grade  die  ver- 
lobte Dirne  der  Frau  gleich  geachtet,  denn  wer  die 
Verlobte  eines  Andern  verführte,  der  war  ebenfalls  des 
Todes  schuldig  und  wurde  gesteinigt.  Hatte  die 
Verlobte  eingewilligt  oder  sich  nicht  durch  Schreien 
oder  sonstwie  des  Verführers  erwehrt,  so  wurde  sie 
mit  gesteinigt.  War  sie  im  Felde  von  einem  Manne 
überfallen  worden,  so  daß  ihr  das  Schreien  nichts 
genutzt  haben  würde,  da  es  selbstverständlich  niemand 
gehört  hätte,  so  durfte  ihr  nichts  geschehen.  Es  war 
also  auch  nach  mosaischem  Rechte  eine  Art  Ehebruch 
vor  der  Ehe  möglich;  das  lag  aber  nur  an  der  durchaus 
berechtigten  Auffassung,  daß  der  Mann  das  Recht 
habe,  die  Frau  als  Jungfrau  heimzuführen,  und  daß 
er  davor  gesichert  werden  müsse,  etwa  die  Kinder 
eines  anderen  Mannes  in  seine  Ehe  zu  nehmen  und 
als  die  seinen  zu  pflegen.  Ich  halte  diese  Ansicht  somit 
für  kerngesund  und  für  durchaus  natürlich. 

22« 


—     340     — 

Da  ein  Ehebruch  nur  dann  vorlag,  wenn  die 
Frau  eines  Andern  dabei  beteiligt  war,  so  blieb  es 
völlig  gleichgiltig,  ob  der  Mitschuldige  ledig  oder 
verheiratet  war.  Die  Annahme  eines  doppelten  Ehe- 
bruchs, die  wir  überall  in  den  mittelalterlichen  und 
nachmittelalterlichen  deutschen  Rechten  als  ein  beson- 
deres Curiosum  finden  —  berechtigt  allerdings  bei 
der  Annahme  einer  sakramentalen  Ehe  — ,  kannte 
weder  das  mosaische  Recht  noch  der  übrige  Orient. 
Die  Strafen  für  die  Ehebrecher  waren  fast  überall  sehr 
streng,  und  sie  wurden  schnell  vollzogen,  wenn  die  Tat 
bekannt  worden  war.  Man  machte  da  keine  Umstände, 
verlangte  kein  Scheiduhgsverfahren,  keinen  besonderen 
Strafantrag,  sondern  strafte  aus  dem  Grunde,  den  das 
mosaische  Recht  in  die  Worte  kleidete  „und  sollst 
das  Böse  von  Israel  thun".  Die  meisten  Völker  er- 
kannten wegen  Ehebruchs  auf  Todesstrafe,  die  durch 
Steinigen,  Verbrennen  oder  auch  wohl  durch  das 
Schwert  vollzogen  wurde,  wenn  nicht  die  Ehebrecher 
in  die  Hand  des  betrogenen  Gatten  gegeben  wurden 
dem  dann  keine  Schranken  auferlegt  waren.  Er 
konnte  die  Rache  nehmen,  die  ihm  zusagte,  und  daß 
es  dabei  den  Ehebrechern  in  der  Regel  an  den  Kragen 
ging,  das  liegt  in  der  Natur  der  Sache.  In  verschie- 
denen Ländern  war  auch  das  Verfahren  üblich,  das 
man,  wie  wir  gesehen  haben,  im  Kriege  oft  gegen 
die  besiegten  Feinde  anwendete;  man  entmannte  den 
Mitschuldigen  der  Ehebrecherin.  Dies  tat  man  in  der 
alten  „bewährten"  Weise,  die  meist  das  Leben  kostete, 
in  diesem  Falle  auch  wohl  auf  diesen  Erfolg  besonders 
eingerichtet  wurde.  Nach  Lindschots  Orientalischer 
Reisebeschreibung  hat   sich   in   Bengalen  dieser  ener- 


—     341     — 

gische  Brauch   bis  zum  Ende  des  XVII.  Jahrhunderts 
ganz  allgemein   erhalten;    man   darf    sogar  wohl   an- 
nehmen,   daß   er    sehr    weit   über   diese    Zeit   hinaus 
Geltung   behielt,  da  die  indischen  Völker  mit  großer 
Zähigkeit  an   ihren  alten   Bräuchen  und   Strafen  fest- 
gehalten haben.     Wir  finden  auch  bei  den  Chinesen 
noch  heute  barbarische  Strafmethoden,  die  eigentlich 
dem    blutigen    Rüstzeug   des   Mittelalters    angehören. 
Noch  bis  in  unsere  Zeit  hinein  wurde  bei  den  Hindus 
die  Ehebrecherin  auf  einen  öffentlichen  Platz  geführt 
und  öffentlich   von  Hunden  zerrissen,  also  eine  ganz 
entsetzliche    Todesart,    die    an    den    Ausspruch    des 
Kaisers  Diocletian  erinnert,  der  da  sagte:  „Die  Hunde 
müssen   merken,  daß  sie  sterben!"    Mit  den  Hunden 
meinte  er  natürlich  die  zum  Tode  Verurteilten,  denen 
er  nicht  den  schnellen  Tod  von  Henkershand  gönnte. 
Er  war  vielmehr  der  Ansicht,   daß  der  Tod  an  sich 
keine  Sühne  für  ein  scheußliches  Verbrechen  sei,  daß 
vielmehr  nur  die  entsetzlichen  Martern,  durch  die  der 
Tod  herbeigeführt  wurde,  als  eigentliche  Strafe  gelten 
könnten.  Eine  harte  Ansicht,  die  ja  mindestens  nach  da- 
maliger Ansicht  eine  Berechtigung  hatte.  Zweifelt  man 
doch  auch  heute  noch,  ob  es  wirklich  eine  Gnade  sei, 
einen    zum    Tode    verurteilten    schweren    Verbrecher 
lebenslänglich  im  Zuchthause  seinen  Qualen  zu  über- 
lassen, statt  ihn  durch  einen  schnellen  und  schmerz- 
losen  Tod  von   seinem   elenden    Dasein   zu   erlösen. 
Ich    möchte,     da     ich     einmal     diese    vielverbreitete 
Meinung  angeführt  habe,  hinzufügen,  daß  man  hierüber 
jedenfalls   sehr  verschiedener  Ansicht   sein  kann,  und 
daß  die  Verurteilten  selbst  erfahrungsmäßig  über  viele 
Dinge  gründlich  anders  denken  als  die  „Theoretiker", 


—     342     — 

die  ihre  Kritik  in  der  Regel  durch  keinerlei  Sachkunde 
trüben  lassen.  Wer  sich  psychologisch  das  klar 
machen  kann,  was  in  der  Seele  eines  zum  Tode 
Verurteilten  vorgeht  von  der  Verurteilung  ab  bis  zu 
dem  entgiltigen  Beschluß  über  sein  Schicksal,  von 
dem  Augenblick  an,  in  dem  ihm  eröffnet  wurde,  daß 
vom  Rechte  der  Gnade  kein  Gebrauch  gemacht  wurde, 
bis  zu  dem  Augenblick,  in  dem  das  Armesünder- 
glöckchen  ertönt  und  er  selbst  hinausgeführt  wird 
zum  Blutgerüst,  der  würde  vielleicht  etwas  weniger 
vorschnell  fertig  sein  mit  dem  Worte  seiner  Meinung. 
Schade,  daß  die  Verurteilten  selbst  nicht  diese  Seelen- 
folter zu  schildern  vermögen,  schade,  daß  man  gerade 
sie  so  wenig  nach  dem  sicherlich  kompetentesten 
Urteil  fragen  kann,  ob  die  Hinrichtung  oder  die 
Begnadigung  die  größere  Gnade  sei.  Ich  meine,  daß 
trotz  der  humanen  Art  der  schnellen  und  schmerz- 
losen Hinrichtung  auch  bei  uns  noch  die  Deliquenten 
merken,  daß  sie  sterben  müssen,  wenn  auch  in  etwas 
anderem  Sinne  als  dem  des  Diocletian  und  dem  der 
Hindus.  Der  Mitschuldige  am  Ehebruch  wurde  nicht 
von  Hunden  zerrissen;  man  schonte  aber  auch  ihn 
nicht,  sondern  sorgte  dafür,  daß  er  gleichfalls  durch  beson- 
dere Qualen  die  Größe  seiner  Schandtat  sühnte,  und 
daß  er  anderen  leichtfertigen  Männern  als  abschrecken- 
des Beispiel  diente.  Man  ließ  ihn  lebendig  verbrennen. 
Ich  zweifle  nicht  daran,  daß  derartige  Strafen  noch 
heute  dort  vorkommen,  wenn  sie  sich  wohl  auch 
mehr  der  öffentlichen  Beobachtung,  mindestens  durch 
die  Ausländer,  die  sich  um  alle  sie  nichts  angehenden 
Dinge  kümmern,  entziehen.  Die  Härte  der  orienta- 
lischen Ehebruchsstrafen  ist  erklärlich  und,  wenn  man 


—     343     — 

sich  nicht  geniert,  die  Wahrheit  zu  bekennen,  ganz 
gerechtfertigt  dadurch,  daß  den  Männern  wahrlich  hin- 
reichende Gelegenheit  geboten  sei,  ihre  sexuellen  Be- 
dürfnisse auch  außerhalb  der  Ehe  zu  befriedigen,  so 
daß  nicht  einzusehen  ist,  warum  denn  gerade  die  Frau 
eines  Andern  das  Objekt  der  Begierde  sein  muß. 
Ferner  erklärt  sich  die  Strenge  aus  der  orientalischen 
Auffassung  der  Ehe,  die  mit  Recht  als  unantastbar 
gilt  und  nicht  von  jedem  x-beliebigen  Liederjahn 
gestört  werden  darf.  Daß  nur  die  Frau  die  Ehe  mit 
einem  Mitschuldigen  brechen  kann,  versteht  sich  von 
selbst  aus  den  oben  erwähnten  Gründen.  War  dies 
nach  römischem  Rechte  schon  dadurch  logisch,  daß 
dem  Manne  das  Jus  tori  über  die  Frau  zustand, 
nicht  auch  umgekehrt  der  Frau  über  dem  Manne  — 
was  ja  ohnehin  dieses  Recht  auf  beiden  Seiten  auf- 
gehoben haben  würde  — ,  so  ist  dies  nach  orienta- 
lischer Sitte  erst  recht  selbstverständlich. 

Eins  der  interessantesten  Völker  des  Orients  sind 
die  Lesghier,  die  den  östlichen  Kaukasus  bewohnen 
und  den  Russen  außerordentlich  viel  zu  schaffen 
gemacht  haben.  Dieses  Volk  ist  zwar  in  zahllose 
Stämme  zerfallen,  die  sich  gegenseitig  befehden  und 
durch  die  bei  ihnen  noch  im  Schwange  stehende 
Blutrache  dezimieren,  so  daß  die  einzelnen  Stämme 
sich  sprachlich  nicht  einmal  mehr  verständigen  können. 
Sie  bilden  aber,  vereint  gegen  äußere  Feinde,  eine 
gefährliche  Macht,  weil  die  Männer  mutig,  kraftvoll 
und  ausdauernd,  die  meist  befestigten  Wohnorte  in 
den  wilden  Gebirgsgegenden  schwer  zugänglich  und 
die  Wege  ins  Innere  des  Landes  für  eine  fremde 
Kriegsmacht    Wege    in    Tod    und    Verderben    sind. 


—     344     — 

Dieses  Volk,  das  dem  Islam  huldigt,  die  Vielweiberei 
gestattet  und  noch  fast  dieselben  Eheansichten  hegt, 
die  das  altjüdische  Volk  kannte,  sind  mit  dem  gleichen 
Haß  gegen  die  Ehebrecherin  und  ihren  Mitschuldigen 
erfüllt.  Sie  haben  auch  noch  die  altjüdische  Strafe 
gegen  die  Ehebrecher?  die  Steinigung. 

Ahnlich  denken  auch  die  Tscherkessen  über  den 
Ehebruch;  sie  halten  ihn  für  das  schwerste  Verbrechen, 
haben  aber  keine  gesetzliche  Strafe  wie  die  Lesghier, 
sondern    überlassen   die    Schuldigen   der    Privatrache, 
der  dort  allerdings  in  der  Regel  auch  der  Mörder  ver- 
fällt.    Die  Frauen  haben   nicht  die  Stellung  der  sonst 
im  Orient  wohnenden  Frauen;  sie  sind  nicht  isoliert, 
nicht  vom  öffentlichen  Leben  geschieden  und  bewegen 
sich  ziemlich  frei  und  unverschleiert.     Den  Mädchen 
wird  große  Schönheit  nachgerühmt.     Sie  sollen  durch 
schönen   kräftigen  Wuchs,   schönen   Teint  und  unge- 
wöhnliche Anmut  sich  vor  den  Weibern  der  [meisten 
anderen    Gegenden    auszeichnen.      Das    ist    für    die 
tscherkessischen  Mädchen  im  allgemeinen  kein  Glück 
gewesen,  denn  sie  waren  deshalb  besonders  begehrt 
und  bildeten   einen  sehr  guten  Handelsartikel,  da  sie 
in   Massen  an  die  türkischen  Harems  verkauft  wurden. 
Dieser  Umstand   aber  beweist  wohl  am  besten,   daß 
die   Freiheit  der  Tscherkessinnen   in  der  Regel   ganz 
erheblich  überschätzt  wird.     Sie  existiert   in  Wirklich- 
keit nicht,  wenn  auch,  wie  schon  gesagt,  den  Mädchen, 
ebenso  den  Frauen,  im  allgemeinen  nicht  die  schweren 
Einschränkungen  auferlegt  werden,  die  ihnen  im  Orient 
sonst  das  Leben   verbittern  könnten,  wenn  nicht  die 
Gewohnheit  und  die  Unkenntnis  einer  anderen  Lebens- 
weise diese  Verbitterung  verhüteten.  Selbst  der  Frauen- 


-     345     — 

kauf  im  eigenen  Lande  besteht  noch  und  läßt  deshalb 
den  Verkauf  der  Töchter  an  ausländische  Harems  nicht 
in  dem  Lichte  erscheinen,  in  dem  er  sonst  erscheinen 
würde.  Dieser  Frauenkauf  wird  allerdings  durch  eine 
gewisse  Romantik  verschleiert.  Es  ist  nämlich  Landes- 
sitte, daß  der  Bräutigam  die  Braut  entführen  muß. 
Er  tut  dies  heimlich  und  muß  mit  großer  Vorsicht 
zu  Werke  gehen,  da  die  Mädchen,  besonders  die 
heiratsfähigen  ziemlich  scharf  bewacht  werden,  nicht 
allein  vom  Vater,  der  noch  ganz  das  altpatriarchalische 
Familienoberhaupt  ist,  sondern  auch  von  den  jungen 
Burschen  des  Ortes,  die  vielleicht  selbst  Absichten 
auf  die  Schöne  haben,  es  im  übrigen  auch  wohl  für 
ihre  Pflicht  halten,  den  nachdrücklichsten  Schutz  vor 
Räubern  zu  gewähren.  So  hat  der  tscherkessische 
Liebeswerber  einen  gefährlichen  Stand.  Er  muß  die 
Braut  rauben,  um  sie  zu  entführen,  und  er  muß  damit 
rechnen,  daß  diese  Tat  bemerkt  wird,  daß  die  hei- 
mischen Burschen  ihm  die  Beute  streitig  machen,  über 
ihn  herfallen  und  sie  ihm  zu  entreißen  suchen.  Nicht 
selten  kommt  es  vor,  daß  der  Verliebte  fürchterlich 
geprügelt  oder  gar  getötet  wird,  wenn  er  sich  die 
Prügel  nicht  gefallen  läßt,  die  er  sich  allerdings  gar- 
nicht  gefallen  lassen  darf,  wenn  er  nicht  seine  Ehre 
verlieren  will.  Ist  die  Entführung  gelungen,  dann 
muß  der  Bräutigam  auch  noch  an  den  Vater  der  Braut 
den  Kaufpreis  bezahlen.  Die  Sache  ist  aber  weder 
ungefährlich  noch  billig,  und  man  kann  es  den  Tscher- 
kessen  schon  deshalb  nicht  verdenken,  wenn  sie  den 
Ehebruch  furchtbar  rächen.  Daß  auch  bei  ihnen  nur 
die  außereheliche  sexuelle  Befriedigung  der  Frau,  nicht 
auch    die  des   Mannes   als   ein   Ehebruch  gilt,  ergibt 


—     346     — 

sich  mit  genügender  Logik  schon  aus  der  Sachlage 
und  den  Verhältnissen  der  Eheleute  zu  einander.  Die 
Frau  ist  vom  Manne  doppelt  erworben,  einmal  durch 
die  kühne  Entführung  und  ferner  durch  Zahlung  des 
vereinbarten  Preises. 

Bei  den  Griechen,  bei  denen  die  Frau  im  Altertum 
keine  sehr  hervorragende  Rolle  spielte,  war  es  nach 
Solons  Gesetz  gestattet,  die  Ehefrau,  die  des  Ehe- 
bruchs überführt  war,  einfach  als  Sklavin  zu  verkaufen; 
mit  dem  Ehebrecher,  also  ihrem  Mitschuldigen,  rechnete 
der  betrogene  Gatte  selbst  ab.  Interessant  ist  wohl 
auch  die  Rechtslage  bei  einem  Volke,  das  sich  als 
direkte  Nachkommen  der  alten  Spartaner  bezeichnete, 
den  Mainoten.  Das  ist  ein  wildes,  räuberisches  Volk, 
das  den  südlichen  Teil  der  Halbinsel  Morea  bewohnte, 
meist  von  der  Seeräuberei  lebte  und  kriegerisch  bis 
auf  die  Knochen  war.  Es  fühlte  sich  keiner  vor  dem 
andern  sicher,  und  deshalb  waren  die  Einzelwohnungen 
geradezu  als  Festungen  angelegt.  Das  mag  wohl 
durch  die  extensive  Anwendung  der  Blutrache  not- 
wendig gewesen  sein,  denn  sobald  einmal  Blut  ver- 
gossen war,  wurde  strenge  Blutrache  geübt,  die  aber- 
mals Blutrache  verlangte  und  so  immer  weitere  Kreise 
ziehen  mußte.  War  bei  diesem  Volke  ein  Ehebruch 
vorgekommen,  so  verfiel  die  schuldige  Frau,  die  doch 
ohnehin  in  der  Gewalt  des  Ehemannes  verblieb,  dessen 
Rache,  der  Mitschuldige  aber  wurde  für  vogelfrei 
erklärt;  wer  ihn  fand,  durfte  ihn  erschlagen.  Hatte  er 
die  Frau  eines  Andern  etwa  aus  dessen  Gewalt  ent- 
führt, um  mit  ihr  zu  fliehen  oder  sie  mit  in  sein  festes 
Heim  zu  nehmen,  so  war  das  Paar  vogelfrei. 

Ich   darf  mich  wohl  auf  diese  Auslese  der  ver- 


—     347     — 

schiedenen  Ehebruchsstrafen  beschränken;  sie  umfaßt 
alles,  was  früher  an  Strafen  und  an  Privatrache  vorkam 
und  noch  jetzt  Brauch  ist.  Das  Wesentlichste  ist 
immer  die  orientalische  Auffassung,  daß  nur  die  Frau 
nicht  auch  der  Mann  die  Ehe  durch  eine  Extravaganz 
bricht.  Es  dürfte  hier  interessieren,  daß  auch  Christus 
nur  von  diesem  Gedanken  ausgegangen  ist,  und  daß 
deshalb  seine  über  das  jüdische  Gesetz  weit  hinaus- 
gehende, nicht  aber  es  aufhebende,  Ansicht  des  Ehe- 
bruchs, daß  der,  der  ein  Weib  ansehe,  um  es  zu 
begehren,  mit  ihr  die  Ehe  schon  gebrochen  habe,  stets 
im  orientalischen  Sinne  den  Ehebruch  an  sich  betrachtet. 
Es  ist  da  lediglich  die  Rede  von  der  verheirateten 
Frau,  die  ein  Anderer  auch  in  Gedanken  nicht  begehren 
dürfe,  da  ihn  schon  dieses  Begehren  zum  Ehebrecher 
stempele.  Es  ist  das  vollständig  zutreffend  und  inter- 
essant für  die,  die  nicht  nach  dem  Willen  des  Täters 
forschen  sondern  immer  nur  den  Erfolg,  selbst  den 
vom  Täter  nicht  gewollten,  als  entscheidend  für  die 
Beurteilung  gelten  lassen  wollten.  Diesem  prinzipiellen 
Fehler  einer  Gerechtigkeitspflege  konnte  natürlich 
Christus  nicht  gutheißen.  Daher  sein  Ausspruch. 
Was  aber  hat  das  Dogma  aus  der  Lehre  Christi 
gemacht?  Eine  sakramentale  Ehe  und  auf  der  ganzen 
Linie  so  ziemlich  das  genaue  Gegenteil  von  dem,  was 
diese  Lehre  predigt. 


Der  Schleier. 

Es  ist  eine  dem  Europäer  besonders  auffallende 
Erscheinung,  daß  die  orientalischen  Frauen,  wenigstens 
in  den  überwiegenden  Ländergebieten  sich,  nur  tief 
verschleiert  zeigen.  Der  Schleier  ist  dabei  nicht  das, 
was  er  bei  uns  zu  sein  pflegt,  ein  duftiges,  durch- 
sichtiges Gewebe,  das  nur  dann  die  Reize  des  Gesichts 
verhüllt,  wenn  diese  —  überhaupt  nicht  vorhanden 
sind,  sonst  aber  sehr  wohl  die  Gesichtszüge  unserer 
Damen  deutlich  erkennen  läßt,  ihnen  sogar  nicht  selten 
noch  einen  besonderen  pikanten  und  koketten  Reiz 
gewährt,  sondern  eine  völlige  Verhüllung,  die  nichts 
frei  läßt  als  die  Augen,  die  aus  dieser  Hülle  das  leiden- 
schaftliche Feuer  des  Empfindens  hervorsprühen  lassen. 
Der  Schleier  wird  aus  verschiedenen  Streifen  eines 
weißen  Stoffes  kunstvoll  angelegt,  und  erinnert  zuweilen 
an  das  Aussehen  eines  Corpsstudenten,  der  bei  der 
Mensur  allzu  reichlich  mit  Schmissen  beglückt  worden 
ist  die  ihm  im  späteren  Leben  einen  hübschen  Nimbus 
verleihen  als  Beweis  besonderer  Bravour  gelten  und 
doch  eigentlich  nur  beweisen,  daß  —  der  Gegner  die 
Waffe  besser  zu  führen  wußte. 

Daß  eine  solche  Verschleierung  nicht  gerade  die 
Lust  des  Daseins  erhöhen  kann,  daß  sie  vielmehr  an  und 
für   sich    schon   höchst    unbequem,    in   orientalischer 


—     349     — 

Temperatur  geradezu  unerträglich  ist,  das  bedarf  wohl 
keines  besonderen  Nachweises,  und  wenn  man  auch 
bei  uns  die  tägliche  Erfahrung  machen  kann,  daß  auf 
die  Modedame  das  paßt,  was  der  Apostel  Paulus  im 
ersten  Korintherbrief  13  über  die  Liebe  sagt:  „Sie 
verträgt  alles,  sie  glaubet  alles,  sie  hoffet  alles,  sie 
duldet  alles",  wenn  wir  auch  von  unserer  Herrenwelt 
feststellen,  daß  der  Mode  zur  Liebe  selbst  die  höchsten 
Kragen,  die  keine  freie  Bewegung  gestatten,  das  Atmen 
erschweren  und  selbst  die  Folter  dadurch,  daß  sie 
länger  peinigen,  übertreffen,  mit  freudigem  Mute 
getragen  werden,  daß  die  unnatürliche  Stärkewäsche 
den  Oberkörper  in  eine  Art  Backofen  verwandelt,  so 
läßt  sich  doch  wohl  ohne  weiteres  annehmen,  daß  die 
orientalischen  Frauen  einem  anderen  Gebote  als  dem 
der  Mode  folgen.     Das  trifft  auch  in  der  Tat  zu. 

Man  hält  nun  in  der  Regel  den  weisen  Moham- 
med für  den  verantwortlichen  Redakteur  dieser  „Mode- 
torheit", tut  ihm  damit  allerdings  ebenso  bitteres 
Unrecht  wie  so  oft  dem  „Verantwortlichen",  den  man 
büßen  und  leiden  läßt  für  Dinge,  an  denen  er  unge- 
heuer unschuldig  ist,  wenn  man  nicht  den  Begriff 
des  dolus  eventualis  so  weit  ausdehnen  will,  um 
anzunehmen,  der  Verantwortliche  müsse  wissen,  es 
könne  auch  einmal  in  sein  Blatt  eine  bedenkliche 
Notiz  geraten,  sogar  habe  er  diese  schon  dadurch 
gewollt,  daß  er  überhaupt  Redakteur  geworden  sei. 
Anders  ließe  sich  wenigstens  auch  ein  Verschulden 
des  großen  Propheten  an  der  Verschleierung  der 
Orientalinnen  nicht  konstruieren,  denn  Mohammed 
hat  sie  nicht  befohlen,  und  der  Koran  gebietet  sie 
nicht.     Man  darf  aber  doch  sagen,  daß  die  Vorschrift 


—     350     — 

des  Schleiers  nicht  so  völlig  unsinnig  und  unbegründet 
ist,  wie  sie  gewöhnlich  dem  Fremden  erscheint.  Die 
Frauen  im  Orient  haben  geliebt  und  gelebt,  wie  es 
ihre  leidenschaftliche  Natur  ihnen  wünschenswert  er- 
schienen ließ;  sie  haben  sich  als  leichtfertig  und  ober- 
flächlich und,  wie  die  Gelehrten  des  Islam  behaupten, 
auch  als  minderwertig  erwiesen  und  es  dadurch  selbst 
verschuldet,  wenn  schließlich  energischere  Maßregeln 
getroffen  wurden,  um  ihnen  ihre  Pflichten  als  Frauen 
erheblich  nachdrücklicher  zu  Gemüte  zu  führen  als 
durch  einfache  religiöse  Hinweise  und  Wünsche  seitens 
der  gestrengen  Gatten,  die  gegen  ihre  eigene  Moral 
allerdings  weniger  streng  waren,  dies  ja  aber  auch 
nicht  zu  sein  brauchten,  da  die  Rechte  von  Mann 
und  Weib,  besonders  in  der  Ehe,  wie  wir  gesehen 
haben,  durchaus  nicht  die  gleichen  sein  konnten.  Es 
gab  kein  besseres  Mittel  als  den  Schleier.  Haben 
doch  selbst  die  christlichen  Nonnen  dieses  Mittel 
angenommen,  um  dadurch  allen  Anfechtungen  der 
Welt  zu  entgehen  und  auch  äußerlich  zum  Ausdruck 
zu  bringen,  daß  sie  auf  irdische  Freuden  Verzicht 
geleistet  haben  und  als  Himmelsbräute  die  Treue  halten 
wollen.  Wenn  es  nun  auch  gewiß  im  Abendlande 
niemals  gelungen  sein  würde,  gegen  alle  weiblichen 
Wesen  einer  derartigen  Vorschrift  Geltung  zu  ver- 
schaffen, so  würde  dies  im  Orient  nur  belächelt  worden 
sein,  denn  dort  gilt  der  Wille  des  Mannes,  und  das 
Weib  hat  zu  gehorchen,  mindestens  in  der  Öffentlich- 
keit. So  war  es  dort  nicht  übermäßig  schwer,  ein 
Gebot  ein-  und  durchzuführen,  das  die  Verwunderung 
des  Abendlandes  erregen  muß.  Die  Sache  hat  aller- 
dings doch  noch  einen  Haken.    Auch  im  Orient  wäre 


—     351     — 

die  Verschleierung  wohl  schwerlich  allgemein  durch- 
geführt worden,  wenn  man  nicht  doch  das  religiöse 
Moment  als  Beweis  für  die  Notwendigkeit  dieser 
Sitte  hätte  heranzuziehen  können. 

Ich  habe  schon  gesagt,  daß  der  Koran  solchen  Brauch 
nicht  vorschreibt,  und  Kenner  des  Islam  werden  sogar 
ohne  besondere   Mühe  den  Nachweis  zu  führen  ver- 
mögen, daß  im  Gegenteil  die  Verhüllung  des  Gesichts 
dem  religiösen  Gesetz  direkt  zuwiderläuft,  der  Schleier 
ist  also  viel  eher  verboten  als  vorgeschrieben.    Was 
tuts?    Ohne    ein   religiöses   Mäntelchen    hätten   wohl 
selbst  die   Männer   nicht  allgemein   eingewilligt   oder 
gar  erst  angeordnet,  daß  ihre  Frauen  nur  verschleiert 
die  Straße  betreten  dürften,  und  niemals  würde  schon 
aus  diesem  Grunde  der  Schleier  Brauch  geworden  sein. 
Was  wird  aber  selbst  aus  den  klarsten  Religionslehren 
im  Laufe  der  Jahrhunderte  gemacht?    Ist  es  in  irgend 
einem   religiösen  Bekenntnis  jemals  anders  gewesen? 
Wer  die  Zersplitterung  der  christlichen  Konfessionen, 
die   doch   alle  auf   den   sonnenklaren    Lehren   Christi 
aufgebaut    sein   sollen,    die   es    also    garnicht    geben 
könnte,    kennt,    der    wird    wissen,    daß    auf    diesem 
Gebiete  stets  aus  schwarz  weiß  und  aus  weiß  schwarz 
gemacht  wird,  daß  es  dann  noch  ein  Dutzend  Zwischen- 
sekten gibt,  die  grau  sagen,  was  die  andern  schwarz 
oder  weiß  bekennen,   und  daß  bei  allem  Dogma  die 
Grundlehre   vergessen   und   verbessert  und   vermehrt 
ist.    Warum  soll  der  gläubige  Muselmann  nicht  auch 
glauben,  daß  eigentlich  Mohammed  doch  den  Frauen 
habe  anbefehlen  wollen,  wenn  es  die  gelehrten  Koran- 
ausleger   so   interpretieren?     Das    aber  gilt    für   des 
Glaubens  schönsten  Beweis,  daß  nicht  die  klare  Ver- 


—     352     — 

nunft   entscheidet,  denn  was  man  weiß,   das  braucht 
man   nicht  erst  zu  glauben,  sondern  der  Glaube  soll 
auch  da  nicht  wanken,  wo  die  klare  Menschenvernunft 
das   Gegenteil   beweist.     Diesen  Glauben  besitzt   der 
orientalische  Fatalist   viel   eher  als   sonst  ein  Mensch 
auf  Gottes  schöner  Welt,  mag  er  auch  sein   „Credo 
quiaabsurdu  m",  noch  so  laut  in  die  Welt  hinausrufen. 
Der    Koran    schreibt    den    Frauen    ein    sittliches 
Betragen   vor,  gebietet   ihnen,    die    Männer   nicht  an 
sich  zu  locken  und  sie  nicht  zu  viel  zu  reizen,  sondern 
viel   eher  die  Augen   niederzuschlagen,   wenn    freche 
Blicke   sie    begehrend   anschmachten.      Das   war   gut 
und  weise;  auch  Mohammed  kannte  seine  Landsleute 
und  sein  Volk  und  wußte  recht  gut,  warum  er  solche 
Lehren   niederschrieb,  resp.   sie  mündlich   verbreitete. 
Wer  den  Orient  kennt,  weiß,  daß  ein  solches  Gebot 
sehr  notwendig  war  und  auch  heute  noch  ist.    Andere 
Länder  könnten   davon  nur   lernen.     Wenn   nun   die 
Ausleger  aus  dieser  Vorschrift  das  Gebot  des  Schleiers 
fabriziert  haben,  so  ist  gar  nicht  in  Abrede  zu  stellen, 
daß  sie  etwas  interpretiert  haben,  was  im  Koran  nicht 
steht,  dem  Koran  sogar  widerspricht,  was  aber  gleich- 
wohl mit  dem  Geiste  der  mohammedanischen  Religion 
durchaus  vereinbar  ist  und  nach  diesem  Geiste  tausend- 
mal  vernünftiger  und   berechtigter   ist  als  vieles  von 
dem,    was    in    andere    Religionen     hineininterpretiert 
worden  ist,  nicht  selten   Grund  zu  den  grausamsten 
Menschenschlächtereien  gegeben  und  so  der  Welt  ein 
Schauspiel  geboten  hat,  das  sehr  wohl  geeignet  gewesen 
wäre,   das  ganze  religiöse  Gebäude  zum  Einsturz  zu 
bringen,  wenn  der  Mensch  nicht  schon  instinktiv  das 
Bedürfnis  nach  einem  religiösen  Halt  empfände. 


—     353     — 

Nun  gehörte  aber  auch  keine  besondere  Erfindungs- 
gabe dazu,  den  Schleier  einzuführen;  die  Gelehrten 
des  Islam  brauchten  vielmehr  nur  Bestehendes  zu 
acceptieren,  denn  die  Verschleierung  der  Weiber  ist 
in  der  Tat  älter  als  der  Mohammedanismus.  Schon 
lange  vor  Mohammed  bestand  sie  bei  verschiedenen 
orientalischen  Völkern.  Es  läßt  sich  freilich  absolut 
nicht  feststellen,  wo  zuerst  diese  Sitte  entstanden  ist. 
Sie  dürfte  aber  bereits  den  ältesten  Ägyptern  ebenso 
den  Assyrern  nicht  unbekannt  gewesen  sein.  Zu 
einer  Art  religiöser  Vorschrift  —  wir  haben  gesehen, 
mit  welcher  Berechtigung  —  ist  sie  aber  erst  durch 
die  Anhänger  Mohammeds  erhoben  worden. 

Auch  im  alten  Griechenland  und  selbst  im  alten 
Rom  kannte  man  die  Schleier,  verwendete  sie  aller- 
dings nur,  wie  dies  unsere  heutige  Damenwelt  noch 
tut,  mehr  als  Schmuck-  und  Zierstück.  Es  ist  nicht 
zu  verkennen,  daß  der  Schleier  sich  zu  diesem  Zwecke 
ganz  vorzüglich  eignet;  er  ist  geradezu  eine  raffinierte 
Toilettentechnik,  denn  niemals  werden  Reize,  die  frei 
und  offen  zur  Schau  getragen  werden,  in  dem  Maße 
die  Aufmerksamkeit  und  Begierde  reizen,  wie  dies 
durch  die  zarte  Verhüllung  des  Schleiers  geschieht, 
der  die  Schönheit  nicht  völlig  verbirgt,  ihre  detaillierten 
Geheimnisse  aber  nur  erraten,  nicht  klar  erkennen 
läßt.  Wenn  in  unserer  Zeit  der  Schleiertanz  seinen 
Zauber  auf  die  Besucher  unserer  Theater  wirken 
läßt,  so  ahnt  man  wohl  kaum,  daß  auch  dieses  graziöse 
Spiel  das  orientalische  Altertum  bereits  gekannt  und 
bewundert  hat.  Freilich  gab  es  in  früheren  Jahrhun- 
derten nicht  den  Glanz  der  feenhaften  Beleuchtung, 
die  in  unseren  Tagen  durch  die  wunderbare  Wirkung 

23 


—     354     — 

der  besten  Beleuchtungseffekte  erst  den  Schleiertanz 
zu  dem  macht,  als  was  er  jetzt  erscheint,  sondern  die 
altorientalischen  Tänzerinnen  konnten  nur  durch  die 
Grazie  ihrer  Bewegungen  die  Zuschauer  hinreißen. 
Das  ist  ihnen  aber  auch  vorzüglich  gelungen.  Das 
Publikum,  die  sinnlich  veranlagten  Männer,  liebte 
allerdings  die  weibliche  Grazie  mit  und  ohne  Schleier. 
Letzterer  übte  auch  da  seine  magische  Kraft  dadurch, 
daß  er  die  Reize  mehr  ahnen  als  erkennen  ließ.  Es 
liegt  zu  tief  in  der  menschlichen  Natur  begründet,  daß 
nicht  bloß  das  Verbotene,  sondern  auch  das  Geheimnis- 
volle reizt.  Ich  möchte  deshalb  wohl  behaupten,  daß 
man  der  wirklichen  Sittlichkeit  einen  schlechten  Dienst 
erweist,  wenn  man  auf  alles  Nackte  so  fanatisch  Jagd 
macht.  Wer  zur  Unsittlichkeit  anreizen  will,  der  wird 
seinen  Zweck  viel  eher  erreichen,  wenn  er  sich  in 
geschickter  Weise  des  Schleiers  bedient,  als  wenn  er 
brutal  das  Nackte  zur  Schau  stellt.  Ob  man  daran 
nicht  auch  im  Orient  gedacht  hat?  Ob  nicht  der 
seltene  Anblick  des  Weibes  dort  die  Männer  viel 
mehr  reizt,  als  wenn  die  Weiber  frei  von  Schleiern 
sich  stets  und  ständig  den  Blicken  präsentieren?  Wie 
vorteilhaft  die  orientalische  Sitte  zuweilen  sein  kann, 
das  werden  diejenigen  Frauen  am  besten  beurteilen 
können,  die  von  der  gütigen  Natur  bei  der  Verteilung 
der  Schönheit  besonders  stiefmütterlich  behandelt 
worden  sind.  Für  diese  ist  allerdings  der  Schleier 
nicht  erfunden  worden,  und  das  ist  eigentlich  das 
Wunderbarste  an  der  Sache. 


Die  Jungfräulichkeit. 

Daß  es  für  die  Frage  des  Liebeslebens  eines 
Volkes  von  eminenter  Bedeutung  ist,  festzustellen, 
wie  die  Jungfräulichkeit  im  Allgemeinen  bewertet  wird 
—  der  Einzelne  mag  dabei  stets  seine  abweichende  An- 
sicht vertreten  —  versteht  sich  ganz  von  selbst.  Nun 
habe  ich  es  aber  nicht  mit  dem  Liebesleben  eines 
Volkes  zu  tun,  sondern  einer  großen  Anzahl  von 
Völkern,  wenn  ich  das  orientalische  Liebesleben 
besprechen  will.  Die  Ansichten  über  den  Wert  der 
Jungfräulichkeit  werden  nicht  allein  durch  Landes- 
sitten, sondern  auch  durch  religiöse  Lehren  und  durch 
die  allgemeine  Stellung  und  Bewertung  der  Frauen 
stark  beeinflußt.  Ich  glaube,  daß  es  kaum  ein  orien- 
talisches Land  gibt,  das  so  klar  und  deutlich  die 
wechselnde  Stellung  einer  orientalischen  Frau  zeigen 
kann,  wie  Japan. 

Dort  galten  im  hohen  Altertum  die  Frauen  außer- 
ordentlich viel,  d.  h.  sie  hatten  dieselbe  Stellung  wie 
der  Mann  und  denselben  Wert,  allerdings  wohl  auch 
dieselben  Pflichten;  sie  beteiligten  sich  sogar  an  den 
Kämpfen,  fochten  Seite  an  Seite  mit  ihren  Männern 
und  waren  sogar  wegen  ihrer  großen  Tapferkeit  im 
Kriege    sehr    geschätzt.      Es    wird    den    japanischen 

23* 


—     356     — 

Frauen   des   Altertums   nachgerühmt,   daß   sie   geistig 
und    physisch   den   Männern   in   keiner  Weise   nach- 
gestanden hätten.    Sie  waren  auch  von  der  Herrschaft 
nicht  ausgeschlossen,  und  spielten  im  geistigen  Leben 
dieselbe   Rolle    wie    die   Männer.     Das    war   für  die 
Frauen   jedenfalls    ein   idealer   Zustand;    er   war   aber 
nicht  von  Dauer,   sondern  änderte  sich  schnell,  nach- 
dem die  fremden  Religionen  Buddhismus  und  Confucio- 
nismus  ihren  Einzug  gehalten  hatten.    Wie  es  scheint, 
haben    die    japanischen    Frauen    selbst    ihre   Stellung 
untergraben;  denn  drei  Frauen  waren  es,  die  man  zur 
Erforschung    jener    Religionen    ins    Ausland   sendete. 
Selbst    die    Namen    dieses    weiblichen    Dreigestirnes 
sind    der  Nachwelt    erhalten:    Jenshini,    Jenzoni    und 
Keigeni.      Die    japanischen    Frauen,    nicht    bloß    die 
drei    Entsendeten,    haben    für    die     Einführung    der 
fremden  Religionen,  gegen  die  sich  die  Männer  ziem- 
lich ablehnend,  mindestens  sehr  gleichgiltig  verhielten, 
mit   Erfolg  ihren   Einfluß   geltend   gemacht,   und  ent- 
weder ist  es  wahr,  daß  die  weibliche  Logik  nicht  viel 
wert  ist,  oder  daß  dem  Weibe  die  klare  Einsicht  und 
Erkenntnis   des    Mannes   fehlt,    oder   die    japanischen 
Frauen  haben  ihre  Macht  überschätzt,  denn  den  Ein- 
fluß jener  Religion   auf   die  Stellung  der  Frau   haben 
sie   sicherlich    nicht   ins    Bereich    ihrer   Berechnungen 
gezogen.   Sonst  würden    sie   sich  nicht  um   die   Ein- 
führung der  fremden  Religionen  bemüht  haben.    Nach- 
dem Japan  nämlich  diese  Religionen  acceptiert   hatte, 
war    es   mit   der   Herrlichkeit    der   Frauen   sehr    bald 
vorbei;  die  Japanerin  sank  auf  das  Nichts  herab,  das 
die  chinesischen   Frauen  und  die  Frauen  der  meisten 
orientalischen  Länder  für  das  öffentliche  Leben  waren 


—     357     — 

und  zum  großen  Teile  noch  heute  sind.  Besonders 
unter  der  Tokugawa-Regierung  vollzog  sich  ein 
Wandel,  den  der  unbeteiligte  Beobachter  überhaupt 
nicht  für  möglich  halten  kann.  Die  Frauen,  die  im 
Krieg  und  Frieden  vollwertige  und  gleichberechtigte 
Genossinnen  der  Männer  gewesen  waren,  wurden  voll- 
ständig unterdrückt;  sie  hatten  kaum  noch  das  Recht, 
das  Haus  zu  verlassen,  und  waren,  so  lange  sie  lebten, 
zum  Gehorsam  verpflichtet.  Selbst  die  Ehe  änderte 
wohl  an  den  Personen  der  Gebietenden,  nicht  aber 
am  Gehorsam  selbst  etwas.  Als  Mädchen  waren  die 
Japanerinnen  den  Eltern  unbedingten  Gehorsam  schuldig, 
als  Gattinen  dem  Manne  und  als  Matrone  —  den 
Kindern.  Es  war  also  eine  außerordentlich  unter- 
geordnete Stellung,  die  die  bisher  so  hochstehende 
Frau  zuerteilt  erhielt.  Dieses  Verhältnis  hat  sich  erst 
geändert,  als  Japan  dem  Einfluß  der  westlichen  Kultur 
sich  unterwarf.  Das  ist  aber  eine  Epoche,  die  zunächst 
für  unsere  Betrachtungen  nicht  von  irgendwelcher 
Bedeutung  sein  kann. 

Aus  diesen  japanischen  Verhältnissen  ergibt  sich 
evident,  welche  Rolle  die  religiöse  Ansicht  auf  die 
Stellung  der  Frau  auszuüben  vermag.  Das  gestattet 
aber  auch  Rückschlüsse  auf  andere  Länder,  die  erst 
später  den  Buddhismus  usw.  annahmen.  Ich  möchte 
auf  das  alte  Babylon  hinweisen,  das  sicherlich  den 
Frauen  eine  Stellung  zuerkannte,  die  sich  nicht  allzu- 
sehr von  der  des  japanischen  Altertums  unterschied. 
Wir  haben  nun  aber  gesehen,  daß  im  alten  Babylon 
die  Jungfräulichkeit  nicht  als  das  kostbarste  Gut  be- 
trachtet wurde,  das  die  Frau  dem  Manne  mit  in  die 
Ehe    brachte,    sondern    daß    die    Jungfräulichkeit    im 


—     358     — 

Tempel  der  unersättlichen  Gottheit  geopfert  wurde. 
Vielleicht  ist  daraus  der  Schluß  zu  ziehen,  daß  die 
Männer  keinen  großen  Wert  auf  die  völlige  Unberührt- 
heit ihrer  Gattinnen  legten,  sicher  aber  ist  das  noch 
kein  Grund  zu  der  Annahme,  die  Jungfräulichkeit  sei 
an  und  für  sich  als  etwas  Wertloses  betrachtet  worden. 
Wertloses  pflegt  man  nicht  den  Göttern  zum  Opfer 
zu  bringen;  aber  die  religiöse  Prostitution  läßt  auch, 
wie  wir  in  einem  früheren  Kapitel  gesehen  haben,  eine 
andere  Deutung  zu;  sie  kann  auch  das  Sympton  eines 
starken  sittlichen  Verfalls  sein,  und  das  Opfer  ist  dann 
eben  nicht  viel  mehr  als  eine  Unsittlichkeit,  der  man 
sich  zwar  bewußt  ist,  die  man  aber  durch  ein  religiöses 
Mäntelchen  dekoriert  und  dann  als  ein  Opfer  einer 
frommen  Seele  paradieren  läßt.  Das  ist  wenigstens 
der  wahre  Kern,  denn  etwas  anders  liegt  die  Sache 
doch.  Es  ist  psychologisch  schon  längst  eine  gewisse 
Wechselbeziehung  zwischen  Religion  und  Erotismus 
nachgewiesen.  Es  kommt  nun  allerdings  auf  den 
sittlichen  Wert  und  die  sittliche  Auffassung  an,  ob 
diese  Wechselbeziehung  zu  einem  unsittlichen  Kult 
ausartet,  oder  ob  sie  gar  zur  Askese  führt.  Ich  möchte 
aber  sagen,  in  dem  einen  wie  in  dem  andern  Falle 
ist  der  Zusammenhang  nachgewiesen.  Daß  beim 
unsittlichen  Kult,  wie  wir  ihn  bei  den  Dionysien  und 
überall  da  finden,  wo  man  von  einer  religiösen  Pro- 
stitution zu  reden  berechtigt  ist,  auch  die  geile  Lüstern- 
heit sich  breit  macht,  daß  von  vielen  Personen  der 
religiöse  Kult  nur  benutzt  wird,  um  die  lüsternen 
Begierden  zu  befriedigen,  daß  sogar  eine  verkommene 
Priesterschaft,  die  überhaupt  nicht  religiös  dachte,  oder 
doch   wenigstens   den   eigenen   Vorteil   anbetete,   den 


—    359    — 

Kult  nur  deshalb  förderte  und  begünstigte,  weil  er 
ihren  persönlichen  Begierden  Rechnung  trug,  das 
ändert  an  der  Sache  nicht  das  Mindeste. 

Wenn  man  das  alles  erwägt,  wenn  man  weiter 
bedenkt,  daß  den  Orientalen  der  sexuelle  Genuß  das 
wesentlichste  Bedürfnis  war,  daß  es  ihnen  nicht  ein- 
mal so  sehr  darauf  ankam,  mit  wem  sie  ihn  befrie- 
digten, dann  sollte  man  wohl  zu  der  Überzeugung 
kommen  müssen,  daß  ihnen  die  Jungfräulichkeit  keines- 
wegs eine  besonders  schätzenswerte  Eigenschaft  eines 
Weibes  gewesen  sein  könne.  Das  trifft  aber  gleich- 
wohl nur  auf  einige  Völker  zu. 

Wir  finden  auch  hier  wieder  im  mosaischen 
Rechte  äußerst  wertvolle  Fingerzeige.  Es  ist  da  der 
Beweis  geliefert,  daß  mindestens  nicht  alle  Völker 
gering  über  die  Jungfräulichkeit  dachten.  Die  Stelle 
des  mosaischen  Rechtes,  auf  die  ich  hier  Bezug 
nehme,  ist  so  interessant,  daß  ich  sie  wörtlich  wieder- 
gebe. Sie  findet  sich  5.  Mose  22,  13—21:  „Wenn 
jemand  ein  Weib  nimmt,  und  wird  ihr  gram,  wenn  er 
zu  ihr  gegangen  ist,  und  legt  ihr  was  Schändliches 
auf,  und  bringet  ein  bös  Geschrei  über  sie  aus  und 
spricht:  Das  Weib  hab  ich  genommen,  und  da  ich 
mich  zu  ihr  tat,  fand  ich  sie  nicht  Jungfrau.  So 
sollen  der  Vater  und  Mutter  der  Dirne  sie  nehmen, 
und  vor  die  Ältesten  der  Stadt  in  dem  Thore  hervor- 
bringen der  Dirne  Jungfrauschaft.  Und  der  Dirne 
Vater  soll  zu  den  Ältesten  sagen:  Ich  habe  diesem 
Manne  meine  Tochter  zum  Weibe  gegeben,  nun  ist 
er  ihr  gram  geworden.  Und  legt  ein  schändlich  Ding 
auf  sie,  und  spricht:  Ich  habe  deine  Tochter  nicht 
Jungfrau  gefunden;  hier  ist  die  Jungfrauschaft  meiner 


—     360     — 

Tochter.  Und  sollen  das  Kleid  vor  den  Ältesten  der 
Stadt  ausbreiten.  So  sollen  die  Ältesten  der  Stadt 
den  Mann  nehmen,  und  züchtigen,  und  um  hundert 
Silberlinge  büßen,  und  dieselben  der  Dirne  Vater 
geben,  darum,  daß  er  eine  Jungfrau  in  Israel  berüch- 
tiget  hat;  und  soll  sie  zum  Weibe  haben,  daß  er  sie 
sein  Lebtag  nicht  lassen  möge.  Ist's  aber  die  Wahr- 
heit, daß  die  Dirne  nicht  ist  Jungfrau  gefunden,  so 
soll  man  sie  heraus  vor  die  Thür  ihres  Vaters  Hauses 
führen,  und  die  Leute  der  Stadt  sollen  sie  zu  Tode 
steinigen,  darum  daß  sie  eine  Thorheit  in  Israel  begangen, 
und  in  ihres  Vaters  Hause  gehuret  hat;  und  sollst  das 
Böse  von  dir  thun." 

Es  mag  ja  auf  den  ersten  Blick  so  aussehen,  als 
sei  diese  Stelle  keineswegs  so  außerordentlich  inter- 
essant, wie  ich  sie  in  Aussicht  gestellt  habe;  bei  einer 
genaueren  Zergliederung  aber  enthält  sie  ein  ganzes 
Stück  Kultur-  und  Rechtsgeschichte  des  alten  mosaischen 
Volkes.  Ich  werde  sie  deshalb  genauer  besprechen 
und  hoffe,  damit  die  Geduld  meiner  sehr  geehrten  Leser 
nicht  zu  ermüden,  wenn  ich  auch  Dinge  zur  Sprache 
bringe,  die,  streng  genommen,  nicht  in  den  Rahmen 
dieses  Kapitels  gehören.  Zunächst  verdient  schon  die 
Stelle  Beachtung,  an  der  gesagt  ist,  daß  der  Mann, 
der  seiner  Frau  nachsage,  er  habe  sie  in  der  Braut- 
nacht nicht  als  Jungfrau  befunden,  ihr  damit  etwas 
Schändliches  auflege.  Das  allein  schon  würde  beweisen, 
daß  bei  den  alten  Juden  die  Jungfräulichkeit  nicht  nur 
genügend  geschätzt  wurde,  sondern  das  man  sie 
geradezu  für  ein  unbedingtes  Erfordernis  hielt,  so  daß 
ein  Mädchen,  das  nicht  die  Jungfräulichkeit  bis  zur 
Ehe  bewahrt  hatte,  überhaupt  keinen  Anspruch  mehr 


—     361     — 

darauf  hatte,  als  Frau  geachtet  und  anerkannt  zu 
werden.  Das  ist  eine  Anschauung,  die  nicht  einmal 
heutigen  Tages  in  dieser  Reinheit  Geltung  hat,  wenn 
man  auch  nach  außen  hin  so  tut,  als  sei  eine  andere 
Ansicht  überhaupt  nicht  vorstellbar. 

Nun  hatte  der  Vater  das  Recht  oder  eigentlich 
die  Pflicht,  den  Mann,  der  seine  Tochter  so  hart 
beschimpft  hatte,  zur  Verantwortung  zu  ziehen.  Er 
mußte  dies  aus  zwei  Gründen  tun:  einmal  durfte  die 
Schmach  nicht  einer  Unschuldigen  angetan  werden, 
und  zweitens  mußte  auch  festgestellt  werden,  ob  der 
Schimpf  etwa  nicht  doch  zu  Recht  erfolgt  war,  denn 
in  diesem  Falle  mußte  die  junge  Frau  ihre  Schuld 
furchtbar  büßen,  da  das  Böse  von  Israel  getan  werden 
sollte.  Der  Vater  der  Beschimpften  sollte  diese  vor 
die  Ältesten  der  Stadt  „in  dem  Thore"  bringen.  Das 
heißt,  er  sollte  sie  vor  das  Gericht  führen,  denn  die 
Ältesten  bildeten  das  Gericht,  das  in  dem  Tore  der 
Stadt  tagte,  um  anzudeuten,  daß  das  Recht  öffentlich 
ohne  Winkelzüge,  keinem  zu  Liebe  und  keinem  zu 
Leide  gehandhabt  wurde.  Im  Tore  tagte  das  Gericht 
auch,  damit  jeder  Bürger,  komme  er  aus  der  Stadt, 
wolle  er  in  die  Stadt,  sein  Recht  sicher  finden  könne; 
die  Ältesten  mußten  Jeden  hören,  und  Jedem  sein 
Recht  sprechen;  das  wurde  nicht  abhängig  gemacht 
von  Vorschußzahlungen  auf  die  Gerichtskosten  oder 
sonst  einem  Hokuspokus.  Das  Recht  war  frei,  es 
mußte  frei  sein,  weil  sich  ihm  jeder,  gleichviel  ob  arm 
oder  reich,  unterwerfen  mußte,  weil  jeder,  gleichviel 
ob  hoch  oder  gering,  sein  Recht  fordern  durfte.  Das 
war  also  auf  alle  Fälle  eine  köstliche  Zeit. 

Nur  mußte  der  Beweis  in  einer  eigenartigen  Weise 


—     362     — 

geführt  werden,  die,  wie  ich  später  zeigen  werde, 
heute  noch  bei  verschiedenen  orientalischen  Völkern 
Geltung  hat;  die  Eltern  mußten  das  Kleid  der  Tochter 
vor  den  Ältesten  der  Stadt  ausbreiten,  Das  ist  eine 
Beweisführung,  für  die  unserer  Zeit  das  Verständnis 
abhanden  gekommen  ist,  vielleicht  weil  unsere  Zeit 
diese  Probe  auch  nicht  mehr  vertragen  könnte.  Das 
Kleid,  das  die  Dirne  in  der  Brautnacht  getragen  hatte, 
mußte  frische  Blutspuren  aufweisen,  wenn  die  Jung- 
fräulichkeit wirklich  vorhanden  gewesen  wäre,  denn 
man  nahm  an,  daß  der  erste  sexuelle  Verkehr,  bei  dem 
das  Hymen  verletzt  wurde,  ohne  Blutverlust  nicht 
denkbar  sei.  Daß,  wenn  die  frische  Blutspur  in  dem 
Gewand  vorhanden  war,  die  Jungfräulichkeit  bewiesen 
war,  das  konnte  also  keinem  Zweifel  unterliegen, 
fehlte  die  Blutspur,  dann  hielt  man  die  Behauptung 
des  jungen  Ehemanns  für  bewiesen.  Das  war  etwas 
summarisch  gedacht,  wohl  auch  nicht  in  allen  Fällen 
nach  den  heutigen  Erfahrungen  berechtigt;  aber  im 
allgemeinen  war  diese  Beweisführung  doch  ziemlich 
zuverlässig.  Die  Beleidigung  wurde  also  auch  etwas 
anders  behandelt  als  heute,  wo  an  den  Klippen  der 
„nicht  erweislich  wahren  Tatsache"  mancher  Ehren- 
mann zum  Vorteil  eines  Schurken  Schiffbruch  erleidet. 
Nun  aber  die  Strafe.  Hatte  der  Beleidiger  gelogen, 
in  diesem  Falle  also  wissentlich  die  Unwahrheit  be- 
hauptet —  denn  er  konnte  sich  ja  sehr  leicht  über- 
zeugen, ob  er  der  Frau  recht  oder  unrecht  tat  — , 
dann  wurde  er  in  eine  Strafe  von  100  Silberlingen 
genommen,  das  war  eine  sehr  harte  und  empfindliche, 
aber  auch  eine  sehr  wohlverdiente  Strafe.  Hatte  er 
aber  die  Wahrheit  gesagt,  dann  wurde  die  junge  Frau 


_     363     — 

gesteinigt,  also  mit  einer  sehr  schweren  Todesstrafe 
belegt.  Auch  das  war  berechtigt,  denn  die  Strafe 
dessen,  der  jemanden  einer  Tat  beschuldigt,  kann 
doch  nicht  schwerer  sein  als  die  Strafe  dessen  sein 
würde,  der  die  behauptete  Tat  wirklich  begangen  hat. 
Leider  ist  das  nach  unserem  heutigen  geltenden 
Rechte  ebenfalls  gerade  umgekehrt.  Das  ist  stets  da,  wo 
die  behauptete  Handlung  zwar  die  Ehre  des  sie  Bege- 
henden befleckt,  gesetzlich  aber  nicht  strafbar  ist, 
selbstverständlich,  weil  doch  sonst  der  Beleidiger  über- 
haupt nicht  zur  Verantwortung  gezogen  werden 
könnte;  aber  da,  wo  etwa  ein  Ehebruch  behauptet 
wird,  ist  für  diesen  das  Strafmaß  6  Wochen  Gefängnis, 
für  den  Beleidiger  aber  2  Jahre  Gefängnis.  Daß  die 
Strafsumme  dem  Vater  der  Beleidigten  ausgehändigt 
wurde,  läßt  ebenfalls  den  Grundgedanken,  daß  dem 
Beleidigten  die  Genugtuung  und  Entschädigung  zu- 
fließen muß,  reiner  zum  Ausdruck  gelangen  als  dies 
nach  heutigem  Rechte  die  Strafe  tut,  die,  wenn  sie 
Geldstrafe  ist,  der  Fiskus  erhält,  und  wenn  es  eine 
Freiheitsstrafe  ist,  den  Beleidigten  auch  nicht  ent- 
schädigt. Es  ist  also  wirklich  an  jener  unscheinbaren 
Stelle  doch  eine  reiche  Fülle  des  Interessanten  und 
Lehrreichen  geboten. 

Ich  habe  gesagt,  daß  der  eigenartige  Beweis  der 
vorhanden  gewesenen  Jungfräulichkeit  bei  einigen 
Völkern  des  Orients  auch  heute  noch  seine  Geltung 
behalten  hat.  Das  ist  Tatsache,  wenn  dieser  Beweis 
auch  nicht  gerade  in  Verleumdungsprozessen  geführt 
wird.  Bei  verschiedenen  arabischen  Stämmen  ist  es 
noch  jetzt  Brauch,  daß  nach  der  Brautnacht  das  Gewand 
der  jungen  Frau  feierlich  und  mit  großem  Jubel  durch 


-     364     — 

den  ganzen  Ort  getragen  wird.    Das  geschieht  ledig- 
lich deshalb,  damit  Männiglich  sich  überzeugen  kann, 
daß    die    Ehe    wirklich    geschlossen    und    genossen 
worden  ist.    Beweis  bilden  die  Blutspuren  im  Gewand 
der  Frau.    Diese  beweisen  zweierlei:  erstens  dass  der 
Mann    seine    eheliche    Pflicht    getreulich    erfüllt    hat, 
zweitens    daß   die   Frau   noch   im   Besitze    der  Jung- 
fräulichkeit gewesen  ist,  als  sie  die  Ehe  schloß.    Es 
mag  sein,  daß  sich  nicht  jeder  über  den  Brauch  dieser 
sonderbaren  Sitte  völlig  klar  ist;  daß  aber  das  Fehlen 
der   obligatorischen    Blutflecken    eine  furchtbare   Ent- 
rüstung hervorrufen  würde,  ist  klar.    Auch  das  beweist, 
dass  die  Jungfräulichkeit  durchaus  Erfordernis  ist.    Für 
unsern  Geschmack   ist  es   sicherlich   eine  Ungeheuer- 
lichkeit, die  intimsten  Dinge  des  Familienlebens  der- 
artig zur  Schau  zu  stellen,  aber  wenn  man  von  der 
traditionellen    Moralanschauung    absieht,    die    Dinge 
natürlich  auffaßt  und  mehr  dem  Sein  als  dem  Schein 
Gewicht  beilegt,  wird  man  es  den  arabischen  Stämmen 
nicht     verargen    dürfen,     wenn    sie  das   Seumesche 
Wort  aussprechen:  „Seht,  wir  Wilde  sind  doch  bessere 
Menschen."    Es  ist  nicht  unmoralisch,  wenn  man  das, 
was   so   selbstverständlich   ist  wie   die  Tatsache,  daß 
dem  Tage  die  Nacht  zu  folgen  pflegt,  auch  als  eine 
Selbstverständlichkeit    öffentlich    anerkennt    und    aus- 
spricht.    Dazu   kommt,  wie   dies   übrigens   auch   die 
oben  zitierte  Stelle  des  mosaischen  Rechtes  zum  Aus- 
druck bringt,  daß  die  Ehe  erst  durch  das  Beiliegen  als 
wirklich  vollzogen  gilt,  wie  dies  ja  auch  nach  altem 
germanischen  Rechte  der  Fall  war,  daß  also  ein  Ehe- 
paar, das  als  solches  besondere  Rechte  und  Achtung 
verlangte,    gewissermaßen    den   Nachweis    zu    führen 


—     365     — 

hatte,  es  sei  nun  wirklich  ein  Ehepaar  geworden. 
Nimmt  man  das  alles  als  die  Grundgedanken  der  Ehe 
an,  dann  versteht  es  sich  beinahe  von  selbst,  daß  die 
anscheinende  Unmoralität  der  arabischen  Stämme  in 
Wirklichkeit  weit  über  „Europas  übertünchte  Höflich- 
keit", über  unsere  wurmstichige  und  innen  hohle  Moral 
emporragt.  Man  wird  zu  dieser  Ansicht  umsomehr 
gelangen  müssen,  wenn  man  erwägt,  daß  durch  das 
uns  so  sonderbar  und  abstoßende  Verfahren  zugleich 
festgestellt  wird,  daß  in  der  Tat  die  Eheschließenden, 
insbesondere  die  junge  Frau  auch  nicht  der  mindeste 
sittliche  Einwand  treffen  kann,  daß  vielmehr  die  Frau 
für  alle  Zeiten  gegen  den  etwaigen  Vorwurf,  sie  sei 
vor  ihrer  Ehe  schon  defloriert  worden,  geschützt  ist. 
Wie  stellt  sich  dagegen  der  schon  einmal  erwähnte 
Ausspruch  eines  Berliner  Geistlichen,  daß  bei  uns 
keine  Braut  als  Jungfrau  in  das  Ehebett  steige?  Wie 
stellt  sich  dazu  die  Tatsache,  daß  auch  die  Frau, 
die  das  verwerflichste  Vorleben  vor  ihrer  Verheiratung 
geführt  hat,  doch  in  der  Regel  jeden,  der  ihr  einen 
solchen  Vorwurf  macht,  wegen  Beleidigung  bestrafen 
und  in  einer  großen  Anzahl  von  Fällen  ihn  hinter 
Schloß  und  Riegel  abführen  lassen  kann,  weil  der  Be- 
leidiger zwar  von  der  volien  Wahrheit  seiner  Behauptung 
mit  Recht  überzeugt  war,  sie  aber  nicht  klipp  und 
klar  zu  beweisen  vermochte?  Die  Bestrafung  eines 
solchen  Menschen  ist  vom  Standpunkte  der  Gerechtig- 
keitsliebe mindestens  ebenso  tief  bedauerlich  wie  die 
doch  ebenfalls  nicht  seltene  Erscheinung,  daß  ein 
wirklich  zu  Unrecht  Beleidigter  keine  Genugtuung 
erhalten  kann.  Unser  Recht  macht  beide  Fehler  nicht 
nur  möglich,  sondern  auch  unvermeidlich.    Ich  möchte 


—     366     — 

damit  nun  freilich  nicht  etwa  gesagt  haben,  daß  wir 
jene  arabische  Sitte  auch  bei  uns  einführen  sollten, 
denn  sie  läßt  sich  absolut  nicht  in  unsere  Anschau- 
ungen einfügen;  ich  meine  aber,  man  soll  nicht  über 
einen  Brauch,  den  man  nicht  versteht,  einfach  hohn- 
voll lächeln,  sondern  ernstlich  prüfen,  ob  er  nicht  doch 
ganz  gerechtfertigt  sein  kann,  ob  er  nicht  vielleicht  gar 
noch  Vorzüge  aufzuweisen  hat,  die  sich  bei  einer 
ganz  objektiven  Prüfung  von  selbst  ergeben. 

Nun  haben  wir  aber  schon  früher  gesehen,  daß 
bei  verschiedenen  Völkern  die  Jungfräulichkeit  nicht 
nur  nicht  als  eine  notwendige  Voraussetzung  betrachtet 
wurde,  sondern  daß  es  sogar  Vorschrift  war,  die 
Braut  vor  der  Hochzeit  durch  andere  Personen  deflo- 
rieren zu  lassen,  damit  die  „lästige  Eigenschaft"  des 
tugendhaften  Weibes  beseitigt  würde.  Das  mag  seinen 
Grund  in  sanitären  oder  rein  ästhetischen  Ideen  gehabt 
haben.  Die  arabischen  Volksstämme,  die  stolz  das 
blutbefleckte  Hochzeitsgewand  durch  die  Straßen  tragen 
ließen,  gewissermaßen  als  „corpus  delicti",  das  einmal 
die  Tugend  der  Braut  und  ferner  die  Potenz  des 
Bräutigams  beweisen  mußte,  haben  jedenfalls  vor  dem 
Blute,  von  dem  Goethe  seinen  Faust  sagen  läßt,  daß 
es  ein  ganz  besonderer  Saft  sei,  keine  Aversion  ge- 
habt. Daß  andere  Volksstämme  darüber  anders  gedacht 
haben  oder  noch  denken,  das  ist  an  sich  keineswegs 
ausgeschlossen,  sondern  viel  eher  wahrscheinlich. 
Wir  wissen,  daß  sehr  pervers  veranlagte  Menschen 
es  lieben,  die  Freuden  der  Liebe  durch  Blutopfer  zu 
erobern,  d.  h.  daß  sie  sich  ohne  ein  blutendes  Opfer 
keinen  rechten  Genuß  zu  denken  vermögen,  daß  sie 
deshalb  für  ihre  Liebesakte  Weiber  nahmen,  die  vor 


—     367     — 

normal  veranlagten  Männern  gerade  zu  derselben  Zeit 
völlig  sicher  sind.  Ich  möchte  sagen,  es  ist  normaler, 
kein  Blut  zu  wünschen,  und  das  mag  die  Ursache 
sein,  daß  vielleicht  einzelne  Völkerstämme  diese  Ab- 
neigung vor  dem  Blute  so  weit  treiben,  daß  sie  selbst 
in  der  Hochzeitsnacht  lieber  auf  die  Jungfräulichkeit 
Verzicht  leisten,  als  daß  sie  diese  Blutabneigung  über- 
winden. Auch  aus  rein  hygienischen  Rücksichten 
rechtfertigt  sich  diese  Abneigung  besonders  im  Orient, 
und  selbst  in  der  mosaischen  —  man  darf  wohl  sagen 
—  Gesetzgebung  finden  wir  sehr  eingehend  geschildert, 
daß  im  Zustande  des  Blutflusses  das  Weib  als  unrein 
zu  gelten  habe.  Das  war,  wie  gesagt,  aus  rein 
hygienischen  Gründen  durchaus  berechtigt  und  konnte 
deshalb  —  was  bei  den  Juden  allerdings  nicht  ohne 
Entstellung  angenommen  werden  darf  —  sehr  wohl  auf 
die  Defloration  ausgedehnt  werden.  Mindestens  wird 
man  das  ohne  weiteres  überall  da  annehmen  dürfen, 
wo  die  Defloration  den  Knechten  überlassen  wurde. 
Daß  dies  bei  verschiedenen  Völkern  durchaus  Brauch 
gewesen  sei,  das  wird  von  alten  Schriftstellern  und 
besonders  von  Reiseschriftstellern  mit  solcher  Ent- 
schiedenheit behauptet,  daß  es  doch  wohl  nicht 
berechtigt  erscheinen  kann,  diese  Behauptung  ohne 
ausreichenden  Beweis  für  ein  Märchen  zu  erklären. 
Mindestens  wird  man  nicht  sagen  dürfen,  daß  die 
Sitte  —  man  könnte  besser  sagen  Unsitte  — ,  die 
Bräute  vor  der  Hochzeit  durch  dritte  Personen  deflo- 
rieren zu  lassen,  nicht  bestanden  habe.  Sie  war  zum 
Teil  ein  Vorrecht  der  Herrscher  und  Gebieter,  wurde 
sie  aber  als  Vorrecht  geduldet,  dann  war  die  Defloration 
durch   Dritte  mindestens  Gewohnheitsrecht,  und  war 


—     368     — 

es  das,  dann  wäre  damit  wieder  bewiesen,  daß  die 
Jungfräulichkeit  nicht  erstes  Erfordernis  für  die  Braut 
war.  In  Cypern  war  sie  es  so  wenig,  daß  man  es 
durchaus  für  richtig  hielt,  die  Mädchen  sich  ihre  Aus- 
steuer erst  durch  Prostitution  verdienen  zu  lassen, 
ehe  man  sie  als  Gattinnen  heimführte.  Das  kenn- 
zeichnet freilich  ein  so  absolutes  Freisein  von  Eifer- 
sucht und  —  Vorurteil,  daß  man  wohl  darüber 
staunen  darf. 

Anders  dachten  die  Völker  von  „Goa"  über  diesen 
Punkt,  wenn  man  alten  Schriftstellern  trauen  darf;  sie 
wollten  auch  die  Bräute  defloriert  haben,  da  sie  die 
Defloration  für  etwas  Schändliches,  Unanständiges  und 
Unwürdiges  hielten;  aber  sie  waren  doch  nicht  so 
vorurteislos  und  auch  nicht  frei  von  Eifersucht,  daß 
sie  sich  hätten  überwinden  können,  diese  unwürdige 
Aufgabe  durch  eine  andere  Person  lösen  zu  lassen. 
Wohl  defloriert,  aber  nicht  cohabilitiert  wünschten  sie 
die  Braut.  Sie  wußten  sich  zu  helfen  und  brachten 
dem  Gotte  der  Liebe  das  Opfer  der  Jungfräulichkeit 
auf  eine  ganz  ungefährliche  und  sicherlich  auch  die 
Familienheiligkeit  nicht  antastende  Methode.  Der  Gott 
durfte  sich  nämlich  nicht,  wie  dies  anderwärts  bei 
solchen  Gelegenheiten  Usus  war,  durch  seine  Priester 
bei  der  Annahme  dieses  Opfers  vertreten  lassen, 
sondern  er  war  nur  persönlich  zum  Empfange  berech- 
tigt. Da  nun  aber  der  Gott  in  Wirklichkeit  nichts 
war  als  ein  Gebilde  von  Menschenhand,  und  zwar  ein 
Gebilde,  das  für  die  Defloration  ganz  besonders  ein- 
gerichtet war,  so  war  die  Sache  wirklich  ohne  jede 
Eifersuchtsanwandlung  des  Gatten  zu  ertragen.  Das 
einzige  Bedenken,  wenigstens  nach  dem  Geschmacke 


—    369    — 

und   den   Moralanschauungen  des   Abendländers   war 
bei  dieser  Sache  der  Umstand,  daß  diese  Defloration 
mit  einer  großen  Feierlichkeit  verbunden  war.    In  feier- 
lichem Zuge  wurde  die  Braut  durch  den  Ort  geleitet, 
bis   der   Zug  zu   dem   Götzenbilde   kam.     Dort   aber 
erfolgte   die   Prozedur   in   vollster  Öffentlichkeit.     Da 
dies  nun  einmal  Landessitte  war,  konnte  es  nicht  die 
Sittlichkeit   verletzen,   und   man   ist    niemals   auf  den 
genialen  Oedanken   verfallen,  daß  etwas  das  Scham- 
gefühl  verletzen  könne,   ohne  unsittlich  zu  sein.    Es 
ist  damit   eigentlich    der    dritte  Typ    gekennzeichnet. 
Wir  finden  demnach:   1.  Völker,  bei  denen  die  Jung- 
fräulichkeit einer   Braut   unerläßliche   Bedingung  war, 
so  daß,  falls  sich  herausstellte,   daß  diese  Bedingung 
nicht   erfüllt  war,   die  Ehe  als  nichtig  galt,  oder  daß 
sogar  die  Braut  der  Todesstrafe  verfiel;  2.  Völker,  bei 
denen  die  Jungfräulichkeit  der  Braut  beseitigt  werden 
mußte,    ehe   die   Hochzeit   stattfand.      Es    war  dabei 
Vorschrift,   daß   der   sexuelle   Akt   mit   einem   andern 
Manne  wirklich  vollzogen  sein  mußte,  ehe  der  Bräuti- 
gam ihn  vollzog.    Die  Jungfräulichkeit  wurde  also  nur 
als  ein  Hindernis  betrachtet,  das  nicht  mehr  vorhanden 
sein   durfte,   wenn   der  Gatte  das   Beilager  hielt.     Es 
kommt  dabei   nicht  darauf  an,   durch  wen,  ob  durch 
Priester,   Herren   oder   Knechte   die   Defloration   voll- 
zogen  wurde.    Und  3.   finden   wir  Völker,   bei  denen 
die  Braut  noch  Jungfrau   sein  mußte,   nicht  aber  die 
physiologischen  Symptone  der  Jungfräulichkeit  besitzen 
durfte,   so   daß   tatsächlich    trotz   der   Defloration   die 
Braut  noch  Jungfrau   blieb,   weil   die  Defloration  auf 
rein   mechanischem   Wege  wie  durch  eine  Operation 
erfolgte.    Die  Jungfräulichkeit  war  aber  an  sich  eben- 

24 


—     370     — 

falls  Bedingung,  und  die  Operation  erfolgte  öffentlich, 
doch  jedenfalls  auch  nur  deshalb,  damit,  ähnlich  wie 
bei  den  arabischen  Völkern  der  Beweis  der  geschlecht- 
lichen Unbescholtenheit  noch  vor  der  Eheschließung 
erbracht  werden  konnte. 

Anders  lag  die  Sache  wohl  in  den  Harems.  Ich 
bin  der  Ansicht,  daß  zwar  auch  dort  im  allgemeinen 
Wert  darauf  gelegt  wurde,  die  Jungfräulichkeit  einer 
Braut  zu  besitzen.  Daß  aber  alle  Insassinnen  des 
Harems  etwa  als  Jungfrauen  hätten  aufgenommen 
werden  können,  das  ist  wohl  völlig  ausgeschlossen 
und  wird  auch  wohl  niemals  verlangt  worden  sein. 
War  es  doch  üblich,  Frauen  und  Jungfrauen  besiegter 
Völker  als  willkommene  Beute  abzuführen  und  sie  in 
die  Harems  aufzunehmen  oder  sie  sonst  den  Siegern 
zu  überlassen.  Daß  dabei  die  entsetzlichsten  Greuel- 
taten begangen  wurden,  das  haben  wir  schon  in 
früheren  Kapiteln  gesehen. 

Wenn  man  nun  erwägt,  wie  verschieden  die  An- 
sichten schon  bei  der  Bewertung  der  Jungfräulichkeit 
waren,  dann  kann  man  sich  ungefähr  eine  Vorstellung 
von  der  Vielgestaltigkeit  des  orientalischen  Liebes- 
lebens machen.  Es  gibt  in  der  Tat  kaum  eine  Über- 
einstimmung. Das  kann  aber  auch  im  Orient  bei  der 
großen  Menge  verschiedener  Volksstämme  durchaus 
nicht  auffallen,  wenn  man  bedenkt,  daß  nicht,  wie  bei 
uns,  eine  bestimmte  Kultur  die  einzelnen  Völker  so 
weit  eint,  daß  ihre  Sittenansichten,  mögen  die  Formen, 
unter  denen  sich  das  Liebesleben  abspielt,  auch  noch 
so  vielgestaltig  sein,  doch  in  der  Hauptsache  völlig 
übereinstimmen.  Im  Orient  ist  das  anders;  da  gibt  es 
noch  Kulturperioden,  die  kaum  über  die  Landesgrenze 


—    371     — 

sich  ausdehnen,  und  die  im  Nachbarland  schon  völlig 
andern  Ansichten  begegnen,  als  sei  die  berühmte 
chinesische  Mauer  um  das  Gebiet  eines  jeden  Volks- 
stammes gezogen.  Viel  hat  sich  hierin  allerdings  im 
Laufe  der  Zeit  schon  geändert;  aber  gleichwohl  finden 
wir  bis  auf  den  heutigen  Tag  noch  die  größten  Ver- 
schiedenheiten, die  zum  großen  Teil  auch  schon  in  den 
verschiedenen  religiösen  Bekenntnissen  ihren  Grund 
haben. 


24s 


Freie  Liebe 
und  eheloser  Sexualverkehr. 

Von  einer  freien  Liebe  im  Sinne  unserer  Moderne 
kann  im  Orient  bei  der  Stellung,  die  dort  die  Frau 
einnimmt,  wohl  schwerlich  die  Rede  sein.  Von  den 
Völkern  des  Altertums,  die  ich  bereits  in  früheren 
Kapiteln  behandelt  habe  —  ich  will  nur  an  die  Massa- 
geten,  die  Ichthyophagen  usw.  erinnern  —  darf  ich 
hier  wohl  völlig  absehen,  weil  da,  wo  keine  bestimmte 
Eheform  besteht,  die  Gesellschaftsehe  herrscht,  also 
doch  etwas,  das  ganz  wesentlich  verschieden  ist  von 
dem,  was  man  freie  Liebe  nennen  dürfte,  wenn  man 
darunter  ein  Verhältnis  verstehen  will,  das  von  der 
allgemein  anerkannten  und  gesetzlichen  Form  der  Ehe 
abweicht,  also  eigentlich  eine  Ehe  auf  unbestimmte 
Zeit  ist  und  vor  allen  Dingen  ohne  irgend  welche 
Formalitäten,  lediglich  auf  freie  Vereinbarung  einge- 
gangen wird,  wenn  man  den  etwas  paradoxen  aber 
richtigen  Ausdruck  gebrauchen  will,  eine  Ehe  ohne  Ehe. 
Eigentlich  würde  das  ein  Konkubinatsverhältnis  sein; 
die  freie  Liebe  unterscheidet  sich  aber  von  diesem 
wieder  dadurch,  daß  das  Konkubinatsverhältnis  nur 
den   Zweck   hat,   den    sexuellen  Verkehr   zu   pflegen, 


—     373     — 

während  die  freie  Liebe  wirklich  eine  Ehe  ohne  Ehe, 
also  ein  Band  ist,  das  nicht  bloß  die  sexuelle  Befrie- 
digung bezweckt,  sondern  auch  geistig  ein  Verein  ist, 
dem  also  nichts  zu  einer  richtigen  Ehe  fehlt  als  die 
gesetzliche  Form  ihrer  Schließung. 

Man  kann  darüber  sehr  wohl  streiten,  ob  für  ein 
solches  Verhältnis  bei  uns  ein  plausibler  Grund  vor- 
liegen kann,  da  doch  zwei  Personen,  die  den  festen 
Willen  haben,  ein  solches  Verhältnis  einzugehen,  wahr- 
lich alle  Veranlassung  haben  müssen,  auch  öffentlich 
diesen  Bund  als  einwandsfrei  anerkannt  zu  sehen, 
zumal  durch  unsere  Ziviltrauung  auch  der  früher 
häufig  vorhanden  gewesene  Grund,  daß  wegen  der 
Verschiedenheit  des  religiösen  Bekenntnisses  eine 
gültige  Ehe  nicht  geschlossen  werden  konnte,  über- 
haupt nicht  mehr  existiert.  Im  Orient  ist  für  die 
freie  Liebe  im  allgemeinen  erst  recht  kein  Boden.  Die 
Frau  spielt  selbst  in  der  Ehe  in  den  meisten  Gegenden 
nicht  die  Rolle,  die  es  ihr  ermöglichte,  im  abendlän- 
dischen Sinne  die  Genossin  ihres  Mannes  zu  sein;  sie 
würde  in  einem  Verhältnis  der  freien  Liebe  fast  über- 
all völlig  undenkbar  sein.  Ja,  warum  bringe  ich  dann 
diesen  Gedanken  in  das  orientalische  Liebesleben 
hinein? 

Es  hat  gleichwohl  auch  im  Orient  so  mancher  Roman 
sich  abgespielt,  still  und  verschwiegen,  wie  das  Feuer 
unter  der  Asche  glimmt,  bis  es  ein  frischer  Windhauch 
zur  Flamme  anfacht,  die  weithin  sichtbar  ist  Das  ist 
für  das  stille  Feuer  und  für  die  stille  Liebe  die  Minute 
der  Gefahr,  denn  das,  was  verborgen  bleiben  sollte 
und  doch  plötzlich  entdeckt  wird,  das  wird  angegriffen 
und    vernichtet.     Im    Orient    ist   ein    solcher  Roman 


—     374     — 

schwer  möglich,  weil  die  Weiber  und  Mädchen  sich 
nicht  der  Freiheit  erfreuen,  die  solche  Affären  begün- 
stigt; aber  die  Liebe  ist  erfinderisch.  Sie  findet  Wege 
und  Mittel,  wo  beide  unmöglich  erscheinen.  Meist 
sind  es  Herzensbündnisse,  die  zwischen  Personen 
verschiedenen  Glaubens  geschlossen  werden.  Ist  der 
Mann  Mohammedaner,  die  Geliebte  vielleicht  eine 
Christin,  so  hat  das  nicht  viel  zu  sagen,  wenigstens 
würde  daraus  noch  kein  Ehehindernis  entstehen,  wenn 
die  Christin  so  weit  über  sich  verfügen  darf,  daß  sie 
dem  Geliebten  folgen  will.  Sie  kann  seine  Gattin 
werden,  und  es  ist  selbst  die  Möglichkeit  gegeben, 
daß  sie  die  einzige  bleibt,  wenn  der  Mann  dazu  den 
Willen  hat.  Viel  schwerer  liegt  die  Sache,  wenn  der 
Christ  die  muselmännische  Tochter  liebt.  Sie  wird 
ihm  schwerlich  anvertraut,  denn  für  den  Türken  ist 
er  ein  Christenhund,  dem  man  nach  dem  Leben 
trachtet,  wenn  er  es  sich  etwa  in  den  Sinn  kommen 
läßt,  die  Hand  nach  einer  „Gläubigen"  auszustrecken. 
Ich  sage  dies  natürlich  ganz  allgemein  und  lasse  die 
Ausnahmefälle,  die  in  unserer  Zeit  viel  leichter  vor- 
kommen können,  nur  diese  Regel  bestätigen.  Viel 
schwieriger  lagen  die  Verhältnisse  in  früheren  Zeiten, 
in  denen  doch  auch  bei  uns  die  religiöse  Verschiedenheit 
noch  gesetzlicher  Hinderungsgrund  war.  Selbst  in 
christlichen  Ländern  wäre  das  bloße  Liebesverhältnis 
zwischen  Gläubigen  und  Ungläubigen  ein  Kapital- 
verbrechen, eine  Ehe  etwas  völlig  undenkbares  gewesen. 
Das  Satirische  ist  dabei,  daß  der  Mohammedaner  den 
Christen,  der  Christ  den  Mohammedaner  für  ungläubig 
erklärte,  weil  eben  beide  ihren  Glauben  für  den  allein 
richtigen  hielten.    Es  ist  schwer  zu  sagen,  auf  welcher 


—     375     — 

Seite  der  größte  Fanatismus  bestand.  Dieser  Fanatis- 
mus hat  freilich  niemals  zu  verhindern  gewußt,  daß 
sich  Herz  zum  Herzen  fand,  denn  die  Liebe  pflegt 
denn  doch  nicht  danach  zu  fragen,  in  welchem  Dogma 
der  Gegenstand  der  Liebe  erzogen  ist,  weil  immer  die 
Liebe  das  Natürliche,  das  Dogma  oder  die  Konfession 
aber  nur  etwas  Wüllkürliches  ist.  Das  hat  allerdings  die 
irdische  Gerechtigkeit  nicht  anerkannt,  sie  ist  den 
abscheulichsten  Vorurteilen  gefolgt  und  hat  diese 
stets  über  den  klaren  Menschenverstand  erhoben. 

Ich  will  ein  Beispiel  geben,  dessen  Stiefler  in 
seinem  „Geistlichen  Historien-Schatz"  gedenkt;  es 
heißt  da:  „Vor  etlichen  Jahren  trug  sichs  zu  Constanti- 
nopel  zu,  daß  eine  Türckische  junge  Witfrau  Lust  zu 
eines  Griechen  Sohn  bekahm,  welchen  sie  durch 
heimliche  Anstellung  zu  sich  forden  ließ,  und  ihr 
Gemüth  entdeckt  Der  Jüngling  schlug  auch  nicht 
schlim  bey  und  trieben  sie  Unzucht  miteinander  etliche- 
mahl.  Nun  waren  zu  beiden  Theylen  die  Eltern  noch 
am  Leben,  welchen  das  böse  Geschrey  übel  gefiel, 
sonderlich  der  Türckin  Vater,  der  ein  reicher  vor- 
nehmer Mann  war.  Die  Wittibe  begehrte  den  Griechen 
zur  Ehe,  so  wider  ihr  Gesetz  und  keineswegs  geschehen 
konnte,  der  Grieche  würde  dann  zuvor  ein  Türck, 
welches  er  nicht  gedachte  zu  thun.  Ward  dennoch 
wegen  der  Frauen  Vater  die  Schwängerung  in  eine 
Geldbuße  bei  der  Obrigkeit  gemittelt,  und  ihr,  wie 
auch  dem  Gesellen,  bey  höchster  Strafe  au  ff  erlegt, 
hinführo  einander  müßig  zu  gehen.  Dem  Weibe  aber 
war  es  nicht  möglich,  wurden  also  über  verhoffen 
beysammen  in  unkeuscher  Brunst  gefunden,  und 
gefänglich  eingezogen.     Der  Witwen  Vater  wollte  sich 


—     376     — 

seiner  Tochter  nicht  mehr  annehmen,  so  war  der 
Grieche  wegen  Armuth  seiner  Eltern  auch  Hülfloß, 
und  weil  er  sich  zum  Mohametischen  Glauben  nicht 
bekennen  wolte,  sie  zu  nehmen,  mußte  die  Obrigkeit 
ihr  Ambt  thun,  welches  der  Wittiben  Vater  selber 
begehrte.  Wurden  also  diese  beyde  aus  dem  Kerker 
geführet,  das  Weib  fürwärts,  der  Grieche  rücklings 
auf  einem  Esel  gebunden,  ihr  den  Zaum,  ihm  den 
Schwantz  in  die  Hand  gegeben,  durch  die  vornehmste 
Gassen  der  gantzen  Stadt  Constantinopel  geführet, 
Männiglich  zum  Exempel  gewiesen,  biß  sie  endlich 
über  den  Fischmarckt  zum  Thor  hinaus  aufs  Meer, 
allwo  eine  Gericht-Stelle  aufgebauet,  gebracht  worden, 
da  machte  man  sie  beyde  ledig.  Und  zwar  nahm 
man  zuerst  den  Griechen,  zog  ihn  fasenacket  aus 
(doch  blieb  die  Scham  mit  einem  Tuch  bedecket) 
band  ihm  Hände  und  Füße  auf  dem  Rücken  zusammen, 
henckt  ihn  lebendig  am  Galgen,  in  einem  eisernen 
Hacken;  der  ihm  auf  der  Seiten  durch  die  Rippen 
ging,  daß  er  noch  alles  sehen  konnte,  was  man  mit 
seiner  Buhlschafft  würde  vornehmen.  Da  die  Türckin 
diese  schreckliche  Straffe  sähe,  ruffte  sie  ihm  zu,  er 
solte  gedultig  seyn.  Aber  man  ließ  sie  nicht  viel 
Worte  machen,  sondern  fuhr  auch  mit  ihr  fort,  band 
ihr  die  Augen  zu,  und  ersäuffte  sie  im  Meer,  lieferte 
nachmahls  den  todten  Körper  der  Freundschafft.  Der 
Grieche  mußte  solchem  Jammer  zuschauen,  mit  großen 
Schmertzen,  wäre  zwar  gerne  tod  gewesen,  aber  konnte 
nicht  sterben,  denn  das  Hertz  war  noch  frisch  im 
Leibe.  Es  ward  auch  das  Gericht  alsbald  durch 
etliche  Wächter  besetzt,  daß  nur  dem  armen  Sünder  nicht 
vergeben  möchte  werden.    Als  er  nun  drey  Tage  und 


—     377     — 

Nacht  in  unsäglicher  Pein  halb  tod  und  halb  lebendig 
hing,  ist  ein  Wächter  durch  des  Griechen  Freunde 
bestochen  worden,  welcher  ihm  Gifft  in  einem 
Schwamm,  anstatt  Essigs  beybracht,  daran  er  den 
vierdten  Tag  gestorben." 

Die  Geschichte  zeigt,  daß  in  Liebesaffären  keines- 
wegs zu  spaßen  war.  Daß  der  türkische  Vater  noch 
Erbarmen  hatte,  als  seine  Tochter  zum  ersten  Male 
mit  dem  „ungläubigen  Hunde"  erwischt  worden  war, 
ist  eine  besondere  Milde,  auf  die  durchaus  in  solchen 
Fällen  nicht  zu  rechnen  war.  Recht  sonderbar  berührt 
die  Bemerkung,  daß  nach  der  zweiten  Entdeckung 
der  Grieche  wegen  der  Armut  seiner  Eltern  auch 
hilflos  gewesen  sei.  Es  scheint  also  doch  ganz 
offenes  Geheimnis  gewesen  zu  sein,  daß  durch  den 
Anblick  des  schnöden  Mammons  die  türkische  Gerech- 
tigkeit Anfälle  von  Blindheit  bekam,  die  es  ihr  unmög- 
lich machten,  die  Schuld  eines  Menschen  zu  entdecken. 
Jedenfalls  ist  aber  auch  die  Stelle  beachtenswert,  daß 
der  Vater  der  Türkin  nunmehr  selbst  die  energische 
Strafe  wünschte.  Daß  das  sündige  Paar  auf  einen 
Esel  gesetzt  und  durch  die  ganze  Stadt  geführt  wurde, 
damit  jeder  Brave  sie  sehen  und  sich  ein  Exempel 
nehmen  sollte,  war  allgemeiner  Brauch,  wenigstens 
bei  Sittlichkeitsdelikten;  ich  werde  dafür  noch  ein 
Beispiel  citieren.  Die  Strafe  selbst  war  äußerst  grau- 
sam und  wurde  für  den  Ungläubigen  noch  dadurch 
verschärft,  daß  er  in  seiner  jammervollen  Situation  die 
Leiden  seiner  Geliebten  mitansehen  und  diesen  Jammer 
zu  seinen  anderen  übermenschlichen  Qualen  noch  bis 
zu  seinem  Tode  ertragen  mußte.  Daß  man  ihn  furcht- 
bar  martern   und   keineswegs   schnell   sterben   lassen 


—     378     — 

wollte,  das  war  der  Hauptzweck  dieser  Strafart.  Man 
versteht  es  nur  eigentlich  nicht,  wie  ein  Mensch  in 
solchen  unerhörten  Qualen  noch  Tage  lang  leben 
konnte.  Wenn  der  eiserne  Haken  durch  die  Rippen 
geschlagen  worden  war,  brauchten  freilich  keine 
Wunden  zu  entstehen,  die  absolut  tötlich  gewesen 
wären,  immerhin  ist  diese  Tötungsart  aber  doch  so 
furchtbar  qualvoll,  daß  sie  kaum  einige  Stunden  hätte 
überlebt  werden  können.  Die  Beispiele  aber,  daß  in 
solchen  und  ähnlichen  Situationen  Menschen  3  bis 
9  Tage  am  Leben  blieben,  sind  so  häufig,  daß  man 
sie  wohl  für  wahr  halten  muß,  so  unwahrscheinlich 
sie  auch  klingen  mögen.  Auch  hier  trat  der  Tod  erst 
durch  Vergiftung  ein.  Der  Wächter  war  also  erheblich 
weniger  anspruchsvoll  als  das  Gericht,  denn  zu  einer 
Bestechung  reichten  die  Mittel  der  Freunde  aus.  Viel- 
leicht hatten  die  Wächter  auch  selbst  mit  einem 
Ungläubigen  noch  etwas  Mitleid,  mindestens  viel  mehr 
als  das  Gericht,  so  daß  sie  die  Vergiftung  vornahmen, 
wenn  nach  ihrer  Ansicht  der  Delinquent  genug  gelitten 
hatte,  und  mit  einem  dreitägigen  martervollen  Leiden 
war  eigentlich  wohl  auch  das  Verbrechen,  geliebt 
und  diese  Liebe  genossen  zu  haben,  überreichlich 
gesühnt. 

Ich  habe  dieses  Beispiel  gewählt,  weil  es  in 
Wirklichkeit  ein  Verhältnis  darstellt,  daß  ungefähr  dem 
entspricht,  was  man  freie  Liebe  nennen  darf.  Es  war 
ein  Liebesband,  das  auf  die  Dauer  berechnet  war. 
Die  Türkin  wollte  den  Bund  sogar  in  eine  Ehe  ver- 
wandeln, und  der  Grieche  wäre  damit  wohl  auch  ein- 
verstanden gewesen,  wenn  er  in  diesem  Falle  nicht  hätte 
zum  Glauben  der  Türkin  übertreten  müssen.  Das  wollte 


—     379     — 

und  konnte  er  nicht,  weil  diese  Zumutung  ihm  uner- 
füllbar erschien;  er  hätte  wohl  schon  die  Beschneidung, 
die  mit  dem  Glaubenswechsel  verbunden  war,  nicht 
dulden  mögen.  Wie  es  scheint,  ist  aber  gerade  die 
Weigerung,  den  mohammedanischen  Glauben  anzu- 
nehmen, der  Grund  gewesen,  aus  dem  man  ihm  so 
furchtbare  Qualen  bereitete.  Das  läßt  sich  wenigstens 
aus  der  Erzählung  ohne  weiteres  entnehmen. 

Daß  die  Türken,  so  unglaubhaft  das  auch  er- 
scheint, sehr  eifrig  auf  die  Wahrung  der  öffentlichen 
Moral  hielten,  obwohl  sie  doch  eigentlich  hierzu  herz- 
lich wenig  Talent  besitzen,  geht  aus  einer  Stelle  hervor, 
die  ich  Döplers  „Schau-Platz  derer  Leibes-  und  Lebens- 
Straffen"  entnehme.  Es  heißt  da:  „Sonst  wird  es 
auch  in  der  Türkey  wegen  Abstraffung  der  Unzucht 
folgender  gestalt  gehalten,  nemlich  zu  Nachts  gehet 
der  Subaci  oder  Stadt-Richter  in  den  Gassen  um, 
findet  er  welche  in  Huren-Winckeln,  so  nimmt  er  sie 
zu  sich,  und  setzet  sie  gefangen  biss  auf  den  Morgen. 
Dann  setzet  er  das  Weib  auf  ein  Saumthier,  mit  ein 
paar  Hörnern  auf  dem  Kopf,  und  der  Buhler  muß 
den  Esel  führen,  welchem  die  Augen  mit  einer  Farbe 
gefärbt  sind,  da  werffen  ihn  die  Buben  mit  faulen 
Pommerantzen,  Äpffeln  oder  anderen  Dingen,  ver- 
höhnen und  verspotten  sie.  Der  Buhler  bekömmt 
noch  dazu  hundert  Streiche,  und  sie  muß  den  Esel 
bezahlen,  oder  der  Ehebrecher  muß  sich  mit  Gelde 
lösen,  und  sie  wird  aufm  Esel  zur  Schande  herum- 
geführet,  nackend  durch  alle  Gassen,  mit  Küh-  und 
Ochsen-Kutteln  behenkt,  gegeißelt  und  gesteiniget." 

Das  wäe  also  schon  eine  Art  Sittenpolizei  gewesen. 
Die  nächtliche  Revision  der  Gassen  ist  übrigens  tat- 


—     380     — 

sächlich   erfolgt,   und   die   losen   Vögel,   die   bei   den 
Werken  der  Liebe  erwischt  wurden,  nahm  die  Wache 
ebenso   mit    wie   alles    andere   zweideutige   Gesindel, 
das  in  der  Nacht  aufgetrieben  wurde.    Im  übrigen  ist 
aber  Döpler  doch   nicht  recht   im  Bilde  gewesen;  er 
hat  offenbar  die  einfache  Unzucht  mit  dem  Ehebruch 
zusammengeworfen  und  so  ein  Gemenge  erzielt,  das 
an  sich  nicht  als  eine  genügende  Quelle  zum  Studium 
der  alttürkischen  Verhältnisse  dienen  kann,  das  aber 
noch,   wenn    man    das   Nichthinzugehörige    ausmerzt, 
doch  eine  ganz  gute  Schilderung  gibt.    Wahr  ist  alles, 
was  Döpler  anführt;  er  hätte  nur  die  Ehebruchsstrafe 
nicht  in  die  Unzuchtsstrafe  hineinziehen  dürfen.    Vor 
allen   Dingen   ist   auch    hier   wieder    das   Reiten    der 
Vettel  auf  dem  Esel   charakteristisch.     Das  war  stets 
die   Einleitung.     Wie   es   scheint,    ist   dieses   Herum- 
führen der  Dirne  auf  dem  Esel,  oft  die  einzige  Strafe, 
also  eine  Schandstrafe,  gewesen.    Der  Aufputz  wurde 
so   grotesk  wie  nur   irgend   möglich   gestaltet,   wenn 
auch  aus  der  Döplerschen  Erzählung  nicht  klar  hervor- 
geht,  ob   der  Esel  oder   das  Weib   mit  den  Hörnern 
„geschmückt"  wurde.    Daß  der  Buhle  den  Esel  führen 
mußte,    das    war    eine    weise    Vorsicht,    die    darauf 
berechnet  war,  ihn  auch  bei  der  öffentlichen  Schän- 
dung nicht  leer  ausgehen  zu  lassen.    Dieses  Führen 
des  Esels  ist  übrigens  wahrscheinlicher  als  die  Angabe 
des   ersten   Beispiels,   nach   der  beide  Schuldige  auf 
dem   Esel  gesessen   hätten.    Es   mag  das  aber  wohl 
nicht  immer  in  der  gleichen  Weise  gehandhabt  worden 
sein.    Der  Buhle  soll  auch  100  Streiche  erhalten  haben, 
wenn  der  Weg  der  Schande  zurückgelegt  war.    Ob 
dies   stets  geschah,  das   ist   schwer  zu  sagen.     Dass 


—    381     — 

aber  100  Streiche  eine  außerordentlich  harte  Strafe 
darstellten,  besonders  wenn  sie  auf  die  Fußsohlen 
erteilt  wurden,  wie  dies  im  Orient  besonders  gern 
getan  wurde,  da  die  Bastonnade  ein  sehr  beliebtes 
aber  auch  ebenso  gefürchtetes  Strafmittel  bildete,  je 
nachdem  ob  die  Strafe  erteilt  oder  empfangen  wurde, 
das  kann  keinem  Zweifel  unterliegen.  Daß  Döpler 
nun  ganz  plötzlich  von  der  Ehebrecherin  erzählt, 
während  er  bisher  doch  bloß  von  der  einfachen  Un- 
zucht gesprochen  hat,  zeigt,  wie  gesagt,  daß  er  sich 
selbst  nicht  völlig  klar  über  das  war,  was  er  aus  den 
verschiedenen  Quellen  über  die  Zustände  in  der  Türkei 
zusammengetragen  hatte.  Da  Döpler  sonst  ein  äußerst 
klarer  und  besonders  in  Strafsachen  hervorragend 
unterrichteter  Kopf  ist,  mag  die  Unklarheit  wohl  mehr 
seinen  Quellen  als  ihm  selbst  zur  Last  zu  legen  sein. 
Wahr  ist,  daß  auch  Ehebrecherinnen  nackt  auf  einem 
Esel  herumgeführt  zu  werden  pflegten,  es  mag  vor- 
gekommen sein,  daß  sie  in  unmenschlicher  Weise 
gegeißelt  und  dann  gesteinigt  wurden,  wie  dies 
wenn  auch  ohne  Geißelung,  bei  den  Juden  die 
gewöhnliche  Strafe  für  Ehebrecherinnen  war.  In  der 
Regel  dürfte  allerdings  im  orientalischen  Altertum  die 
Strafe  wegen  des  Ehebruches  von  dem  Gatten  der 
Ehebrecherin  selbst  vollzogen  worden  sein.  Daß  diese 
Strafe  deshalb  etwa  milder  ausgefallen  sei,  wird  man 
wohl  nicht  behaupten  dürfen.  Wie  Ehemänner  ihre 
Weiber  bestraften,  wenn  sie  sich  erlaubt  hatten,  den 
Zorn  des  strengen  Gebieters  herauszufordern,  davon 
ist  die  Geschichte  jener  Länder  mit  geradezu  greulichen 
Beispielen  erfüllt.  Ich  will  nur  eins  auswählen,  das 
„Straußens  Reise-Beschreibung"  entlehnt  ist.     „In  der 


—     382     — 

Armenier  Stadt  Scamachy  begab  sich  den  9.  Juni  1671 
folgende  Geschieht:  Ein  Persianer  hatte  eine  Polnische 
Sklavin  zum  Weibe  genommen,  diese  war  ihm  aus 
Uneinigkeit  weggelauffen,  und  wolte  heimlich  mit  dem 
Gesandten  heimreisen,  alwo  sie  ihre  Mutter  und 
Geschwister  noch  hatte,  ward  aber  dem  Manne  ver- 
kundschaffet,  welcher  sie  ließ  wiederholen.  Unter 
dessen  schichte  er  sich  auf  ein  höltzern  t,  warff 
durch  Beyhülffe  seines  Volckes  das  arme  Weib  nackent 
drauf,  schnürte  sie  fest  an,  und  zog  ihr  selbst,  nach 
grimmigen  Fürworff,  das  Fell  lebendig  über  die  Ohren, 
schmiß  den  abgezogenen  Leib  auf  die  Gasse,  von 
dannen  er  ins  freie  Feld,  als  ein  Aaß,  den  Raben  und 
Hunden  zur  Speise  geschleppet  ward.  Das  abgezogene 
Leder  aber  nagelte  er  im  Hause  an  die  Wand,  denen 
andern  Weiber,  deren  er  noch  12  hatte,  zur  Warnung, 
daß  sie  sich  forthin  daran  spiegeln  solten.  Zu  solcher 
Unsinnigkeit  brachte  diesen  unbarmhertzigen  Hencker 
der  Argwohn  und  Ehe-Eifer." 

Daß  es  gerade  die  13.  Gattin  war,  die  in  dieser 
furchtbaren  Weise  ums  Leben  kam,  hätte  abergläu- 
bischen Leuten  den  alten  Unsinn,  daß  die  13.  Person 
immer  sterben  müsse,  sicherlich  als  eine  schöne  Be- 
stätigung ihres  Aberglaubens  gelten  können.  Hier  ist 
nun  von  einem  Ehebruch  offenbar  nicht  die  Rede 
gewesen,  sondern  das  Weib,  das  eine  Polin  und  des- 
halb an  die  Haremsfreuden  wohl  nicht  gewöhnt  war, 
hatte  das  Leben  an  der  Seite  ihres  Dreizehntels  Gatten 
satt  und  wollte  in  die  Heimat  zurückkehren,  was  man 
ihr  schließlich  gewiß  nicht  verdenken  konnte.  Der 
Mann  allerdings  faßte  diese  Absicht  völlig  anders  auf; 
er  mochte  wirklich   denken,  daß   die  Gattin  mit  dem 


—     383     — 

Gesandten  ihres  Landes  eine  Liebschaft  anknüpfen 
wollte  Auf  keinen  Fall  hatte  sie  übrigens  ein  Recht, 
ihn  zu  verlassen,  selbst  wenn  sie  der  Meinung  gewesen 
wäre,  daß  ihr  Gatte  sich  mit  seinen  12  übrigen  Frauen 
genügend  über  ihren  Verlust  trösten  könne.  Er  ließ 
sie  verfolgen,  und  als  sie  eingefangen  war,  heftete  er 
sie  ans  Kreuz,  nachdem  sie  völlig  entkleidet  war,  und 
zog  ihr  lebendigen  Leibes  die  Haut  ab.  Das  war  damals 
an  und  für  sich  keine  so  völlig  unbekannte  Manipu- 
lation, denn  das  Hautabziehen  wurde  durchaus  nicht 
so  selten  geübt,  wie  man  jetzt  vielleicht  glaubt.  Jeden- 
falls ist  dieses  Rachemittel  aber  eine  der  größten 
Scheußlichkeiten,  die  sich  der  menschliche  Geist  über- 
haupt auszudenken  vermag.  Eine  furchtbarere  Qual 
kann  nicht  ersonnen  werden;  sie  ist  so  groß  und  ent- 
setzlich, daß  kein  Mensch  sie  lebend  bis  zu  Ende 
ertragen  kann.  Die  Schmerzen  rauben  das  Bewußtsein, 
und  der  Tod  tritt  durch  Verbluten  ein.  Man  könnte 
nun  demnach  vielleicht  zu  der  Ansicht  gelangen,  daß 
die  Marter  deshalb  nicht  so  schlimm  sei,  weil  ihre 
Dauer  nicht  erheblich  war.  Das  ist  aber  ein  schwacher 
Trost,  denn  so  schnell,  wie  man  vielleicht  glaubt,  ging 
die  Sache  nicht.  Zunächst  wurde  die  Haut  aufge- 
schnitten und  dann  Glied  für  Glied  abgezogen.  Das 
dauerte  immerhin  ziemliche  Zeit,  und  zunächst  blieben 
die  entsetzlichen  Schmerzen  in  vollster  Heftigkeit  fühl- 
bar. Daß  die  Opfer  dabei  auf  das  Kreuz  festgebunden 
wurden  —  in  der  Regel  brauchte  man  zu  diesem 
Zwecke  das  sog.  Andreaskreuz,  das  Arme  und  Beine 
weit  auseinandersperrte  — ,  geschah  deshalb,  damit 
die  Gemarterten  nicht  durch  heftige  Bewegungen  dem 
Schinder  die  Arbeit   erschweren  oder  gar  unmöglich 


—     384     - 

machen  konnten.  Man  mochte  vielleicht  auch  gefunden 
haben,  daß  die  Schmerzen  noch  heftiger  peinigten, 
wenn  es  dem  Opfer  unmöglich  gemacht  wurde,  sie 
durch  krampfhafte  Bewegungen  zu  mildern.  Entsetz- 
lich ist  die  viehische  Roheit,  mit  der  der  abgezogene 
Körper  einfach  auf  die  Straße  geschmissen  wurde, 
von  wo  ihn  erst  später  die  Knechte  fortschleiften, 
damit  er  den  Raben  und  Hunden  zum  Fräße  diente. 
Die  Haut  wurde  als  eine  Art  Trophäe  an  die  Wand 
genagelt  und  diente  zur  Warnung.  Daß  diese  entsetz- 
liche Greueltat  dem  Manne  irgendwie  verdacht  worden 
wäre,  oder  daß  ihn  wegen  des  grausamen  Mordes 
etwa  gar  eine  Strafe  getroffen  hätte,  davon  enthält  die 
Geschichte  kein  Wort,  sie  konnte  auch  keins  enthalten, 
da  es  das  „gute  Recht"  des  Mannes  war,  seine  Frau 
für  die  „Pflichtvergessenheit"  zu  strafen.  Die  Art  der 
Strafe  war  ihm  überlassen,  und  es  kam  sehr,  sehr  oft 
vor,  daß  ein  Mann  seine  Gattin,  oder  richtiger  gesagt, 
eine  seiner  Gattinnen  einfach  in  den  Sack  nähen  und 
ins  Meer  werfen  ließ.  Das  war  nicht  einmal  eine 
Strafe,  sondern  nichts  als  eine  zarte  Andeutung,  daß 
er  sie  nicht  liebe  und  gern  los  sein  wollte. 

Die  Geschichte  der  unglücklichen  Polin  erinnert 
übrigens  an  das  Schicksal  eines  großen  Mannes,  der 
sich  berufen  fühlte,  die  Rolle  eines  gottgesandten 
Religionsstifters  zu  spielen.  Ich  meine  den  Propheten 
Mani,  der  selbst  weniger  bekannt  ist  als  die  Religions- 
sekte, die  nach  ihm  benannt  wurde,  die  Sekte  der 
Manichäer.  Mani,  oder  wie  er  auch  genannt  wird, 
Manes,  stammte  aus  Babylon  und  trat  242  n.  Chr.  in 
Persien  als  ein  Gesandter  des  wahren  Gottes  auf.  Er 
wollte    die   verschiedenen    Religionen    zu    einem   be- 


—     385     — 

stimmten  Religionssystem  vereinigen,  hatte  also  einen 
Gedanken,  der  zweifellos  gut  und  richtig  war,  der 
aber  natürlich  auf  den  heftigsten  Widerstand  stoßen 
mußte,  da  alle  Religionssysteme  natürliche  Gegner 
dieses  Mannes  sein  mußten.  Er  wurde  meist  als  ein 
gefährlicher  Zauberer  bekämpft,  verstand  es  aber  doch, 
eine  begeisterte  Anhängerschaft  um  sich  zu  sammeln. 
Wie  behauptet  wird,  verwarf  Manes  die  Ehe  und 
gestattete  die  freie  Liebe  ohne  jeden  zeremoniellen 
Zwang;  man  warf  ihm  daher  vor,  daß  er  die  freie 
Unzucht  predige,  um  seinen  orientalischen  Anhängern 
die  unbegrenzte  Befriedigung  ihrer  Lüste  als  den  Köder 
hinzuwerfen,  auf  den  sie  am  leichtesten  anbissen.  So 
ist  Manes  wirklich  eine  Persönlichkeit,  die  in  unserm 
Kapitel  nicht  fehlen  darf.  Er  wurde  allerdings  schließ- 
lich, nachdem  ihn  zunächst  Hormizd  I.  aus  der  Hand 
der  Feuerpriester  befreit  hatte,  von  dessen  Nachfolger 
Bahran  I.  gekreuzigt  und  geschunden.  Er  erlitt  also 
dasselbe  Schicksal  wie  die  polnische  Gattin  des  Persers 
in  Armenien.  Die  Manichäer  haben  sich  aber  nach 
dem  furchtbaren  Tode  ihres  Propheten  noch  gehalten, 
allerdings  durften  sie  sich  nicht  als  seine  Anhänger 
zeigen  und  bekennen.  Ob  sie  seine  Ansichten  über 
Ehe  und  Liebesleben  weiter  praktisch  betätigt  haben, 
wer  wollte  das  sagen? 

Im  Orient  war  für  so  etwas  freilich  kein  günstiger 
Boden.  Wer  da  ein  Weib  haben  wollte,  konnte  es 
ja  leicht  genug  bekommen  und  ebenso  leicht  wieder 
los  werden.  Gerade  das  letztere  Moment  darf  nicht 
unterschätzt  werden.  Es  würde  für  viele  Leute  die 
Heirat  nicht  so  bedenklich  erscheinen,  wenn  nicht 
dieses   Verhältnis    auf    alle  Zeit    geschlossen   würde. 

25 


—     386     — 

Ich  will  nun  freilich  nicht  behaupten,  daß  die  Moral 
etwa  gehoben  werden  könnte,  wenn  solche  Ehen 
blos  deshalb  geschlossen  würden,  damit  die  Flitter- 
wochen alle  die  Wonnen  und  Freuden  des  jungen 
Ehestandes  brächten,  nicht  aber  die  Sorgen  und 
Pflichten,  die  doch  in  jeder  Ehe  das  Salz  bilden, 
durchkostet  werden  müßten.  Im  Orient  war  das  nun 
freilich  anders.  Da  war  die  Frau  nur  dazu  da,  dem 
Manne  zu  dienen  und  sich  für  seine  Zärtlichkeiten 
auf  Wunsch  zu  jeder  Minute  bereit  zu  halten.  Im 
übrigen  tat  der  Mann,  was  ihm  beliebte,  die  Oatinnen 
hatten  kein  Recht  auf  seine  Gesellschaft  sondern  nur 
die  Pflicht,  sie  zu  dulden.  Daß  es  trotzdem  eine 
Prostitution  gab,  das  ändert  an  der  Sache  nichts. 
Der  Mann,  der  sie  benutzte,  machte  sich  nicht  straf- 
bar, wenn  er  sich  nicht  gerade  in  den  Gassen  von 
dem  Stadt-Richter  erwischen  ließ.  Dazu  hatte  er  nun 
aber  eigentlich  auch  gar  keine  Veranlassung.  Das  mag 
nun  jedoch  sein,  wie  es  will,  jedenfalls  gab  es  eine 
freie  Liebe  im  modernen  Sinne  nicht,  auch  keine  im 
Sinne  des  unglücklichen  Manes,  oder  wenn  es  so 
etwas  gab,  dann  blieb  die  Strafe  nicht  aus.  Vielleicht 
ist  das  der  Grund  gewesen,  daß  man  sich  durch 
religiöse  Prostitution  und  den  Kult  der  Liebesgötter 
schadlos  zu  halten  suchte. 


Eheformen. 

Wenn  man  die  Frage  prüfen  will,  welcher  Natur 
die  Ehe  im  Orient  sei,  so  kommt  es  ganz  wesentlich 
darauf  an,  zunächst  festzustellen,  welche  Zeitperiode 
und  welches  Land  dabei  in  Frage  kommen  soll.  Es 
gibt  wohl  nichts  auf  Erden,  das  so  vielgestaltig  und 
so  in  sich  grundverschieden  ist,  wie  gerade  die  Ehe, 
von  der  nicht  einmal  feststeht,  ob  man  in  den  ältesten 
Zeiten  überhaupt  ein  solches  Vertragsverhältnis  gekannt 
hat.  Ich  habe  das  schon  in  früheren  Kapiteln  zur  Sprache 
gebracht  und  möchte  deshalb  hier  nicht  nochmals  auf 
den  alten,  aber  bisher  noch  nicht  entschiedenen  Streit 
eingehen,  ob  Einzelehen  oder  Gruppen-  oder  Gemein- 
schaftsehen das  Ursprünglichste  und  Natürlichste  ge- 
wesen seien,  sondern  ich  will  gleich  zu  Zeiten  über- 
springen, in  denen  es  mindestens  ein  der  Ehe  ähn- 
liches Verhältnis  gab.  Wir  können  nicht  der  Scheidung 
in  die  zwei  Hauptformen  —  Polygamie  und  Mono- 
gamie —  folgen,  denn  von  jeder  dieser  Art  gibt  es 
wieder  Nebenformen,  die  kaum  erkennen  lassen,  zu 
welcher  Art  von  Ehe  man  im  Einzelfalle  das  Verhältnis 
zählen  soll.  Das  mag  bei  der  Monogamie  ganz  be- 
sonders unwahrscheinlich  klingen;  dann  eine  Mono- 
gamie, bei  der  es  dem  Manne  ausdrücklich  erlaubt  ist, 

25* 


—     388     — 

sich  noch  Beischläferinnen  neben  der  einen  und 
einzigen  Frau  zu  halten,  ist  eine  Eheform,  die  zwar 
Monogamie  genannt  wird,  bei  der  ich  mich  aber  sehr 
stark  versucht  fühle,  sie  eher  als  Polygamie  zu  be- 
zeichnen. Tut  man  das  nicht,  dann  hört  beinahe  jede 
tatsächliche  Feststellung  auf,  und  man  krampft  sich 
an  Formen  und  Namen  an,  die  doch  wahrlich  nichts 
sind  als  Rauch  und  Schall.  Eine  Monogamie  kann 
und  darf  nichts  weiter  sein,  als  die  Ehe  zwischen 
einem  Manne  und  einem  Weibe.  Sobald  noch  andere 
Weiber  oder  Männer  gestattet  sind,  gleichviel  welchen 
Namen  man  ihnen  geben  will,  darf  von  einer  recht- 
lichen Monogamie  nicht  die  Rede  sein.  Man  wird  dies 
vielleicht  nicht  völlig  zutreffend  finden,  wenn  man  an- 
nimmt, daß  die  Ehe  nur  durch  die  strikte  gesetzliche 
Form,  durch  die  sie  geschlossen  wurde,  zur  Ehe 
werden  könne.  Das  ist  aber  grundfalsch,  denn  eine 
strikte  gesetzliche  Form  für  die  Ehescheidung  hat  es 
in  Wirklichkeit  sehr  oft  überhaupt  nicht  gegeben.  Das 
entscheidende  Moment  war  das  Beilager,  denn  nur 
durch  dieses  wurde  die  Ehe  vollzogen,  wenn  alle 
Vorverhandlungen  abgeschlossen  waren.  Das  Beilager 
aber  wurde  mit  den  Nebenfrauen,  oder  wie  man  sie 
sonst  nennen  will,  genau  so  wie  mit  der  „wirklichen" 
Frau  gehalten.  Es  ist  also  zwischen  allen  kein  anderer 
Unterschied,  als  die  Bezeichnung  des  Familienbandes. 
Bei  der  Polygamie  liegt  die  Sache  freilich  ganz 
anders.  Da  ergeben  sich  die  Verschiedenheiten  aus 
der  Natur  der  Sache.  Es  kann  da  die  verschiedensten 
Formen  geben:  1.  Die  Polygamie,  d.  h.  eine  Ehe 
zwischen  einem  Manne  und  mehreren  Frauen;  es  ist 
dies  die  verbreitetste  Art  der  Polygamie.    2.  Die  Poly- 


—     389     — 

andrie,  eine  Ehe  zwischen  mehreren  Männern  und 
einer  Frau,  und  3.  die  Gruppen-  und  Gemeinschafts- 
ehen, die  auch  wieder  verschiedenartig  ausfallen  können, 
hier  aber  fast  gar  nicht  mehr  in  Betracht  kommen. 

Die  Buddhisten  ließen  eine  zweifelhafte  Mono- 
gamie gelten,  d.  h.  sie  kannten  nur  die  Einzelehe 
zwischen  einem  Manne  und  einer  Frau,  erlaubten  aber 
dem  Manne  fast  überall  noch  eine  beliebige  Anzahl 
von  Konkubinen,  die  zwar  nicht  Frauen  hießen,  in 
Wirklichkeit  aber  doch  Frauen  waren.  Ich  hätte  sie 
fast  im  vorigen  Kapitel  mit  besprechen  können,  weil 
diese  Verhältnisse  wohl  an  und  für  sich  als  freie  Liebe 
hätten  bezeichnet  werden  dürfen,  wenn  sie  nicht  gerade 
in  so  seltsamer  Weise  mit  der  Ehe  verquickt  gewesen 
wären.  Die  Polyandrie  ist,  wie  gesagt,  die  seltenere 
Form  der  Polygamie;  sie  kommt  aber  vor  in  Indien 
in  Tibet,  bei  vielen  afrikanischen  Stämmen  und  im 
hohen  Norden  Asiens.  Im  Gebiet  des  westlichen 
Himalaya,  im  sogenannten  Kululande,  war  es  Sitte, 
daß  Brüder  meist  nur  eine  Frau  gemeinschaftlich 
hatten,  während  in  den  anderen  Ländern,  in  denen 
diese  merkwürdige  Eheform  besteht,  die  Frau  ihre 
Männer  nach  freiem  Ermessen  wählt;  sie  hatte  dabei 
nicht  notwendig,  gerade  Brüder  zu  ihren  Männern  zu 
machen,  sondern  wählte  die,  die  ihr  gefielen.  Für 
diese  Sitte  läßt  sich  eigentlich  kaum  ein  vernünftiger 
Grund  finden,  da  die  Fortpflanzung  dadurch,  daß  eine 
Frau  mehrere  Männer  hat,  in  keiner  Weise  gefördert 
wird.  Es  ist  auch  sicherlich  die  am  wenigsten  ästhe- 
tische Form  der  Mehrheitsehe.  Begründet  wurde  diese 
Art  Ehe  durch  die  soziale  Lage  der  Männer,  die  es 
ihnen  nicht  gestattete,  eine  Frau  für  sich  allein  zu  halten. 


—     390     — 

Meist  sind  die  Frauen  Eigentümerinnen  des  Haus- 
wesens, in  das  sie  ihre  Männer  aufnehmen.  Wenn 
man  übrigens,  wie  dies  von  den  Forschern  mit  Vor- 
liebe getan  wird,  sich  im  Tierreich  umsieht,  um  zu 
prüfen,  welche  Form  der  Ehe  die  natürlichste  sei,  so 
findet  man  auch  für  die  Polyandrie  Beispiele,  z.  B.  er- 
innert die  Bienenkönigin  stark  an  diese  Eheform.  Das 
beweist  also  nichts,  als  daß  die  Beweise  aus  dem 
Tierreich  für  unsere  Ehen  versagen. 

Bevor  ich  mich  nun  auf  die  einzelnen  Formen  der 
Ehe  näher  einlasse,  möchte  ich  vorausschicken,  daß 
die  Zeremonien  der  Eheschließung  ebenfalls  in  starke 
Rätsel  gehüllt  sind.  Wir  finden  im  Altertum  sehr 
weit  verbreitet  die  Sitte  oder  auch  Unsitte  des  Frauen- 
raubes. Es  wurde,  da  für  die  Frau  in  der  Regel  ein 
vereinbarter  Kaufpreis  entrichtet  werden  mußte,  dieser 
gezahlt,  alles  bis  aufs  Kleinste  vereinbart;  aber  der 
Bräutigam  erhielt  nicht  —  die  Frau,  sondern  die  alte 
Sitte  schrieb  vor,  daß  er  sie  mit  Gewalt  entführen 
mußte.  Ich  habe  das  bereits  als  noch  herrschende 
Sitte  arabischer  Stämme  beschrieben.  Im  Altertum  war 
diese  Form  der  „Hochzeit"  aber  ganz  allgemein  bräuch- 
lich. Man  hat  sich  nun  schon  weidlich  über  die  Her- 
kunft dieses  eigenartigen  Brauches  die  Köpfe  zerbrochen 
und  Erklärungnn  dafür  gegeben,  die  zum  Teil  noch 
seltsamer  sind  als  der  Brauch  selbst.  An  sich  ist  es 
gar  nicht  so  ungeheuerlich,  daß  der  Übergang  der 
Braut  aus  der  Gewalt  des  Vaters  in  die  des  Mannes 
in  solcher  Weise  zum  Ausdruck  gebracht  wurde.  Man 
nimmt  aber  an,  daß  dieser  Frauenraub  den  Übergang 
von  der  Gemeinschaftsehe  in  die  Einzelehe  andeuten 
solle.    Gewiß,   das   läßt   sich  wohl  begründen,  denn 


—    391     — 

wo  die  Oemeinschaftsehe  einmal  bestand,  da  mußte 
der,  der  eine  Frau  für  sich  allein  haben  wollte,  sie  den 
anderen  Stammesgenossen  entziehen.  Das  wäre  schon 
so  eine  Art  Frauenraub  gewesen.  Aber  verfolgt  man 
die  Sache  genauer,  dann  erscheint  diese  Erklärung 
doch  außerordentlich  gesucht  und  gezwungen.  Abge- 
sehen davon,  daß  doch  durch  einige  Ausnahmen  nicht 
eine  derartige  Umwandlung  eines  bestehenden  Ge- 
brauches herbeigeführt  zu  werden  brauchte,  würde  es 
doch  außerordentlich  seltsam  erscheinen,  wenn  der 
Übergang  von  der  Gemeinschaftsehe  zur  Einzelehe, 
der  immer  nur  dadurch  erklärt  werden  kann,  daß  ein 
Volk  sich  von  einer  sehr  niedrigen  Kulturstufe  zu 
einer  höheren  erhebt,  trotzdem  immer  noch  durch  die 
Sitte  des  Frauenraubes  in  das  Gedächtnis  Aller  zurück- 
gerufen worden  sein  sollte. 

Da  scheint  mir,  wenn  es  denn  nun  einmal  über- 
haupt einer  Erklärung  bedarf,  die  viel  plausibler,  nach 
der  es  Sitte  war,  daß  zur  Auffrischung  des  Blutes  die 
Braut  stets  einem  fremden  Stamme  entnommen  sein 
mußte,  daß  aber  natürlich  ein  Volksstamm  sich  nicht 
ohne  weiteres  seiner  Weiber  resp.  Mädchen  berauben 
lassen  wollte,  und  daß  deshalb  der  Heiratslustige 
immer  auf  Frauenraub  ausgehen  mußte,  wenn  er  eine 
Gattin  haben  wollte.  So  habe  sich  die  Sitte  des 
Frauenraubes  ein  für  altemal  ausgebildet  und  man 
habe  sie  auch  beibehalten,  wo  sie  eigentlich  deplaziert 
war,  weil  bereits  die  ganzen  Verhandlungen  wegen  der 
Heirat  längst  abgeschlossen  und  selbst  der  Kaufpreis 
bezahlt  war.  Wie  gesagt,  mir  erscheint  dies  viel 
plausibler  als  die  vorhin  erwähnte  Erklärung,  weil 
diese   letztere   Annahme   in   der  Tat   Hand   und  Fuß 


—     392     — 

hätte.    Nun  sind  aber  die  „Erfinder"  dieser  Erklärung 
weit   über  das  Ziel   hinausgeflogen;  sie  meinen,   daß 
der  Raub   der  Sabinerinnen,  ja  selbst   die  Geschichte 
Trojas   auch   nichts   seien,    als   eine   Bestätigung   der 
alten  Sitte  des  Frauenraubes.    Ich  muß  gestehen,  daß 
ich  die  Kühnheit  einer  solchen  Annahme  bewundere, 
daß   ich  sie  freilich  auch  tief  bedauere,  weil  derartige 
geistige  Extravaganzen  die  wissenschaftliche  Forschung 
auf    das    Niveau    des    Waschweiberklatsches    herab- 
würdigen.     Wäre    der    Raub    der    Hellena    wirklich 
nichts  weiter  als  ein  allgemeiner  Brauch  gewesen,  dann 
würde    er    wohl    schwerlich   zu   einem   so   schweren 
Kriege  geführt  haben.     Der  Raub  der  Sabinerinnen  ist 
aber  ganz   zweifellos  etwas  anderes  gewesen.    Er  ist 
auch   in  anderer  Weise  durch  eine  besondere  List  in 
Szene  gesetzt  worden  und  war  diktiert  durch  die  Not- 
wendigkeit,  den  Erbauern  Roms  Weiber  zu  schaffen 
und   so  eine  momentane  Niederlassung  von  Männern 
durch   die  Möglichkeit,  Nachkommen  zu  schaffen,  zu 
einem  festen  Staatswesen  zu  machen,  womit  übrigens 
wieder  einmal  der  Beweis  geliefert  ist,  daß  die  Existenz 
des   Staatswesens  nur  in   der   Familie  wurzeln  kann. 
Man   soll  vor  allen  Dingen  aber  in  der  Wissenschaft 
nicht  mehr  beweisen   wollen,  als  beweisbar  ist,  und 
insbesondere  soll  man  die  Phantasie  nicht  Orgien  feiern 
lassen.    Jedenfalls  war  der  Frauenraub  sehr  weit  ver- 
breitet.   Daß  er  bei  Völkern  bestand,  die  nicht  durch 
irgendwelchen  Verkehr  diese  Sitte  eines  vom  andern 
abgesehen   haben   konnten,   macht  zwar  den   Brauch 
besonders  interessant,  weil  in  solchen  Fällen  stets  die 
Vermutung    vorliegt,    daß    er    völlig    instinktiv    ge- 
schaffen  worden   sei,   daß   ihm  also   doch   etwas  zu 


393     — 

Grunde  liegen  müsse,  was  ihn  geradezu  mit  zwingender 
Notwendigkeit  erzeugt  habe.  Das  lockt  zu  Forschungen, 
und  da  sich  für  diese  kaum  eine  sichere  Grundlage 
gewinnen  läßt,  zu  Vermutungen.  An  und  für  sich  ist 
es  wohl  instinktives  Empfinden,  daß  die  Ehe  ein  Schritt 
sei,  der  nicht  gut  so  sang-  und  klanglos  vollzogen 
werden  könne,  wie  die  Dinge  des  Alltagslebens.  Die 
Ehe  soll  stets  vor  allen  Dingen  von  Stammesgenossen 
respektiert  werden.  Sie  ist  in  der  Regel  die  Basis  der 
eigenen  Seßhaftmachung,  und  da  liegt  es  schon  bei- 
nahe im  Gefühl,  daß  dieses  Ereignis  mit  einem  großen 
Zeremoniell  verknüpft  sein  soll.  Es  ist  also  kein 
Zweifel,  daß  gerade  die  Besitznahme  der  Braut  den 
Kernpunkt  dieses  Zeremoniells  bilden  mußte,  der  Über- 
tritt der  Braut  aus  der  Gewalt  und  dem  Hauswesen 
des  Vaters  in  Gewalt  und  Heim  des  Mannes.  Das 
war  das  wesentliche  Moment,  das  die  Stammesgenossen 
interessierte  und  interessieren  mußte,  weil  es  ihnen 
selbstverständlich  nicht  gleichgiltig  sein  konnte,  ob  ein 
Mädchen  im  Hause  seines  Vaters  verblieb,  oder  ob  es 
plötzlich  mit  einem  fremden  Manne  zusammen  hauste. 
Mindestens  mußte  das  Recht  dieses  Beisammen- 
wohnens  stets  da  nachgewiesen  werden,  wo  der 
sexuelle  Verkehr  ohne  Ehe,  die  einfache  Unzucht  als 
Schande  und  als  Straftat  galten.  Nun  liebt  es  bekanntlich 
der  Mensch  schon  von  seiner  Kindheit  an,  kleine  oder 
größere  Komödien  zu  spielen;  aus  solchen  besteht, 
streng  genommen,  unser  ganzes  gesellschaftliches 
Leben,  das  Kleid  macht  den  Mann,  natürlich  auch  die 
Frau,  sagt  seit  alters  das  Sprichwort,  und  es  kommt 
auch  in  der  Tat  viel  weniger  auf  den  inneren  Kern 
des  Menschen  an,  als  auf  die  äußeren  Formen  seines 


—     394     — 

Auftretens,  seine  Allüren,  und  fast  möchte  man  sagen 
seine  Dressur.  Da  ist  es  denn  sehr  erklärlich  und 
begreiflich,  daß  bei  den  Orientalen,  die  ja  schon  in 
ihrer  Sprache  den  größten  Bilderreichtum  lieben,  gerade 
die  Übernahme  der  Braut  mit  einer  bilderreichen 
Komödie  verbunden  war,  die  allerdings  auch  gelegent- 
lich zur  Tragödie  wurde,  wenn  die  Spieler  ihre  Rollen 
gar  zu  realistisch  auffaßten,  oder  wenn  vielleicht  Neid, 
Eifersucht  und  Hass  gegen  den  Bräutigam  vorlagen, 
die  zu  befriedigen  die  Entführungskomökie  den  besten 
Anlaß  bot.  Vielleicht  hat  besonders  die  Möglichkeit,  einem 
mißgünstigen  und  unbeliebten  Bewerber  eins  auszu- 
wischen, viel  dazu  beigetragen,  einen  Brauch  zu  schaffen 
oder  zu  erhalten,  der  geradezu  ein  Privilegium  schuf, 
Rache  zu  nehmen  oder  die  rasende  Eifersucht  zu  be- 
friedigen. Ich  kann  es  nur  wiederholen,  was  ich 
früher  schon  gesagt  habe;  es  gibt  Menschen,  deren 
Liebesleidenschaft  nicht  so  rasend  den  Besitz  der 
Geliebten  begehrt,  wie  sie  bemüht  ist,  die  Geliebte 
wenigstens  keinem  Andern  zu  überlassen.  Wie  schön 
und  angenehm  muß  es  für  einen  solchen  Menschen 
gewesen  sein,  den  Nebenbuhler  beseitigen  und  ihm 
noch  in  zwölfter  Stunde  die  Braut  abjagen  zu  können. 
Der  Brauch  erscheint,  wenn  man  diesen  Gedanken 
weiter  spinnen  will,  geradezu  wie  eine  Art  Volks- 
gericht, bei  dem  die  ganzen  Stammesgenossen  ihr 
Verdikt  abgaben,  ob  der  von  dem  Vater  eines  Mäd- 
chens acceptierte  Bräutigam  auch  von  den  übrigen 
Männern  für  würdig  und  geeignet  gehalten  wurde, 
die  Braut  heimzuführen.  Hielt  man  ihn  nicht  dafür, 
nun  so  lauerte  der  Tod  aus  jedem  Versteck  auf  ihn, 
wenn  er  die  Braut  in  sein  Heim  holen,  sie  entführen 


—     395     — 

wollte.  Das  alles  scheint  mir  für  den  Frauenraub, 
der  in  Wirklichkeit  nicht  einmal  einer  war,  die  beste 
Erklärung  zu  bieten,  ganz  besonders  wenn  man  dazu 
noch  die  weiteren  Annahmen  treten  läßt,  daß  der 
Frauenraub  auch  zugleich  eine  Art  Meisterstück  sein 
sollte,  durch  das  der  Bräutigam  den  Beweis  lieferte, 
er  sei  gewandt,  kühn  und  erfahren  genug,  sich  die 
Frau  durch  tausend  Gefahren  zu  erwerben  und  sie 
als  sein  teuerstes  Eigentum  selbst  mit  Preisgabe 
seines  Lebens  zu  schützen.  Wer  in  der  Volksseele 
zu  lesen  weiß  und  sich  in  das  Denken  und  Empfinden 
fremder  Volksstämme  hineinzuversetzen  vermag,  der 
wird  diese  Erklärungen  jedenfalls  für  ausreichend  und 
auch  für  viel  natürlicher  halten  als  die  wulstigen  Hin- 
weise auf  ältere,  nicht  einmal  mit  Sicherheit  nachweis- 
bare Eheinstitutionen  usw.  usw.  Man  wird  durch 
derartige  Meditationen  in  der  Regel  nur  in  die  unan- 
genehme Lage  versetzt,  schließlich  vor  lauter  Bäumen 
den  Wald  nicht  mehr  sehen  zu  können,  und  das  ist 
stets,  besonders  für  die  objektive  Forschung,  der 
schlimmste  Fehler. 

Ich  wende  mich  nun  der  im  Orient  am  meisten 
vorkommenden  Polygamie  zu,  der  Vielweiberei,  die  auch 
schon  bei  den  alten  Juden  gebräuchlich  war  und  von 
Mohammed  weiter  ausgebildet,  oder,  wenn  man  will, 
auch  nur  organisiert  wurde.  Die  jüdische  Vielweiberei 
florierte  eigentlich  nur  bis  zur  Babylonischen  Gefangen- 
schaft, kam  dann  im  Volke  selbst  immer  weniger  vor 
und  hörte  schließlich  fast  völlig  auf.  Die  Ehe  war 
aber  keineswegs  ein  unzerreißbares  Band,  das  fürs 
ganze  Leben  eine  Fessel  gewesen  wäre,  sondern  dem 
Manne  war  die  weitestgehende   Möglichkeit  gegeben, 


—     3Q6     — 

eine  ihm  nicht  mehr  zusagende  Ehe  jederzeit  zu  lösen. 
Er  hatte  nichts  weiter  nötig,  als  daß  er  der  Frau  den 
Scheidebrief  schrieb  und  sie  dadurch  von  sich  stieß. 
Das  war  ihm  nur  in  Ausnahmefällen  verboten,  z.  B. 
in  dem  schon  früher  erwähnten  Falle,  daß  er  seine 
junge  Frau  beschuldigte,  er  habe  sie  nicht  als  Jungfrau 
befunden.  War  diese  Behauptung  unwahr,  so  wurde 
der  Mann,  wie  wir  gesehen  haben,  bestraft  und  mußte 
die  Frau  wieder  bei  sich  aufnehmen  und  durfte  sie 
für  das  ganze  Leben  nicht  von  sich  tun,  d.  h.  er 
konnte  ihr  keinen  Scheidebrief  schreiben.  Durch  die 
Möglichkeit,  die  Ehe  ohne  besondere  Gründe  zu  jeder 
Zeit  zu  lösen,  würde  selbst  eine  absolute  Monogamie 
leicht  in  eine  Art  Polygamie  haben  umgewandelt  werden 
können.  Der  Mann,  der  Lust  hatte,  eine  ganze  Anzahl 
von  Frauen  zu  heiraten,  hätte  dann  einfach  jeder  nach 
einer  bestimmten  Zeit  den  Scheidebrief  gegeben  und 
die  nächste  geheiratet.  Er  würde  allerdings  dieses  Ver- 
gnügen nur  nach  und  nach  haben  genießen  können, 
während  bei  der  wirklichen  Vielweiberei  der  Mann 
alle  seine  Frauen  zugleich  behalten  kann.  Die  Schei- 
dung aus  Laune  des  Mannes  ist  auch  wohl  das 
schlimmste  Kapitel  des  mosaischen  Eherechts  gewesen. 
Der  Scheidebrief  ist  deshalb  laut  Bibel  auch  von  Christus 
ausdrücklich  verworfen  und  geradezu  dem  Ehebruch 
gleich  geachtet  worden,  sofern  nämlich  die  Scheidung 
nicht  wegen  Untreue  der  Frau  erfolgte.  In  diesem 
Falle  wäre  sie  berechtigt  gewesen.  Den  Juden  waren 
nicht  allein  mehrere  Frauen  gestattet,  sondern  es  war 
ihnen  auch  erlaubt,  außer  den  Frauen  auch  deren 
Mägde  für  den  sexuellen  Verkehr  zu  benutzen.  Wir 
haben  bereits  gesehen,  daß  die  Frauen  dem  Manne  selbst 


—     397     — 

ihre  Mägde  zur  Verfügung  stellten,  damit  diese  an 
ihrer  Stelle  Kinder  liefern  sollten.  Es  war  für  die 
Frau  die  größte  Schande,  dem  Manne  keine  Kinder 
zu  bescheren.  Umgekehrt  war  es  natürlich  eine  Ehre, 
möglichst  viele  Kinder  zur  Welt  zu  bringen.  So 
mußten  die  Mägde  der  Ehre  der  Gebieterin  nachhelfen, 
ohne  durch  diese  ihnen  vorgeschriebene  Rolle  für  sich 
selbst  Ehre  oder  Schande  zu  erwerben. 

Aus  dieser  Ansicht  heraus  hat  sich  eine  der 
sonderbarsten  Ehebestimmungen  entwickelt,  die  sog. 
Leviratsehe.  Starb  ein  Ehemann,  ohne  ein  Kind  zu 
hinterlassen,  so  war  sein  Bruder  verpflichtet,  die 
Witwe  zu  sich  zu  nehmen,  daß  er  ihr  Nachkommen 
erwecke  und  ihr  einen  Namen  mache  in  Israel.  Es 
kam  da  nicht  auf  die  gegenseitige  Neigung  an,  auch 
die  Frau  fragte  nicht  etwa  danach,  ob  ihr  der  Schwager 
gefiel;  sie  verlangte  lediglich  von  ihm  solange  die 
Begattung,  bis  sie  ihre  Ehre  gerettet,  d.  h.  einem  Kinde 
Kinde  das  Leben  gegeben  hatte.  Dies  war  der  Zweck 
der  Leviratsehe.  Es  scheint  nun  allerdings,  daß  nicht 
nur  der  Schwager,  sondern  auch  der  Schwiegervater 
der  kinderlosen  Witwe  verpflichtet  wurde,  ihr  Nach- 
kommen zu  erwecken.  Das  wäre  wohl  auch  durchaus 
logisch  gewesen,  wenn  es  sich  darum  handelte,  Schimpf 
und  Schande  von  der  Frau  abzuwenden,  wenigstens 
fehlt  es  nicht  an  Beispielen,  in  denen  diese  Verpflich- 
tung erzwungen  oder  auch  durch  List  herbeigeführt 
wurde.  Andrerseits  scheinen  die  Schwäger,  obwohl 
die  Israeliten  gewiß  sehr  erregbar  und  durchaus  keine 
Gelegenheitsverächter  waren,  von  dieser  Pflicht  oft 
nicht  sehr  erbaut  gewesen  zu  sein.  Es  gab  sogar 
ein  gesetzliches  Mittel,  die  widerspenstigen  Schwäger 


—    398     — 

zu  ihrer  Pflicht  anzuhalten.  Wurde  die  Witwe  ver- 
schmäht, so  konnte  sie  den  Schwager  vor  das  Gericht 
zitieren  und  dort  ihre  Klage  über  seine  böswillige 
Enthaltsamkeit  vorbringen.  Half  das  nichts,  so  konnte 
man  der  Natur  der  Sache  nach  den  sich  weigernden 
Mann  zwar  nicht  zwingen,  doch  die  Witwe  zu  „er- 
kennen"; aber  diese  durfte,  wenn  ihre  Klage  erfolglos 
blieb,  ungestraft  den  Schwager  beschimpfen  und  ihn 
mit  dem  Pantoffel  züchtigen.  Er  hieß  dann  für  alle 
Zeiten  Barfüßer,  und  jedenfalls  verlor  er  gewaltig  an 
Achtung.  Wer  den  Schaden  hat,  der  brauchte  auch 
im  alten  Israel  nicht  für  den  Spott  zu  sorgen;  es  kam 
wohl  immer  darauf  an,  ob  die  Witwe  schön  oder 
besonders  abstoßend  war.  Im  ersteren  Falle  dürften 
sich  die  Herren  Schwäger  wohl  ohnehin  nur  selten 
geweigert  haben,  eine  Pflicht  zu  erfüllen,  die  doch 
eigentlich  eine  Wohltat  darstellte,  nach  der  sonst  in 
wilder  Begierde  die  Männer  seufzen,  und  die  zu  stillen, 
sie  oft  genug  selbst  vor  einem  Verbrechen  nicht  zurück- 
schrecken. Im  zweiten  Falle,  d.  h.  wenn  die  Witwe 
alt,  häßlich  und  unliebenswürdig  war,  da  wird  man 
es  den  Schwägern  wohl  trotz  der  Zurechtweisung  an 
der  Stätte  des  Gerichts  nicht  verargt  haben,  daß  sie 
eine  stolze  und  kühle  Zurückhaltung  an  den  Tag 
legten. 

Ich  finde  die  Anschauung,  daß  es  eine  schwere 
Schande  für  die  Frau  sei,  keine  Kinder  zur  Welt  zu 
bringen,  fast  bei  allen  Völkern  des  Altertums.  Bei 
den  Persern,  die  vielleicht  am  frühesten  die  Monogamie 
einführten,  war  die  Kinderlosigkeit  der  Frau  der  einzige 
Grund,  der  den  Mann  berechtigte,  außer  der  einen 
Frau  noch  eine  zweite  zu  nehmen.    Es  war  dies  aber 


—    3Q9    — 

nur  mit  der  Einwilligung  der  ersten  Frau  gestattet. 
Das  hat  sicher  einen  andern  Grund  gehabt  als  lediglich 
die  galante  Rücksicht  auf  das  zarte  Geschlecht.  Bleibt 
eine  Ehe  kinderlos,  so  ist  noch  lange  nicht  ohne 
weiteres  festgestellt,  daß  dies  auf  einen  Fehler  der 
Frau  zurückgeführt  werden  müsse.  Es  kann  doch  auch 
der  Mann  die  Kinderlosigkeit  verschulden,  und  wenn 
die  Frau  bei  den  Persern  um  ihre  Einwilligung  gefragt 
werden  mußte,  ehe  der  Mann  eine  zweite  Frau  nehmen 
durfte,  so  wird  es  sich  wohl  lediglich  darum  gehandelt 
haben,  ob  etwa  den  Mann  selbst  die  Schuld  an  der 
Kinderlosigkeit  traf.  Ich  finde  aber  das  Recht  des 
Mannes  auf  Kinder  fast  bei  allen  Ehen  des  Altertums, 
ebenso  die  Ansicht,  daß  es  für  die  Frau  eine  Schande 
sei,  dieses  Recht  des  Mannes  nicht  erfüllen  zu  können; 
ich  finde  aber  nur  bei  den  Israeliten  die  Leviratsehe. 
Die  übrigen  Völker  halfen  sich  anders. 

Die  Frau  war  in  der  Regel  überhaupt  nicht  ver- 
plantet, zu  warten  bis  der  Mann  gestorben  war,  son- 
dern sie  konnte  bei  vielen  Völkern,  falls  ihr  Mann  ihr 
keine  Kinder  zu  erwecken  vermochte,  schon  bei  Leb- 
zeiten verlangen,  daß  die  Schande  von  ihr  genommen 
würde,  d.  h.  sie  durfte,  ohne  daß  dies  als  ein  Ehe- 
bruch angesehen  worden  wäre,  mit  Zustimmung  des 
Mannes,  die  übrigens  nicht  verweigert  werden  konnte, 
also  notwendig  war,  damit  die  Frau  nicht  als  Ehe- 
brecherin behandelt  werden  konnte,  die  Hilfe  eines 
anderen  Mannes  in  Anspruch  nehmen.  Besonders 
interessant  nach  dieser  Richtung  hin  ist  die  alte 
Spartanische  Ehe.  Die  Spartaner  lebten  ebenso  wie 
die  Griechen  und  Römer  in  Einzelehe,  und  nur  bei 
dieser  ist  überhaupt  an  die  Ehehelferschaft  eines  Dritten 


—     400     — 

zu  denken.  Die  Frau  nahm  keine  hohe  Stellung  ein, 
sie  hatte  hauptsächlich  den  Zweck,  Nachkommen  zur 
Welt  zu  bringen.  Waren  die  Spartaner  im  Kriege, 
so  stand  es  den  Frauen  vollkommen  frei,  sich  mit 
andern  Männern  nach  Belieben  abzugeben.  Sie  be- 
gingen damit  keinen  Ehebruch,  obwohl  nach  unserer 
Auffassung  in  diesem  Verhalten  zweifellos  ein  Ehe- 
bruch gesehen  werden  müßte.  Besonders  stattliche 
und  schöne  junge  Männer  durften  die  Weiber  der  im 
Felde  abwesenden  Männer  lieben  und  begatten,  so 
viel  sie  wollten,  ja  es  tat  den  Frauen  absolut  keinen 
Abbruch  an  ihrer  Ehre,  wenn  sie  Kinder  zur  Welt 
brachten,  deren  Vater  ein  anderer  als  ihr  Gatte  war. 
Da  nun  aber  der  Mann  nicht  gezwungen  werden 
konnte,  fremde  Kinder  zu  ernähren  und  zu  erziehen, 
half  man  sich  dadurch,  daß  man  diese  Kinder  auf 
Staatskosten  erziehen  ließ,  weil  sie  doch  dem  Staate 
zu  gute  kamen,  wenn  sie  stark  und  gesund  waren, 
andernfalls  wurden  sie  ohnehin  ums  Leben  gebracht. 
Nach  der  am  meisten  verbreiteten  Ansicht,  ist 
diese  Art  der  Ersatzehe  übrigens  keineswegs  in 
Sparta  eine  allgemein  gültige  Regel  gewesen,  sondern 
es  soll  nur  während  des  ersten  Messenischen  Krieges 
also  fast  750  Jahre  v.  Chr.  in  dieser  Weise  für  Nach- 
kommen gesorgt  worden  sein.  Der  Krieg  hielt  aller- 
dings die  Spartaner  ca.  20  Jahre  von  der  Heimat  fern, 
und  während  der  Abwesenheit  der  Männer  sollen  die 
spartanischen  Frauen  geradezu  feste  Ehen  mit  den 
Achäern  geschlossen  haben,  die  sogar  die  Billigung 
der  Könige  fanden,  nicht  aber  die  Zubilligung  der 
Spartaner  selbst,  als  diese  endlich  in  die  Heimat 
zurückkehrten.      Sie    sollen    vielmehr    die    Ehen    der 


—    401     — 

Achäer  nicht  anerkannt,  sondern  nur  ihre  eigenen 
Ehen  für  rechtsgültig  erklärt  haben.  Es  kam  deshalb 
sogar  zu  erbitterten  Kämpfen,  die  für  die  Spartaner 
ungünstig  ausfielen.  Die  Bezeichnung  Parthenier,  was 
etwa  soviel  heißt  wie  uneheliches  Kind  oder  Bastard, 
soll  diese  Kinder,  die  allerdings  keine  Kinder  mehr 
waren,  besonders  empört  haben,  bis  schließlich  durch 
Verträge  die  Parthenier  sich  zur  Auswanderung  bereit 
erklärten. 

Es  mag  sein,  daß  der  schier  endlose  Krieg  zum 
ersten  Male  dieses  mehr  als  eigenartige  spartanische 
Eheverhältnis  gezeitigt  hat.  Damit  ist  aber  keineswegs 
gesagt,  daß  wirklich  nur  ein  einmaliger  Fall  einer 
derartigen  Doppelehe  möglich  gewesen  wäre.  Und 
wenn  man  schon  annehmen  wollte,  daß  in  der  Tat 
die  spartanischen  Frauen  niemals  wieder  eine  neue 
Ehe  geschlossen  hätten,  während  die  mit  ihren  ab- 
wesenden Ehemännern  noch  bestand,  so  würde  auch 
damit  noch  nicht  bewiesen  sein,  daß  die  spartanischen 
Frauen  sich  nicht  mit  anderen  Männern  abgegeben 
hätten,  oder  daß  dies  ihnen  nicht  doch  hätte  erlaubt 
sein  können.  Schon  die  Tatsache,  daß  die  Spartaner 
nach  dem  Messenischen  Kriege  nur  die  neuen  Ehen 
ihrer  Gattinen  für  nichtig  und  die  Nachkommen  für 
Parthenier,  also  Bastarde  statt  für  eheliche  Kinner  er- 
klärten, und  daß  sie  einfach  wieder  in  ihre  alten  Rechte 
eintraten,  zeigt  klar  und  deutlich,  wie  wenig  die  An- 
nahme, die  Ehe  sei  ihnen  als  etwas  Heiliges  und  Un- 
verletzliches erschienen,  gerechtfertigt  ist.  Galt  aber 
die  spartanische  Ehe  noch  nicht  einmal  dadurch,  daß 
die  Frau  während  der  Abwesenheit  ihres  Ehemannes 
sich   zum   zweiten   Male   mit   einem    anderen   Manne 

26 


—    402     — 

in  aller  Form  verheiratet  hatte,  daß  diese  zweite  Ehe, 
während  doch  die  erste  nicht  gelöst  war,  Jahre  lang 
bestanden  hatte  und  mit  Nachkommen  gesegnet  war, 
für  gebrochen  und  gelöst,  nun,  woraus  in  aller  Welt 
will  man  sich  zu  dem  Schlüsse  berechtigt  fühlen,  daß 
eine  bloße  körperliche  Hingabe  der  Frau  an  einen 
anderen  Mann  unter  allen  Umständen  hätte  drastischer 
aufgefaßt  werden  müssen?  Ich  sage  ausdrücklich  unter 
allen  Umständen,  denn  wenn  auch  im  Laufe  der  alltäg- 
lichen Verhältnisse  eine  solche  Hingabe  ohne  weiteres 
ein  Ehebruch  gewesen  sein  würde,  so  brauchte  dies 
doch  nicht  unbedingt  der  Fall  zu  sein.  Die  lange 
Abwesenheit  des  Mannes  war  ja  eben  der  Grund,  aus 
dem  ein  Ausnahmerecht  eingeräumt  wurde.  Nun  war 
aber  auch  nicht  einmal  die  Abwesenheit  des  Mannes 
Voraussetzung  dafür,  daß  der  sexuelle  Verkehr  der 
der  Frau  mit  einem  fremden  Manne  gestattet  war. 
Es  war  vielmehr  durchaus  keine  Seltenheit,  daß  Ehe- 
männer ihre  Frauen  zum  Zwecke  der  Kinderzeugung 
gegenseitig  austauschten,  oder  daß  ein  Mann  seine 
Frau  einem  Andern  überließ,  damit  er  sie  begatten 
sollte.  Das  ist  ein  Rechtsstandpunkt,  den  wir  übrigens 
auch  in  unsern  alten  deutschen  Bauernrechten  finden; 
auch  da  war  der  Mann  im  Falle  einer  Impotenz  nicht 
bloß  berechtigt,  sondern  auch  verpflichtet,  seine  Frau 
den  Nachbarn  auszuleihen  und,  falls  diese  ihm  resp. 
seiner  Frau  nicht  gefällig  sein  konnten  oder  wollten, 
sie  auf  die  nächste  Kirmeß  zu  schicken,  damit  sie  sich 
dort  einem  anderen,  beliebigen  Manne  hingeben  konnte. 
Nur  wenn  alle  diese  Aushilfen  nichts  fruchteten,  konnte 
der  impotente  Mann  nicht  veranlaßt  werden,  sich  noch 


—     403     — 

weiter  dafür  zu  bemühen,  daß  seine  Frau  zur  Empfängnis 
gelangte. 

Voraussetzung  war  eben  immer  die  Einwilligung 
des  Ehemanns,  mochte  diese,  wie  beim  Austausch  der 
Frauen,  ausdrücklich  oder,  wie  im  Falle  der  längeren 
Abwesenheit  des  Mannes  stillschweigend  erteilt  wor- 
den oder  als  stillschweigend  erteilt  vorausgesetzt  werden 
können.  Ich  habe  schon  gesagt,  daß  es  sich  bei 
diesem  Verhältnis  nicht  etwa  bloß  darum  handelte, 
daß  die  Frau  auf  alle  Fälle  Gelegenheit  finden  sollte, 
ihre  sexuellen  Begierden  zu  stillen,  sondern  es  war 
in  erster  Linie  darauf  abgesehen,  dem  Staate  zu  nützen, 
denn  der  Staat  brauchte  reichlichen  und  kräftigen 
Nachwuchs  und  würde  in  seinen  vitalsten  Interessen 
geschädigt  worden  sein,  wenn  auch  in  Fällen,  in  denen 
der  Ehemann  verhindert  worden  war,  selbst  für  Nach- 
kommen zu  sorgen,  die  an  sich  durch  das  Vorhanden- 
sein kräftiger  und  gesunder  Frauen  mögliche  Geburts- 
^iffer  willkürlich  herabgesetzt  hätte.  Es  ist  das  eine 
Fürsorge  für  den  Staat,  die  man  wohl  als  eine  außer- 
ordentlich weitgehende  bezeichnen  darf.  Jedenfalls 
wird  man  heutigen  Tages  für  eine  derartige  patrio- 
tische Selbtverleugnung  erfreulicherweise  kein  Ver- 
ständnis mehr  besitzen. 

Ganz  konform  dieser  Pflicht  des  Gatten,  zum 
Wohle  des  Staates  die  Gefühle  seines  Herzens  zu  ver- 
leugnen, war  eine  weitere  Fürsorge  zur  Erzielung 
möglichst  zahlreicher  Nachkommen.  Es  war  in  Sparta, 
zeitweilig  auch  im  alten  Rom,  gesetzliche  Pflicht,  sich 
zu  verheiraten.  Wer  diese  Pflicht  nicht  erfüllte,  machte 
sich  strafbar,  denn  er  schädigte  den  Staat;  es  war  also 
mindestens  so,  als  wollte  bei  uns  jemand  den  Staat 

26' 


—     404     — 

nicht  unterstützen,  dadurch,  daß  er  eine  zur  Erhaltung 
des  Staates  erforderliche  Pflicht  nicht  erfüllte,  also 
etwa  die  Pflicht,  Steuern  zu  bezahlen.  Strafbar  war 
auch,  wer  diese  Heiratspflicht  zu  spät  erfüllte.  Auch 
bei  uns  ist  ja  wiederholt  ein  ähnlicher  Gedanke  durch 
den  Vorschlag  einer  Junggesellensteuer  angeregt  worden.. 
Den  Jungfrauen  war  es  auf  keinen  Fall  gestattet,  sich 
der  Heiratspflicht  zu  entziehen.  Sie  wurden  in  Sparta 
schon  durch  eine  besonders  ausgiebige  Körperpflege 
für  den  Mutterberuf  vorbereitet,  und  da  sie  unter 
väterlicher  Gewalt  standen,  wären  sie  auch  nicht  in 
der  Lage  gewesen,  eine  Heirat,  zu  der  sie  bestimmt 
wurden,  abzulehnen. 

Nach  Gellius  und  Schottelius  hat  man  sich  zu 
helfen  gewußt,  wenn  Mädchen,  wie  dies  wohl  vorkam, 
gelegentlich  eine  unüberwindliche  Ehescheu  besaßen. 
Ich  will  in  der  Sprache  alter  Schriftsteller  ein  recht 
interessantes  Beispiel  hierfür  folgen  lassen:  „Denen 
Milesischen  Jungfern  ist  auf  eine  Zeit  eine  wunder- 
bare Sterbenslust  aus  Begier  der  Hagestolzschafft  an- 
kommen. Weil  sie  gehöret,  wie  das  Menschliche 
Leben,  und  sonderlich  der  Ehestand  vielen  Trübsalen 
unterworffen,  und  die  Frauen  denen  Männern  gehor- 
sam, und  ihre  Freyheit  also  verlustig  seyn  müßten. 
Deshalber  diese  thörichte  Jungfern  in  der  gantzen 
Stadt  sich  zusammen  verbunden,  Hagestoltzinnen  zu. 
werden,  nicht  zu  heyrathen,  Ihre  Freyheit  also  zu 
behalten,  und  lieber  zu  sterben,  als  Hochzeit  zu  halten. 
Wie  dann  auch  erfolget,  daß  diese  Weibesbilder  eine 
nach  der  anderen,  wann  sie  haben  heyrathen  sollen, 
sich  selbst  erhenckt.  Weil  dann  solch  Hencker  Hand- 
werck  und  Selbstmord  überhand  genommen,  und  diese. 


—    405    — 

alberne  wühlende  Todessucht  durch  kein  Mittel  zu 
verhindern,  noch  die  zarten  Gemüther  der  Jungfrau 
abwendig  davor  zu  machen,  keine  zu  Oemüthführung 
genugsam  gewesen;  so  hat  die  Obrigkeit  sich  endlich 
eines  andern  entschlossen,  und  die  sich  also  erhengte 
Jungfrau  nackend  ausziehen,  an  ihr  Würge-Strick  mit 
einem  Fuß  sie  anbinden,  und  also  Mutter  nackt  mit 
Spott  und  Schande  durch  die  Straßen  öffentlich 
schleppen,  und  schändlich  hernach  jedermann  zum 
offenbahren  Abscheu  hinwerffen  lassen.  Wie  diese 
die  übrigen  nach  Hagestolt  gierige  Mädgen  gesehen, 
ist  ihnen  die  Hangeiust  vergangen,  und  haben  sich 
zum  Braut  werden  bequemet." 

Das  war  allerdings  auch  ein  Mittel,  drastisch 
genug,  um  einen  starken  Erfolg  garantieren  zu  können. 
Es  ist  allerdings  ein  oft  gehörter  Ausspruch,  daß  es 
doch  wahrlich  völlig  gleichgiltig  sein,  was  einem 
Menschen  nach  dem  Tode  geschehe,  denn  der  Tod 
lösche  alle  Bande  des  Lebens,  und  was  man  nach 
dem  Tode  „erleide",  das  tue  weder  wehe,  noch  könne 
es  auf  die  Entschließungen  eines  Lebenden  von  Ein- 
fluß sein.  Wer  aber  so  spricht,  der  redet  ohne  Über- 
legung und  Verständnis.  Wenn  man  sich  die  Sache 
genauer  überlegt,  dann  wird  man  wohl  zu  der  Ansicht 
gelangen  müssen,  daß  eine  so  unerhörte  Schändung, 
wie  sie  den  ehescheuen  Jungfrauen  nach  ihrem  Tode 
widerfuhr,  weit  schändlicher  und  abschreckender  wirkt 
als  eine  Strafe,  die  der  lebenden  Person  zugefügt 
worden  wäre.  Daß  die  jungen  Damen  den  Tod  der 
Ehe  vorzogen,  weil  sie  die  Ehe  für  eine  unwürdige 
Sklaverei  hielten,  das  klingt  schon  fast  hypermodern, 
war  allerdings  damals  weit  berechtigter,  als  es  heute 


—     406     — 

dieselbe  Klage  ist.  Nun  muß  es  den  Milesischerr 
Jungfrauen  allerdings  auch  viel  bitterer  Ernst  mit  ihrer 
Ehescheu  gewesen  sein,  als  den  Anhängerinnen  der 
modernen  Frauenbewegung,  denn  sie  gingen  ja  wirk- 
lich mit  solcher  Konsequenz  in  den  Tod,  daß  es  der 
Obrigkeit  wohl  angst  und  bange  werden  konnte,  da 
sie  schließlich  aus  Mangel  an  Nachkommenschaft  das 
stolze  Staatsgebäude  elend  in  Trümmer  sinken  sehen 
mußte.  Den  Tod  haben  die  Jungfrauen  nicht  gescheut, 
daß  sie  scheuten,  was  ihnen  nach  dem  Tode  zugefügt 
wurde,  das  gereicht  ihnen  zur  Ehre,  denn  Ehre  hätten 
sie  keine  besitzen  können,  wenn  es  ihnen  gleichgiltig 
gewesen  wäre,  ob  ihre  Leichname  nackt  zur  Schau 
gestellt  und  geschändet  wurden.  So  hat  sich  dann 
schließlich  die  Milesische  Frauenbewegung  in  ein 
Nichts  aufgelöst,  die  Ehescheu  verschwand,  und  die 
Natur  trat  wieder  in  ihre  Rechte.  Daß  der  Staat,  der 
den  Ehezwang  vorschrieb  und  vorschreiben  mußte, 
weil  er  zu  seiner  Erhaltung  notwendig  war,  sich  auch 
durch  die  Selbstmorde  kein  Schnippchen  schlagen  ließ, 
beweist,  wie  bitter  ernst  die  brave  Obrigkeit  für  das 
Wohl  des  Staates  besorgt  war.  Das  läßt  denn  schon 
eher  die  Eigenart  des  spartanischen  Eherechts  ver- 
stehen. Jedenfalls  gehört  die  spartanische  Ehe  wohl 
zu  den  interessantesten  des  orientalischen  Altertums. 
Ich  habe  eben  gesagt,  die  Milesischen  Jungfrauen 
hatten  viel  eher  ein  Recht,  die  Ehe  eine  unwürdige 
Sklaverei  zu  nennen  als  unsere  heutige  Frauenwelt, 
wohl  verstanden,  unsere  Frauenwelt,  die  sich  in  der- 
artigen Raisonnements  gefällt.  Daß  es  sehr  wohl 
auch  bei  uns  Ehen  gibt,  leider  sehr,  sehr  viele,  die 
ein   wahres   Martyrium   der  Frau  darstellen,  das   will 


—    407     — 

ich  gewiß  nicht  bestreiten.  Wo  der  Mann  ein  Trunken- 
bold ist,  der  sein  Vergnügen  außerhalb  des  Hauses 
sucht,  Frau  und  Kinder  hungern  läßt,  und  oft  noch 
die  sauer  verdienten  Groschen  der  rastlos  arbeitenden 
Frau  durch  die  Gurgel  jagt  oder  gar  sie  auf  dem 
Altar  der  verbotenen,  ehebrecherischen  Liebe  opfert, 
während  er  die  Familie  brutal  mißhandelt,  da  von  einer 
unwürdigen  Sklaverei  zu  sprechen,  das  ist  noch  ein 
zu  milder  Ausdruck.  Aber  das  Bedenkliche  ist,  daß 
Frauen,  die  sich  in  einem  solchen  Lose  durchs  qual- 
volle Leben  ringen,  in  der  modernen  Frauenbewegung 
keine  Rede  halten,  den  Zeitungen  keine  Artikel  zu- 
senden, sondern  ihr  Schicksal  still  und  verborgen 
tragen  mit  einem  Heroismus,  der  das  Heldentum 
gefeierter  Helden  weit  übertrifft. 

Nicht  so  in  orientalischen  Ehen.  Ich  will  nicht 
auf  alle  Ehen  aller  Völker  eingehen,  sondern  möchte 
nur  die  Hinduehe,  wie  sie  jetzt  noch  besteht,  schildern. 
Sie  ist  ein  Typ  für  den  Orient;  ich  möchte  sagen, 
eine  Art  mittlerer  Qualität,  denn  es  gibt  schlimmere 
und  bessere  Ehen;  es  kommt  da  auf  ein  wenig  mehr 
oder  weniger  kaum  an.  Es  ist  aber  die  Hinduehe 
auch  deshalb  ein  Typ  der  orientalischen  Ehe,  weil  sie 
ebenfalls  mit  großartigen  Festlichkeiten  gefeiert  wird, 
die  fast  wie  ein  Hohn  auf  die  erbärmliche  Stellung 
der  Frau  aussehen  und  gleichsam  nur  dazu  dazusein 
scheinen,  um  der  Frau  wenigstens  an  einem  einzigen 
Tage  ihres  Lebens  zu  zeigen,  wie  Lust  und  Freude 
aussehen;  sie  einmal  erkennen  zu  lassen,  was  das 
Leben  zu  bieten  vermag,  und  welche  Freuden  und 
Vergnügungen  ihr  alle  —  nicht  beschieden  sind,  mag 
sie  auch  noch  so  lange  leben.    Und  wie  nur  ein  Tag 


—    408     — 

des  Glanzes  und  des  Glückes  im  Leben  der  Hindu- 
frau existiert  —  ich  spreche  natürlich  von  der  Norm, 
nicht  von  den  Ausnahmen,  die  ja  stets  eintreten 
können,  wenn  der  Mann  trotz  aller  Vorurteile,  doch 
mit  seiner  Frau  anders  lebt  und  verkehrt,  als  dies  das 
Gewohnheitsrecht,  das  eigentlich  unerbittlich  ist,  sie 
mit  sich  bringt  — ,  so  ist  auch  der  Hochzeitstag  sehr 
oft  der  einzige  für  den  Hindu,  an  dem  er  sich  die 
Entfaltung  von  Pracht  und  Pomp  gestatten  kann.  Es 
ist  sogar  in  der  Regel  richtiger,  zu  sagen,  daß  er  sich 
diesen  Pomp  eigentlich  auch  an  diesem  Tage  nicht 
gestatten  kann,  er  tut  es  aber,  weil  es  die  Sitte  nun 
einmal  so  will,  wenn  auch  die  Schulden  oft  für  das 
ganze  Leben  die  treuesten  Genossen  des  Ehepaares 
bleiben. 

Der  Hochzeitstag  ist  eigentlich  ein  Ziehungstag 
in  der  großen  Lotterie  des  Lebens;  er  ist  der  Tag,  an 
dem  die  beiden  Menschen,  die  das  Schicksal  oder 
richtiger  der  Wille  der  beiderseitigen  Väter  bestimmt 
hat,  sich  das  Leben  hindurch  anzugehören,  zum  ersten 
Male  zu  sehen  bekommen.  Beide  haben  bis  zu  der 
Stunde  ihrer  „Offenbarung"  keine  Ahnung,  ob  der 
Gatte,  die  Gattin  dem,  was  sie  erhofft  und  gewünscht 
haben,  wenigstens  äußerlich  entspricht.  Wenn  diese 
Offenbarung  erfolgt,  dann  ist  es  freilich  zu  spät,  das 
Verhängnis  zu  beschwören,  denn  die  Ehe  wird  dann 
auf  alle  Fälle  eine  Ehe,  und  die  Gatten  müssen  ein- 
ander behalten,  wie  bei  der  Lotterie  jeder  Spieler  mit 
dem  zufrieden  sein  muß,  was  ihm  die  launische  For- 
tuna in  den  Schoß  wirft  oder  auch  nicht  wirft.  Auf 
die  Frau  würde  es  ja  ohnehin  nicht  ankommen,  und 
wenn  sie  den  leibhaftigen  Teufel  in  ihrem  Gatten  er- 


—    409    — 

kennen  würde,  sie  müßte  ihn  nicht  allein  geduldig 
hinnehmen,  sondern  das  Gesetz  Manus  schreibt  ihr 
auch  vor,  ihn  anzubeten  wie  einen  Gott.  Er  ist  ihr 
Ein  und  Alles.  Nicht  in  dem  Sinne,  in  dem  bei  uns 
diese  Wendung  gebraucht  wird,  wenn  man  damit 
sagen  will,  daß  eine  Frau,  nicht  nach  dem  Gesetze 
Manus,  sondern  nach  dem  Gebote  ihres  Herzens,  in 
ihrem  Manne,  dem  sie  aus  Liebe  ihr  Schicksal  in  die 
Hand  gelegt  hat,  ihr  höchstes  Ideal  ist,  sondern  weil 
sie  den  Mann,  der  ihr  bestimmt  ist,  eben  anzubeten 
hat.  Das  Weib  ist  ein  Nichts,  ja  noch  viel  schlimmer 
als  ein  Nichts.  Das  Weib  ist  die  Ursache  aller  Leiden, 
die  Ursache  der  Kriege,  die  Ursache  alles  Unglücks, 
wie  es  die  Ursache  des  menschlichen  Daseins  ist, 
und  das  menschliche  Dasein  ist  ja  an  sich  eigentlich 
schon  ein  Unglück.  Das  Weib  ist  auch  unrein  und 
muß  ständig  bemüht  sein,  diese  Unreinheit  durch 
mindestens  dreimalige  tägliche  Waschungen  soweit 
zu  beseitigen,  daß  es  nicht  alles,  was  es  berührt,  eben- 
falls unrein  mache.  Der  Mann  aber  ist  der  Abglanz 
der  höchsten  Herrlichkeit,  die  durch  nichts  beein- 
trächtigt wird.  Seine  göttliche  Eigenschaft  geht  auch 
durch  ein  gemeines  und  niederträchtiges  Leben  nicht 
verloren.  Selbst  wenn  mit  Hilfe  von  Mikroskopen  und 
Röntgenstrahlen  der  scharfsichtigste  Forscher  an  ihm 
nicht  die  Spur  einer  guten  Eigenschaft  zu  entdecken 
vermöchte,  selbst  wenn  der  Mann  ein  Liederjahn  wäre, 
der  seine  Frau  schlecht  behandelte,  der  außerhalb  des 
Hauses  die  Freuden  suchte,  die  nur  bei  der  Frau  zu 
suchen,  er  ihr  feierlichst  versprochen  hatte,  so  würde 
das  alles  kein  Grund  sein,  der  die  Frau  davon  befreien 
könnte,  in  dem  Manne  eine  Art  Gott  anzubeten. 


—     410     — 

Bildung  macht  frei,  sagt  man  nicht  mit  Unrecht. 
Macht  aber  nur  die  Bildung  frei,  dann  sorgt  man  in 
Indien  dafür,  daß  die  Frau  niemals  frei  werden  kann, 
denn  von  einer  Bildung  ist  nicht  die  Rede;  man  hält 
es  für  gefährlich,  sie  an  der  Weisheit  Quellen  einen 
erfrischenden  Trunk  tun  zu  lassen.  Wie  die  Verhält- 
nisse nun  einmal  liegen,  kann  man  wohl  sagen,  die 
absolute  Unwissenheit  und  Indolenz  der  indischen 
Frau  ist  deren  größtes  Glück.  Das  Los,  das  ihr 
beschieden  ist,  wird  durch  den  völligen  Mangel  einer 
geistigen  Ausbildung  nicht  so  drückend  empfunden, 
die  Last  wird  leichter,  da  der  Frau  die  geistige  Er- 
kenntnis fehlt,  daß  ihre  Lage  so  unwürdig  und  so 
schmachvoll  ist.  Die  Frau  kennt  eben  nichts  anderes, 
und  woher  wollte  sie  auf  den  Gedanken  kommen, 
daß  eine  Frau  die  gleichberechtigte  Genossin  ihres 
Mannes  sein  müsse?  Schon  die  früheste  Kindheit  lehrt 
das  Weib,  eine  derartige  Prätension  zu  unterdrücken. 
In  der  Geburtsstunde  des  Mädchens  beginnt  deren 
Unterdrückung,  denn  die  Geburt  eines  Mädchens  gilt 
keineswegs  als  ein  freudiges  Ereignis,  im  Gegenteil, 
dieses  Ereignis  wird  mit  Klagen  und  Jammern  ver- 
kündet, und  der  Vater  ist  kein  glücklicher  Vater  und 
gibt  sich  auch  nicht  die  Mühe,  als  solcher  zu  erscheinen. 
Er  würde  sich  etwas  an  seinem  Ansehen  und  an  seiner 
Würde  vergeben,  wollte  er  das  Kind,  das  „bloß  ein 
Mädchen"  ist,  überhaupt  einer  Beachtung  würdigen. 
Mißachtet  schon  von  der  Stunde  der  Geburt  an,  wächst 
das  Mädchen  heran  im  geistigen  Dunkel,  das  nicht 
erhellt  werden  darf,  da  ein  Weib  unterrichten  dasselbe 
sein  würde,  als  eine  giftige  Schlange  mit  Milch  groß 
zu  ziehen.    Der  Indier  hat  tatsächlich  ein  Sprichwort, 


—    411     — 

das  dies  besagt.  Nur  eins  lernt  das  Hindumädchen: 
die  Verehrung  des  Mannes.  Auf  dieser  wird  ihr  ganzes 
Leben  zugeschnitten.  Das  einzige,  was  das  Kind  lernt, 
ist,  daß  es  für  den  Mann  bestimmt  sei,  und  daß  es  die 
Gottheit  um  einen  gnädigen  Herrn  anzuflehen  habe. 
Es  ist  eine  dumpfe  Atmosphäre,  aus  der  die  indische 
Frau  hervorgeht.  Lehrt  man  übrigens  das  Kind  in 
einem  Alter,  in  dem  es  noch  kaum  die  Kunst  des 
Sprechens  erlernt  hat,  seine  Gedanken  auf  die  zukünftige 
Ehe  zu  richten,  so  ist  dies  berechtigt,  da  schon  im 
zartesten  Alter  des  Mädchens  dessen  Ehe  vereinbart 
wird,  ja  es  gibt  Ehefrauen,  die  nach  unseren  Begriffen 
kaum  schulpflichtig  sind.  Wo  soll  da  der  indischen 
Frau  herkommen,  daß  ihre  Stellung  unwürdig  sei? 
Sie  kennt  es  eben  nicht  anders,  und  mag  ihres  Herzens 
Sehnen  ihr  vielleicht  auch  ein  anderes,  schöneres  Da- 
sein vorspiegeln,  was  tut  dies? 

Das  indische  Weib  teilt  nicht  einmal  die  Wohnung 
mit  ihrem  Gatten.  Für  die  Frau  ist  die  Senoma,  der 
Harem,  bestimmt,  den  sie  ohne  Erlaubnis  des  Mannes 
nicht  verlassen  darf.  Die  Räume  des  Mannes  zu  be- 
treten ist  aber  verboten,  dazu  wäre  eine  besondere 
Erlaubnis  erforderlich,  und  selbst  die  harmlose  An- 
regung eines  Verbotes  bleibt  ihr  untersagt.  Einen 
unbeschränkten  Verkehr  darf  sie  nur  mit  ihren  Kindern 
unterhalten.  Beim  Besuche  einer  älteren  Frau  hat  sie 
sich  zu  verschleiern,  und  es  ist  ihr  nicht  gestattet  zu 
reden,  wenn  sie  nicht  besonders  dazu  aufgefordert 
oder  eine  Frage  ihr  vorgelegt  wird.  Ebenso  würde 
die  Frau  sich  schwer  vergehen,  wollte  sie  in  Gegen- 
wart des  Mannes  Speise  zu  sich  nehmen.  Sie  darf 
dies   nicht   einmal  bei  Festlichkeiten,   denen   sie  etwa 


—     412    - 

beiwohnen  darf,    denn   bei   solchen  Gelagen   hat  die 
Frau  sich  bescheiden  im  Hintergrunde  zu   halten  und 
zu  warten,  bis  die  Männer  sich  gesättigt  haben.    Der 
Rest  der  Mahlzeit  ist  für  die  Frau,  die  ja  auch  garnicht 
auf  den  Gedanken   kommen  kann,  daß   sie  eigentlich 
eine  andere  Rolle  spielen  müßte,  weil  sie  niemals  eine 
andere  Behandlung  einer  anderen  Frau   sehen  und  er- 
fahren  kann,  weil   sie   eben  Niedrigkeit  sich  bewußt 
sein  muß,  und  auch  sie  niemals  aus  der  Abhängigkeit 
und  der  Gehorsamspflicht  herauskommt.     Sie  ist  erst 
dem  Vater,   dann   dem    Gatten   und    schließlich    dem 
Sohne  Gehorsam  schuldig,  und  es  hat  Mühe  gekostet 
den  grausamen   Brauch,   nach   dem   die  Witwe  beim 
Tode  ihres   Mannes    verbrannt  wurde,    abzuschaffen. 
Das  war  natürlich   die  Aufgabe   der  Europäer,   die  ja 
schließlich  auch  die  Lage  der  indischen   Frau  durch 
ihren  Einfluß  und  durch  ihre  Macht  verbessern  werden, 
Daß  dies  aber  keine  leichte  Aufgabe   sein  kann,  das 
liegt  auf  der  Hand,  denn  es  ist  nun  einmal  indisches 
Evangelium,  daß   der  Mann   ein   höheres  Wesen,  das 
Weib  aber  ein  Uebel,   wenn  auch  allerdings   ein  not- 
wendiges, sei.     Da   wird   es  wohl  schwer  halten  und 
eine  Weile  dauern,  die  Indier  zu  überzeugen,   daß  die 
Frau  die  Krone  der  Schöpfung,  die  bessere  Hälfte  des 
Paares  und  berechtigt  sei,  die  galante  Dienstwilligkeit 
des  Mannes  zu  fordern.  Übrigens  erinnert  sehr  vieles 
im   Leben   der  indischen   Frau    an   das   der   Frau  im 
deutschen    Altertum,    selbst    das    Mitverbrennen    der 
Witwen  kam  auf   deutschem  Boden  vor  und  war  bei 
verschiedenen  Stämmen  herrschende  Sitte.    Ich  meine, 
es  ist  eine  recht  sonderbare  Logik,  daß  wir  die  indische 
Frau  als  das  unglücklichste  Geschöpf  beklagen,  während 


—    413     — 

wir  überfließen  von  Lob  und  Ruhm  über  die  Stellung 
der  deutschen  Frau  im  Altertum. 

Staunen  muß  man  nur,  daß  bei  den  Hindus  trotz 
der  Verachtung  der  Frau  doch  der  Tag,  an  dem  ein 
Mann  eine  solche  mißachtete  Person  ins  Haus  nimmt, 
als  das  größte  Fest  seines  Lebens  gefeiert  werden  soll 
und  gefirmt  wird.  Das  ist  aber  in  sich  kein  so  großer 
Widerspruch  wie  es  scheint.  Durch  die  Heirat  gründet 
der  Hindu  einen  eigenen  Hausstand  und  wird  aus  einer 
Null  ein  Faktor  des  öffentlichen  Lebens,  und  die  Wahr- 
scheinlichkeit, daß  er  sich  durch  die  Ehe  Nach- 
kommenschaft erwecken  wird,  ist  eben  ein  Ereignis,  das 
in  der  Tat  das  bedeutungsvollste  seines  Lebens  ist. 

Die  Braut  wird  dem  Bräutigam  zugeführt,  der  sie 
mit  Ehren  überhäuft,  mit  ihr  die  prunkvoll  hergerichtete 
Hochzeits- Kutsche  besteigt,  und  sie  dann  an  der 
Spitze  eines  prunkvollen  Hochzeitszuges  reich  ge- 
schmückt durch  die  Straßen  geleitet.  Der  Hochzeits- 
zug, der  auch  in  China  den  Gipfel  des  Hochzeits- 
prunkes bildet,  ist  die  höchste  Ehre  im  Leben  der 
Hindufrau.  Das  wirkliche  Fest  wird  erst  am  Abend 
gefeiert.  Die  indischen  Bajaderen,  die  durch  Gesang 
und  Tanz  den  Festen  erst  die  richtige  Weihe  geben, 
dürfen  natürlich  auch  bei  der  Hochzeitsfeier  nicht  fehlen. 
Die  Festräume  werden  malerisch  und  verschwenderisch 
erleuchtet,  und  in  der  Regel  sorgt  der  Bräutigam  auch 
noch  für  ein  möglichst  glänzendes  Feuerwerk.  Da 
diesen  kostspieligen  Arrangements  natürlich  die  Be- 
wirtung der  zahlreichen  Gäste  entsprechen  muß,  ist  es 
kein  Wunder,  daß  das  schöne  Fest,  dem  eine  meist 
weniger  schöne  Ehe  folgt,  die  Quelle  einer  ungeheuren 
Schuldenlast  wird.      Der  Hindu   ist    selten   reich,    er 


—     414     — 

nimmt  darauf  aber  keine  Rücksicht,  am  Hochzeitstage 
will  er  wenigstens  reich  scheinen,  und  die  Schulden? 
Es  geht  damit  wie  mit  der  Ehe  selbst,  nach  Glanz 
und  Pracht  kam  Öde  und  Armseligkeit. 

Ich  habe  schon  angedeutet,  daß  diese  Ehe  eine 
Art  Typ  der  orientalischen  Ehe  ist.  Die  Ehe  der 
Chinesen  gleicht  der  Hinduehe  fast  völlig.  Auch  der 
Chinese  ist  in  der  Regel  arm,  daß  er  kaum  daran 
denken  kann,  eine  Frau  zu  ernähren.  Dieser  Mangel 
an  Mitteln  ist  übrigens  auch  sonst  im  Orient  dafür 
verantwortlich  zu  machen,  daß  trotz  erlaubter  Polygamie 
doch  die  meisten  Muselmänner  sich  mit  einer  einzigen 
Frau  begnügen.  Daß  dann  der  kostspielige  Harem 
von  selbst  fortfällt,  weil  man  eben  für  eine  einzelne 
Frau  kein  besonderes  Harem  errichten  kann,  versteht 
sich  von  selbst.  Die  Ehe  der  Orientalin  gestaltet  sich 
dabei  auch  dort,  wo  der  Koran  den  Gläubigen  vier 
Gattinnen  gestattet,  doch  weit  anders  als  sonst.  Die 
Ehe  ist  der  europäischen  ähnlicher,  und  die  Frau  wird 
vielmehr  Genossin  des  Mannes,  als  die  Frau  des 
Harems  dies  jemals  werden  kann.  Der  orientalische 
Geist  wird  aber  nicht  einmal  ausgeschaltet,  daß  eben 
die  Frau  dem  Manne  als  gleichberechtigte  Gattin 
gelten  könnte.  Sie  ist  und  bleibt  ein  unfreieres  Wesen, 
das  zum  Manne  aufblicken  und  sich  ihm  absolut 
unterordnen  muß.  Die  Frauen  versehen  alle  Arbeiten 
des  Hauses  und  leben  kein  leichtes  und  angenehmes 
Leben,  wenn  auch  der  Herr  Gemahl  so  leben  kann, 
daß  er  seiner  Vorliebe  für  eine  stille  und  ruhige  Be- 
schaulichkeit keine  großen  Schranken  aufzulegen  braucht. 
Es  ist  keine  Einzelehe,  wie  bei  uns,  da  sie  eben  nur 
freiwillig  oder  doch  wenigstens  nicht  durch  das  Gesetz 


—    415    — 

erzwungen,  eine  Einzelehe  darstellt.  Dem  Manne  kann 
es,  sobald  es  ihm  seine  Mittel  erlauben,  nicht  verwehrt 
werden,  die  Monogamie  in  eine  Polygamie  umzuwandeln. 
Es  muß  dabei  allerdings  betont  werden,  daß  die  durch 
die  Verhältnisse,  nicht  durch  Gesetzesvorschriften  er- 
zwungene Enthaltsamkeit  im  Heiraten  auch  denen,  die 
nicht  so  beschränkt  mit  ihren  Mitteln  sind,  vorbildlich 
ist,  so  daß  die  Harems  in  Wirklichkeit  fast  überall 
schon  längst  die  Ausnahme  bilden,  während  die  Ehen 
zwischen  einem  Manne  und  einer  Frau  die  Regel  sind. 
Wer  das  Geld  hat,  hält  sich  höchstens  eine  zahlreiche 
Schar  von  Sklavinnen  oder  Dienerinnen. 


Die  Ehesterer. 

Wenn  auch  im  Orient  die  Ehe,  wie  wir  gesehen 
haben,  in  der  Regel  kein  Idealverhältnis,  wenigstens 
nicht  in  unserem  Sinne,  ist,  so  glaubte  man  doch,  daß 
dieses  Verhältnis  ganz  besonders  unter  dem  Einfluß 
guter  oder  auch  böser  Geister  stehe.  Die  guten  Geister 
waren  nach  dem  Glauben  des  alten  Heidentums  die 
göttlichen  der  Liebe  und  besonders  die  der  Frucht- 
barkeit, die  ja  ohnehin  nicht  selten  beide  Ressorts  in 
einer  Person  vertraten.  Selbst  Völker,  die  an  einen 
einzigen  Gott  glaubten,  wie  die  Israeliten  und  die 
Mohamedaner,  nahmen  doch  an,  daß  bestimmte  Geister 
sich  sehr  eingehend  um  die  Eheverhältnisse  der  sterb- 
lichen Menschen  bekümmerten,  und  daß  sie  auch  oft 
genug  in  das  Land  der  Ehe  eingriffen.  Man  war  aller- 
dings nicht  der  Ansicht  daß  diese  Geister  gute  Ab- 
sichten verfolgten,  sondern  traute  ihnen  alles  böse  zu 
und  stellte  sie  sich  als  schändliche  Dämonen  vor.  So 
waren  selbst  Völker,  die  nicht  durch  Eifersucht  auf 
ihre  Mitmenschen  geplagt  waren,  doch  auf  die  Dämonen 
stark  eifersüchtig  und  wo  in  einer  Ehe  ein  besonderes 
Unglück  eintrat,  da  nahm  man  dies  eben  meistens  für 
die  Tat  eines  Ehedämonen  an. 

Wie  es  scheint,    ist  der  Glaube  an  solche  Ehe- 


—     417     — 

teufel  von  Persien  ausgegangen  und  hat  sich  von  da 
aus  den  anderen  Völkern  erst  mit  der  Zeit  aufgedrängt, 
und  man  hält  daran  noch  außerordentlich  fest.  Es  ist 
eine  echt  orientalische  Fantasie,  die  diese  Teufelsge- 
stalt geschaffen  hat,  deshalb  hat  man,  wie  ja  auch  den 
Göttern  stets  die  Eigenschaften  besonders  angedichtet 
werden,  die  ihren  Verehrern  als  groß  und  beachtens- 
wert galten,  auch  diesen  Teufel  mit  Charaktereigen- 
schaften ausgestattet,  die  dem  Orientalen  selbst  inne- 
wohnten und  einen  großen  Teil  seines  Seelenlebens 
ausmachten.  Der  Eheteufel,  den  der  Talmund  Aschmedai 
nennt,  war  ein  höhnischer  Geselle,  dem  nichts  heilig 
war,  ganz  besonders  nicht  die  Ehe  der  Menschen, 
denn  diese  zu  stören  war  ja  seine  vornehmste  Aufgabe. 
Der  Dämon  war  ein  Wesen,  das  von  einer  unersätt- 
lichen Wollust  erfüllt  war,  die  dadurch  ihre  augen- 
blickliche Befriedigung  finden  konnte,  daß  Asmodi 
wie  wir  ihn  gewöhnlich  genannt  finden,  sich  an  Ehe- 
frauen heranschlich  und  diese  zum  Ehebruch  verführte. 
Die  innerliche  Glut,  mit  der  dieses  dämonische  Scheu- 
sal gedacht  wurde,  ist  aber  wohl  dem  Empfinden 
eines  Erfinders  angepaßt,  wie  die  Götter,  die  Alles- 
schaffenden,  eigentlich  doch  auch  nichts  waren  als  in 
der  regen  Fantasie  der  Anbeter  geschaffene  Gestalten. 
Ich  finde  übrigens  eine  recht  nahe  Beziehung 
zwischen  dem  Asmodi  des  Orients  und  dem  Teufel, 
der  in  unseren  Hexenprozessen  eine  so  starke  Rolle 
spielte.  Es  ist  das  ja  freilich  durchaus  kein  Wunder 
denn,  wie  ich  noch  zeigen  werde,  kennt  auch  die  Bibel 
den  Asmodi,  und  daß  diese  Erzählung  von  den 
findigen  Geistern,  die  in  Hexenverfolgungen  sich  her- 
vortaten,  aufgegriffen   und   mit   ganz  besonderer  Vor- 

27 


—     418     — 

liebe  verwendet  wurde,  das  versteht  sich  eigentlich  von 
selbst.  Der  Asmodi  des  Orients,  der  eigentlich  nur 
der  Eheteufel  war,  ist  allerdings  in  unserem  Hexen- 
wahn zum  Verrückten  verzerrt  worden;  er  mußte  eben 
für  die  deutschen  Verhältnisse  umgewandelt  und  den 
Zwecken  der  Hexenverfolgung  besser  angepaßt  werden. 
Für  die  deutsche  Ehe  brauchte  man  den  Störer  nicht 
aus  dem  Reiche  der  Dämonen  herbeizuholen,  denn  da 
gab  es  auch  einst  Störer  in  Fleisch  und  Blut  genug, 
die  das  Geschäft  ohne  Beihilfe  eines  Dämonen  zuver- 
lässig genug  besorgten.  Selbst  die  geistlichen  Herren, 
die  sich  in  der  Verfolgung  der  Hexen  nicht  genug 
tun  konnten,  verstanden  es  recht  gut,  als  Störenfriede 
in  der  Ehe  ihre  „Schäflein"  anzugreifen.  Der  Einfluß 
des  Beichtstuhles  und  des  geistlichen  Amtes  an  sich 
war  viel  wertvoller,  als  es  die  Hilfe  eines  bösartigen 
Dämons  hätte  sein  können.  Man  durfte  also  nicht 
gut  dem  lüsternen  Asmodi  bloß  die  frechen  Ehebrüche, 
die  man  ihm  nachsagte,  in  die  Schuhe  schieben,  sondern 
mußte  ihn  auch  einst  die  Hexen  zu  allerlei  Scheußlich- 
keiten und  bösen  Zauberkünsten  verleiten  lassen,  sonst 
hätten  ja  die  Herren  selbst  zugeben  müssen,  daß  sie 
dem  Teufel,  den  sie  verfolgten,  mehr  dienten,  als  dem 
Gott,  dessen  Diener  sie  sich  nannten.  Den  Teufel,  den 
man  als  Buhle  der  Hexen  in  Deutschland  betrachtete, 
hielt  man  übrigens  keineswegs  für  einen  Dämon,  der 
sich  um  die  Ehen  irdischer  Weiber  kümmerte,  sondern 
man  ließ  ihn  ebenso  häufig  mit  ledigen  Dirnen  seine 
sündigen  Verhältnisse  anknüpfen,  denn  es  kam,  wie 
gesagt,  nur  auf  den  Teufelsbund  als  solchen  an;  das 
Sexuelle  war  nur  Beiwerk,  das  zu  verkneifen,  den 
Herrn,  die  ja  ohnehin  an  ihre  Liebesabenteuer  dachten, 


—     419    — 

jedenfalls  unmöglich  schien,  und  es  mußte  dazu  dienen, 
die  Anbändeleien  mit  Frauen  und  Mädchen  glaub- 
würdig und  wahrscheinlich  zu  machen. 

Anders  im  Orient.  Da  spielte  der  Asmodi  eine 
gar  gewaltige  Rolle;  er  war  der  König  unter  den 
Dämonen,  wie  ja  das  Liebesleben  die  Krone  des  Lebens 
war,  und  zugleich  rühmte  man  ihm  nach,  daß  alles 
Wissen,  alle  Wissenschaft  von  ihm  ausgehe.  Es  ist 
ja  nun  freilich  schwer,  zu  sagen,  wie  man  sich  den 
Einfluss  dieses  Teufels  auf  die  Ehe  dachte.  In  der 
Regel  stellte  man  sich  Götter  und  Teufel  durchaus 
persönlich  vor,  sie  erschienen  in  Menschengestalt  und 
handelten  nach  Menschenart.  Auch  als  Ehestörer 
stellte  man  sich  den  alten  Asmodi  durchaus  menschlich 
dar.  Er  erschien  auch  im  wohlverwahrten  Harem  und 
verstand  es,  die  Frauen  sich  dienstbar  zu  machen. 
Nicht  selten  wurde  sein  Erscheinen  für  den  Ehemann 
sehr  verhängnisvoll,  denn  der  Gatte  hatte  mit  dem 
dämonischen  Ehebrecher  richtige  Kämpfe  zu  bestehen, 
und  da  der  Dämon  doch  immer  mächtiger  und  ge- 
waltiger sein  muss  als  der  sterbliche  Mensch,  war  ein 
solcher  Kampf  schon  von  vornherein  zum  Nachteil 
des  Gatten  entschieden,  der  dabei  das  Leben  einbüßen 
und  die  Frau  dem  Teufel  überlassen  mußte. 

Wie  man  darauf  gekommen  ist,  diese  Vorstellung 
zu  gewinnen,  das  ist  schwer  zu  sagen;  die  Mythe 
bildet  sich  eben  mit  der  Zeit  aus,  nimmt  immer  festere 
Gestalt  an,  und  schließlich  kann  man  die  Gottheit  im 
Bilde  bewundern,  und  alle  Welt  schwört  darauf,  so 
und  nicht  anders  sehe  die  Gottheit  aus.  Man  weiß 
das  so  genau,  als  begegne  man  der  Gottheit  tagtäglich 
auf  dem  Spaziergange.    Warum  sollte  man  sich  nicht 

27* 


—     420     — 

ebenso  gut  den  Dämon  schaffen  können.  Daß  in 
Wirklichkeit  Herr  Asmodi  niemals  in  das  Schlafgemach 
eines  Ehepaares  oder  in  die  diskreten  Räume  eines 
Harems  eingedrungen  ist,  das  ändert  nichts  an  der 
Tatsache  daß  dieses  Eindringen  als  sein  beliebtestes 
Vergnügen  dargestellt  und  behauptet  ward,  er  drehe 
den  Gatten  die  Hälse  um,  damit  sie  ihn  nicht  in  seinem 
Dämonenlauf  stören  sollten.  Vielleicht  ist  es  ja  auch 
vorgekommen,  daß  Gatten  im  Gemach  ihrer  Frau  den 
Tod  von  Mörderhand  fanden;  vielleicht  hat  auch 
wirklich  ein  Dämon  das  Eheglück  eines  Mannes  ge- 
stört und  dem  Ehemann  das  Lebenslicht  ausgelöscht; 
es  ist  dann  freilich  wohl  nicht  Asmodi  selbst  gewesen, 
der  so  Schlimmes  tat,  sondern  ein  gewöhnlicher 
Sterblicher,  der  wohl  vom  Geiste  des  Asmodi  beseelt 
sein  mochte,  aber  nichts  weniger  als  der  König  der 
Dämonen  selbst  war.  Das  gerade  das  Altertum  außer- 
ordentlich viele  solcher  Gattenmorde  erlebt  hat,  das  ist 
bekannt  genug.  Wo  uns  solche  Fälle  berichtet  werden, 
da  nennt  allerdings  die  Geschichte  den  Namen  der 
Ehebrecherin  und  ihres  Mitschuldigen  in  der  Regel 
recht  gerne,  so  daß  dabei  ein  Verdacht  gegen  Asmodi 
völlig  ausgeschlossen  bleiben  mußte.  Aber  die  Ge- 
schichte erzählt  uns  doch  nun  die  Gattenmorde  von 
Personen,  die  in  der  Geschichte|  eine  Rolle  gespielt 
haben;  die  übrigen  verschweigt  sie  und  muß  sie  auch 
verschweigen,  weil  eben  die  Weltgeschichte  keine 
Kriminalgeschichte  ist. 

Freilich  bedurfte  es  keineswegs  immer  so  drastischer 
Mittel,  um  den  Frieden  und  den  Bestand  einer  Ehe  zu 
stören  und  zu  lösen.  War  der  Mann  geneigt,  die 
Ehe  zu   lösen,  so   bot  das  durchaus  keine  Schwierig- 


—     421      — 

keit.    Er  gab,  wie  bei  den  Israeliten,  den  Scheidebrief 
und   die  Sache  war  sang-  und   klanglos   erledigt.     In 
anderen   orientalischen  Ländern   hatte  der  Mann  eine 
solche  Formalität  nicht  einmal  notwendig;   er   konnte 
die   Frau,   die   er   los   sein   wollte,    einfach   ins   Meer 
stürzen  lassen,  und  war  er  sie  dann  für  alle  Zeiten  los. 
Daß  die  Frau  mit  Leib  und  Leben  dem  Manne  gehört, 
daß  dieser  auch  das  Recht  und  die  Macht  hat  sie  zu 
töten,  ohne  daß   er  dazu   eines   besonderen  Grundes 
bedurft  hätte,  ist  bekannt,  und  war  im  Altertum  allge- 
mein und  gebräuchlich,  selbst  in   unserem  Lande  be- 
stand   dieses    uneingeschränkte    Recht     des    Mannes. 
Selbst   nach   dem   römischen   Rechte  bestand,  als  die 
Gewalt  des  Mannes  erheblich   herabgemildert   worden 
war,    noch   absolute   Scheidungsfreiheit.     Jeder  Gatte 
konnte  einseitig    den  Ehevertrag   lösen   und   bedurfte 
dazu   nicht    einmal    einer    behördlichen   Zustimmung. 
Sobald  beiderseitige  Uebereinstimmung  herrschte,  daß 
die  Gatten  ihre  Ehe  lösen  wollten,  war  sie  eben  schon 
durch   diesen  Wunsch   gelöst.     Ich   möchte  nicht  be- 
haupten, daß  durch  eine  erhebliche  Erschwerung  der 
Scheidung   der   Moral    ein    Dienst    erwiesen    werden 
könnte,  sondern  nehme  im  Gegenteil  an,  daß  die  Moral 
durch  nichts  so  schwer  geschädigt  werden  kann,  als 
durch  das  zwangsweise  Bestehenlassen   einer  in  sich 
schon   gestörten   Ehe.      Es   wird   da   der  häßlichsten 
Leidenschaft,   dem  Haß,    dem  Ehebruch   etc.  geradezu 
geflissentlich  Vorschub  geleistet.    Es  ist  damit  natürlich 
nicht  gesagt,  daß   die  leichtfertige  Scheidungslust   so 
protegiert  zu   werden  braucht,  wie   sie  das  römische 
Recht  begünstigte. 

Bei   der   untergeordneten   Stellung,    die  der   Frau 


—     422     — 

im  Orient  zugewiesen  war,  konnte  es  natürlich  nur 
dem  Manne  leicht  sein,  die  Fesseln  einer  Ehe,  sobald 
sie  ihm  lästig  wurden,  zu  sprengen.  Die  Frau  mußte 
das  Joch  geduldig  weitertragen,  wenn  es  ihr  auch 
noch  so  lästig  und  unerträglich  erschien.  So  finden 
wir  denn  auch  meist  die  Frau  als  Gattenmörderin,  und 
auch  sie  raffte  sich  zu  einem  solchen  Schritte  wohl 
nur  äußerst  selten  aus  eigener  Initiative  auf,  sondern 
war  in  der  Regel  nur  die  Mitschuldige  eines  Mörders, 
um  die  sich  zwischen  ihr  und  diesem  die  Bande  der 
Liebe  geknüpft  hatten.  Es  lohnt  nicht,  die  historischen 
Beispiele,  die  ja  alle  mehr  oder  weniger  bekannt  sind, 
anzuführen,  immer  kommt  es  uns  nur  darauf  an,  das 
nachzuweisen,  was  bei  der  Verschiedenheit  der 
Stellungen  von  Mann  und  Frau  sich  sachgemäß  er- 
geben muß;  daß  nämlich  die  Möglichkeit,  eine  lästige 
Ehe  aufzulösen,  nur  dem  Manne  zustand,  daß  die 
Frau  bei  der  trägen  Gleichgültigkeit,  die  ihr  anerzogen 
war,  sich  höchstens  zu  einem  lebhaften  Wunsch,  ihre 
Lage  zu  ändern,  erst  aufraffen  konnte,  wenn  ihre 
Leidenschaft  sich  regte,  wenn  sie  eben  einen  anderen 
Mann  gesehen  hatte,  zu  dem  sie  ernstlich  in  leiden- 
schaftlicher Liebe  entbrannte.  Dann  freilich  konnte 
auch  die  Orientalin  Taten  begehen,  die  für  alle  Zeiten 
dem  Gedächtnis  der  Menschheit  aufbewahrt  wurden, 
wie  die  grausige  Tat  der  Judith,  zu  der  diese  sich  von 
ihrer  Leidenschaft  hinreißen  ließ. 

Ich  möchte  nun  noch  auf  die  Asmodifabel  zurück- 
kommen. Selbst  die  Bibel  erzählt,  allerdings  im  Buche 
Tobias,  das  zu  den  Apokryphen  gehört,  allen  Ernstes 
die  siebenfache  Mordtat  des  Eheteufels  Asmodi.  Bei 
der  Wichtigkeit  dieses  Belegstückes  lasse  ich  die  Stelle 


—     423     — 

wörtlich  folgen:  „Und  es  begab  sich  desselbigen 
Tages,  daß  Sara,  die  Tochter  Raguels,  in  der  Meder 
Stadt  Ekbatana  auch  übel  geschmähet  und  gescholten 
ward  von  einer  Magd  ihres  Vaters.  Man  hatte  ihr 
nämlich  sieben  Männer  nach  einander  gegeben,  und 
ein  böser  Geist,  Asmodi  genannt,  hatte  sie  alle  getötet, 
alsbald  wenn  sie  sich  zu  ihr  tun  sollten.  Da  nun 
Sarah  die  Magd  wegen  eines  Verschuldens  schalt, 
antwortete  diese  und  sprach:  Gott  gebe,  daß  wir 
nimmer  einen  Sohn  oder  Tochter  von  dir  sehen  auf 
Erden,  du  Männermörderin!  Willst  du  mich  auch 
töten,  wie  du  die  sieben  Männer  getötet  hast?  Auf 
solche  Worte  ging  sie  in  eine  Kammer  oben  im  Haus, 
und  aß  noch  trank  nicht  drei  Tage  und  drei  Nächte, 
und  hielt  an  mit  Beten  und  Weinen,  und  bat  Gott, 
daß  er  sie  von  der  Schmach  erlösen  wollte".  Weiter 
interessiert  eine  Stelle  aus  der  Bibel:  „Du  weißt,  Herr, 
daß  ich  keines  Mannes  begehrt  habe,  und  meine  Seele 
rein  behalten  von  aller  böser  Lust.  Und  habe  auch 
nie  zu  unzüchtiger  und  leichtfertiger  Gesellschaft  ge- 
halten. Einen  Mann  aber  zu  nehmen,  habe  ich  ge- 
willigt in  deine  Furcht  und  nicht  aus  Vorwitz;  und 
entweder  bin  ich  ihrer,  oder  sie  sind  meiner  nicht  wert 
gewesen,  und  du  hast  mich  vielleicht  einem  anderen 
Manne  behalten". 

Daß  diese  Stelle  den  siebenfachen  Mord  des 
Asmodi  als  eine  Tatsache  erzählt  und  nicht  etwa  bloß 
als  ein  Geschwätz  der  scheltenden  Magd,  daß  im 
Gegenteil  die  Magd  nicht  glaubt,  der  böse  Geist  Asmodi 
sei  bei  der  Mordsache  beteiligt,  sondern  vielmehr  der 
näherliegende  Verdacht  liegt,  Sarah  habe  die  sieben 
Männer  gemordet,  weil   sie  ihr  nicht  genehm    waren, 


—     424     — 

und  es  für  sie  keine  andere  Möglichkeit  gab,  sich  dieser 
unwillkommenen  Freier  zu  entledigen,  das  ist  besonders 
beachtenswert.     Natürlich   ist  es  wieder  die  ominöse 
Zahl  sieben,  die  zunächst  schon  das  Altertum  heraus- 
findet, und  die  ganze  Geschichte  als  eine  symbolische 
Erzählung    erscheinen    läßt.      Da    aber    die    Asmodi- 
Erzählung  sich  auch   in  die  Bibel  verirrt  und  dadurch 
erst  gewonnen  hat,    das    ist    doch    wohl   der  beste 
Beweis  dafür,  wie  felsenfest  das  Altertum  an  den  Geist 
Asmodi  glaubte.    Wäre  da  Asmodi  von  einem  Schreiber 
erwähnt   worden,   der   ihn.  für  eine  Märchensage  ge- 
halten hätte,  so  würde  zweifellos  die  Erwähnung  ent- 
weder ganz   fortgeblieben    sein,    oder    sie    wäre   viel 
heller  ausgeführt   worden,  denn    nur  Dinge,   die   man 
trotz  ihrer  objektiven  Unglaublichkeit  doch  für  durch- 
aus   glaubhaft    und    selbstverständlich   hält,    tut   man 
nicht  in  einigen  Worten   ab.     Auffallend  ist  übrigens, 
daß  in  dem  recht  ausführlich    wiedergegebenen  Gebet 
der   Sarah   mit    keiner   Silbe   gesagt   ist,    ob   sie   den 
Mord   ihrer  sieben  Männer  zugibt,  oder  ob   sie  dem 
Asmodi  ebenfalls  die  Schuld  beimessen  will.     Letzteres 
ist   doch   kaum    anzunehmen,   denn    sonst   würde   sie 
wohl  nicht  um  den  rechten  Mann  gebeten  haben,  sie 
würde  auch  wohl  kaum    so  kühl   und   gleichgiltig  ge- 
sagt  haben:   „Entweder   bin   ich   ihrer,  oder  sie  sind 
meiner  nicht  wert  gewesen".     So   spricht   doch  kaum 
eine   Frau,   der   nacheinander    sieben   Männer    gerade 
jedesmal  in  der  Brautnacht  hingemordet  worden  sind, 
wenn   sie  die  Tat  so  ganz  frei  gestanden  hätte.    Oder 
war  das   vielleicht  gerade  die  Fügung  des  Schicksals, 
die  den  gewaltigen  Geist  Asmodi  zum  Mörder  gewählt 
hatte?      Die  Sache  mag   sein,  wie  sie  will.     Daß   die 


—     425     — 

Bibel  allen  Ernstes  den  Asmodi  anführt,  das  ist  eine 
der  interessantesten  Feststellungen,  die  überhaupt  ge- 
troffen werden  kann.  Ich  erwähnte,  daß  die  Erfindung 
des  Ehedämons  Asmodi  jedenfalls  jüdischen  Ursprungs 
ist,  daß  die  alten  Israeliten  zwar  an  Dämonen  aber 
niemals  an  Asmodi  geglaubt,  so  daß  das  Buch  Tobias 
unbedingt  erst  viel  später  entstanden  sein  muß  als 
die  Geschichts-  und  Lehrbücher  des  Alten  Testaments. 
Daß  man  nun  aber  gerade  diese  Stelle  für  so  wichtig 
gehalten  hat,  um  sie  der  Bibel  einzuverleiben,  das  ist 
eine  recht  sonderbare  Erscheinung.  Genug  —  der 
Asmodi  steht  als  männermordender  Eheteufel  auch  in 
der  Bibel;  es  fehlt  nur,  daß  er  die  orientalische 
Wollust  nicht  gekannt  hat,  so  daß  man  eigentlich  nicht 
recht  klug  daraus  wird,  wann  er  die  sieben  Männer 
der  Sarah  in  der  Brautnacht  gemordet  haben  soll. 

Da,  wo  Asmodi  die  Männermorde  begangen  haben 
sollte,  sagte  man  ihm  im  Orient  nach,  daß  er  dies  tue, 
weil  er  den  Männern  die  Frauen  nicht  gönne;  er 
gönne  sie  aber  bloß  deshalb  ihren  Männern  nicht, 
weil  er  sie  für  sich  selbst  haben  wolle.  Das  ist  eines 
rechten  Teufels  durchaus  würdig,  und  es  ist  zugleich 
eine  Darstellung,  die  der  orientalischen  Frau  keine  be- 
sondere Ehre  macht,  weil  sie  eigentlich  den  logischen 
Schluß  enthält,  daß  es  der  Frau  im  Grunde  genommen 
gleich  sei,  ob  ihr  Mann  oder  der  leibhaftige  Teufel 
sich  ihr  zuwende.  In  vielen  Fällen  würde  das  wohl 
auch  nicht  allzuweit  von  der  Wahrheit  abgewichen 
sein.  Die  Frau,  die  nicht  den  mindesten  Einfluß  auf 
die  Wahl  ihres  Gatten  hatte,  war  ja  ohnehin  daraufhin 
erzogen,  daß  sie  jedem  beliebigen  Manne,  den  man 
für  gut  befand  ihr  zu  geben,  angehören  mußte.     Sie 


—     426     — 

hätte  ja  auch  den  Dämon  Asmodi,  wenn  man  ihn  eben 
bestimmt  hätte,  ohne  Widerrede  für  sich  annehmen 
müssen.  So  nahm  sie  ihn  eben  etwas  später,  wenigstens 
nach  der  Meinung  derer,  die  an  den  Dämon  der  Wol- 
lust glaubten.  Daß  man  übrigens  den  Dämon  der 
Wollust  in  der  Fantasie  schuf,  war  sicher  viel  zu- 
treffender und  richtiger,  als  wenn  man  einen  Gott  der 
Wollust  sich  dachte. 


Schlussbetrachtung. 

Wer  mir  auf  dem  weiten  Wege  durch  die  zum 
Teil  noch  unerforschten  Gebiete  des  Orients  gefolgt 
ist,  und  die  Sitten  und  Gebräuche  des  Altertums  und 
der  neueren  Zeit  betrachtet  hat,  der  wird  es  wohl 
gerechtfertigt  finden,  daß  ich  den  Orient  ein  Wunder- 
land genannt  habe.  Wunder  über  Wunder  treten  uns 
in  den  Ländern  entgegen,  in  denen  die  Wiege  des 
Menschengeschlechts  gestanden  haben  soll,  und  in  dem 
sicherlich  die  älteste  Kultur  uns  entgegentritt  und  selbst 
da  noch  ihre  gewaltigen  Spuren  offenbart,  wo  seit 
mehr  als  tausend  Jahren,  ja  wohl  seit  zwei  Jahr- 
tausenden die  ehemalige  Pracht  in  Staub  und  Trümmer 
gesunken  ist.  Wir  finden,  daß  schon  in  jener  nebel- 
grauen Vorzeit  die  Kultur  geherrscht  hat,  die  in  vielen 
Gegenden  heute  noch  nicht  wieder  erreicht  worden 
ist,  eine  Kultur,  die  aber  doch  unserem  Empfinden  und 
Verstehen  ferner  liegt,  als  man  glauben  sollte.  Wir 
sehen  das  besonders  aus  den  Erscheinungen  des  Liebes- 
lebens, das  eine  Brutalität,  eine  rohe  Sinnlichkeit  und 
eine  Barbarei  erkennen  läßt,  die  unser  Gefühl  verletzen, 
wenn  wir  auch  überall  Uebereinstimmungen  mit  dem 
finden,  was  sich  auf  unseren  Schollen  abgespielt  hat. 
Im  Osten,  wo  die  Sonne  in  morgendlicher  Pracht  am 


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Himmelsgewölbe  aufsteigt,  ist  auch  die  Sonne  der 
Kultur  aufgegangen.  Wie  aber  hat  sich  das  geändert. 
Freilich  die  Sonne  geht  noch  immer  im  Osten  auf, 
weil  die  Natur  ihre  Bahn  läuft,  unbeeinflußt  von  der 
Menschen  Treiben.  Aber  der  Osten  erschließt  uns 
keine  neuen  Kulturen  mehr.  Hierin  ist  da  Wandel  ge- 
schaffen, denn  jetzt  geht  für  den  Orient  die  Sonne  der 
Kultur  und  der  Menschlichkeit  im  Abendlande  auf. 

Unendlich  viel  hat  sich  im  Morgenlande  geändert, 
seitdem  der  Einfluß  europäischer  Wissenschaft,  euro- 
päischer Anschauungen  und  europäischer  Kultur  sich 
im  Orient  geltend  macht.  Wohl  hat  selbst  das  Land, 
das  berufen  erscheint,  an  der  Spitze  der  gelben  Rasse 
zu  marschieren,  dem  man  nicht  mit  Unrecht  zutraut, 
daß  es  ein  neues  Weltreich  begründen  könne,  eine 
wilde  Grausamkeit  in  den  Strafen,  ein  entsetzliches 
Blutvergießen  und  so  viele  andere  Dinge,  die  ein  Volk 
als  Halbwilde  erscheinen  lassen,  noch  nicht  überwunden; 
aber  welcher  staunenswerte  Fortschritt  tritt  uns  doch 
überall  vor  Augen.  Nicht  zum  wenigsten  im  japanischen 
Liebesleben  und  in  der  Stellung  der  Frau.  Selbst  das 
himmlische  Reich  der  Mitte,  das  sich  noch  bis  vor 
kurzer  Zeit  hermetisch  abschloß  vom  Weltverkehr,  und 
das  deshalb  einen  tausendjährigen  Dornröschenschlaf 
gehalten  hat,  erwacht  langsam,  und  es  wird  kein 
Menschenalter  dauern,  dann  hat  China  den  Segen  einer 
humaneren  Kultur  erhalten.  Auch  dort  beginnt  die 
Frau  sich  aus  den  niedrigsten  Fesseln  zu  befreien.  Es 
sind  zuweilen  kleine  Dinge,  um  die  gekämpft  wird.  Man 
hat  bei  der  widernatürlichen  Schuhtracht  der  chinesischen 
Frauen  angefangen,  und  man  wird  bei  der  Gleich- 
stellung aufhören.     In  Kreta,  wo   die  Mädchen   noch 


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vor  nicht  langer  Zeit  ein  Los  zogen,  das  dem  der 
orientalischen  Form  im  Altertum  nicht  unähnlich  war, 
hat  sich  ein  Wandel  vollzogen,  der  Staunen  erregt, 
und  selbst  die  Türkei  hat  das  Frauenleben  schon  etwas 
reformiert  und  wird  es  unter  der  Herrschaft  der  Jung- 
türken noch  mehr  reformieren. 

So  wird  dem  Morgenlande  jetzt  das  Abendland 
zum  Ende  des  Sonnenaufganges,  und  wo  erst  einmal 
der  ganze  Tag  zu  erhellen  beginnt,  da  wird  es  schnell 
hell  und  heller.  Man  soll  nur  keine  Wunder  erwarten 
und  denken,  daß  der  Orientale  mit  einem  einzigen 
Sprunge  von  den  Jahrtausende  alten  Vorurteilen  sich 
frei  machen,  daß  er  seine  Natur  plötzlich  ablegen  kann, 
wie  man  sein  Kleid  auszieht.  Wir  werden  aus  dem 
Orient  noch  lange  Dinge  erfahren,  die  uns  erschauern 
lassen.  Aber  deshalb  vollzieht  sich  doch  langsam  und 
sicher  der  Wandel. 


Bibliographie 

interessanter  kultur-  und  sittengeschicht- 
licher Werke 

Das  Liebesleben  aller  Zeiten  u.  Völker 

Bisher  erschienen: 

I.  Quanter,   R.,   Das  Liebesleben   im  alten  Deutschland. 

Preis  M.  10.—,  geb.  M.  12.-. 

II.  v.  Schlichtegroll,  C.  F.,    Das  Liebesleben    im   klassi- 
schen Altertum.  Preis  M.  10.-,  geb.  M.  12.-. 

III.  Areco,  V„   Das   Liebesleben   der   Zigeuner. 

Preis  M.  8.-,  geb.  M.  10.-. 

IV.  Quanter,  R.,  Das  Liebesleben  im  Orient. 

Preis  M.  10.-,  geb.  M.  12.-. 

In  Vorbereitung  befinden  sich 

V.  Das  Liebesleben  der  Mongolen 

und  weitere  Werke. 

Das   Sexualleben    der    Naturvölker 

I.  Schidlof ,    Dr.   P.,    Das    Sexualleben     der    Australier 
und  Ozeanier.  Preis  M.  8.-,  geb.  M.  10.-. 

II.  Freimark,  Das  Sexualleben  der  afrikanischen  Natur- 
volker. Preis  M.  10.-,  geb.  M.  12.-. 


Weitere  Bände  sind  in  Vorbereitung. 


HQ      Quanter,  Rudolf 

13        Liebesleben  im  Orient 

Q35 


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